Märchen für Erwachsene: Mychea und Catherine. Ein Anfang in Liebe.
- Petra Schrader
- 10. Mai 2023
- 12 Min. Lesezeit

Giria Akaju Ryozan, die 80jährige Führerin der Abie schwieg sehr lange. Dann wandte sie den Blick wieder vom Fenster weg und sagte: „Catherine Tiani. Schonmal gehört den Namen?“ Mychea bewegte kaum den Kopf. „Nein.“ „Ich halte sie für die größte Tänzerinnen-Begabung, die wir im Moment haben. Sie tanzt in Amra, seit einem Jahr gelb. Sie hat keinen festen Partner, weil die Partner aus ihrer Klasse ihr nicht begegnen können. Vor vier Wochen ist sie an einem Tag zweimal schwer fallengelassen worden, zuletzt in einem Fabiée, sie hätte sich das Bein brechen können. Sie ist einfach zu schnell gesprungen. Sie geht auf, sie gibt sich ganz. Sie kann sich in diesem Moment nicht an die Schwäche eines Partners anpassen, sie braucht jemanden, der sie wirklich halten kann. Wir haben ihr angeboten, dass sie zunächst nur mit Schwarztrikots tanzt, aber sie ist.. in der Reaktion. Baen und ich wollten euch anbieten, dass ihr euch kennenlernt. Aber vorerst hat sie sich zurückgezogen. Aber wenn du warten willst, könntest du eine Frau kennenlernen, die dieses Warten lohnt.“ Stille. Dann sagte Mychea Rhye: „Warum ist es Ihnen so wichtig, dass ich weitermache?“ Erneute Stille. Ruhig sah die erfahrene Zaye-Lehrerin Mychea an. Dann sagte sie: „Es ist dein Weg, Mychea. Du wählst.“ Mychea sagte: „Im Moment weiß ich nicht, was mein Weg ist.“ Giria nickte. „Lass es zu dir kommen.“ „Im Moment ist das nicht so leicht, zu mir zu kommen.“ Giria nickte wieder. „Wir haben keine Eile.“ Mychea nickte. „Etadaraisse akai.“
„Sekretariat Anesi, Temehe, guten Tag.“ „Guten Tag. Rhye. Könnte ich bitte Frau Anesi sprechen?“ „Einen Moment.“ Vielfaches Klicken. Dann erklang die Stimme von Fiza Anesi. „Anesi. Mychea??“ Mychea Rhye lächelte leicht. „Ewai. Stör ich?“ „Natürlich nicht. Bist du in der Nähe?“ „Noch nicht. Aber ich habe es mir anders überlegt, ich komme doch.“ Ein kurzer freudiger Laut. „Du kommst doch?“ „Ich glaube, ich komme mit dem Zug.“ „Aber das ist ja wunderbar!!“ Mychea Rhye lächelte ganz leicht. „Es ist sehr egoistisch. Ich brauche ein paar Tage Urlaub und ein bißchen Zeit zum Nachdenken.“ „Alles absolut vorhanden. Wir holen dich vom Bahnhof ab.“ „Nicht nötig, ich habe nicht viel Gepäck. Ich laufe gerne.“ „Sonst ruf an.“ „Gerne. Bis morgen abend.“ „Bis morgen abend.“
Weite Felder. Helle, in der Ferne verschwimmende Blütenwiesen. Der nahe Pazifik, dessen gleichmäßiges Rauschen vom Spätsommerwind bis auf das Gelände der großen Tiya, dem für das Land der Harada typischen hazienda-ähnlichen Hauptbau, drang. Schon als Mychea Rhye seinen Koffer auspackte, spürte er die Ruhe, die von dem Gut ausging: Es würde eine große Hochzeit werden, aber die Vorbereitungen erstreckten sich über viele Tage, und ganz langsam trafen schon jetzt viele Freunde der Familie ein, um Hochzeitsfeier, Besuch und Ferien miteinander zu verbinden. Aus der großen Küche drang der Duft von frischem Brot. Mychea trat auf den Balkon und atmete tief durch. Hier begann der Ort, den er jetzt brauchte: Eine Woche ohne die Welt der Ryozan. Die Anesis wußten nicht, dass er adlig war. Aber noch wichtiger: Sie wußten nicht, was er machte. Eine Woche ohne Zaye.
Zunächst waren es nur neun, die Mychea beim Frühstück zusammengewürfelt kennenlernte: Vira, Laneo, Awarai, Niake, Benie, Garien, Viasa, Tiay und Beso. Mychea hörte die Namen, aber er beteiligte sich kaum an den Gesprächen: Das Bedürfnis nach Stille und Alleinsein wuchs immer mehr. Nach dem Essen lächelte er noch ein paarmal höflich zu den Plänen, die die anderen machten, verschwand dann unauffällig, ging in sein Zimmer und suchte in seinem Koffer nach einer dicken Jacke. Dann begann er seinen Strandspaziergang.
Offiziell trug das dünne Heft den Namen „Studienausgabe der dena-Gebetstexte“, aber die Zaye-Schüler nannten die Reihe nur „Krisenhefte“, denn man konnte sie - leicht und dünn, wie sie waren - überall dorthin mitnehmen, wo man sie brauchte, und den meisten Krisen stellte man sich nun mal nicht in Bibliotheken. Nachdem Mychea lange schweigend auf das Wasser gesehen hatte, nahm er das erste Heft. Es war schon alt, und Mychea hatte mittlerweile fast jeden zweiten Satz unterstrichen. “Wir sind alt geworden. Es ist zuviel passiert. Wir wissen nicht mehr, wie der Himmel aussieht, nach dem wir uns sehnen. Wir wissen noch, was Geborgenheit ist, aber wir haben vergessen, wie geborgen wir einmal waren. Wir wissen, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden. Aber wir haben vergessen, wie blind wir einst auf Liebe vertraut haben. Wie selbstverständlich sie war. Nur unser Körper trägt noch die Spuren der intensiven Begegnung der Liebe Gottes mit unseren offenen Herzen: Den Herzen der Kinder.“
Fiza guckte etwas besorgt. „Wo.. bist du gewesen??“ Mychea guckte sehr, sehr ruhig. „Ich war am Strand. Dann war ich in einer Kirche, und dann war ich wieder am Strand.“ „Gehts... dir gut?“ „Ja.“ „Wir haben eine kleine seyi, wenn du kommen möchtest..“ „Wenn ich möchte?“ Fiza guckte etwas verlegen. „Ich dachte nur.. wegen Catherine.“ „Catherine?“ „Sie ist eine alte Freundin von Erino, ich kenne sie gar nicht. Sie ist alleine hier und wirkt auf mich sehr still. Erino meint, sie habe wohl gerade eine Trennung hinter sich oder so. Er weiß es auch nicht. Und ich bin nicht sicher, aber ich glaube, sie kann nicht so gut tanzen. Ich dachte, dass ich dich bitten könnte, ihr Begleiter zu sein, damit sie niemand auffordert.“ Mychea musste trotz allem innerlich lächeln. Er hatte bei allen Besuchen auf der Hazienda sich offensichtlich noch mehr zurückgehalten als er gedacht hatte. Wie alle guten Gastgeber begann Fiza für den formalen Rahmen der Hochzeit für die Gäste zu sorgen, die nicht oder nicht gut tanzen konnten. Der Versuch, Catherine zu versorgen war ebenfalls ein Versuch, ihn selbst vor dem Tanzen zu schützen. Und es war das, was es war: Eine Umsorgung. Die er als solche verstehen musste. „Natürlich.“
Fiza lachte. „Ich komme gleich. Catherine? Darf ich dir Mychea vorstellen? Ich dachte, dass ihr vielleicht nebeneinander sitzen könntet bei der Hochzeit wenn ihr möchtet.“ In der großen Haziendahalle saßen, standen und tanzten mittlerweile nicht weniger als fünfzig Leute, die im Laufe des Tages angekommen waren. Fiza winkte einem etwa Hundertjährigen zu, der durch die Tür kam und sagte: „Mal sehen, wer sich noch nicht kennt, das ist also Mychea, das ist Yvea, Ano.“ Der hochgewachsene Ano stand sofort auf, und Mychea schüttelte drei Händepaare. „Angenehm.“ „Hallo.“ „Esara etai.“ „Esara etai.“ „Ano.“ „Mychea.“ „Yvea.“ Zwei blaue Augen. Ein helles Gesicht, ein stiller Ausdruck. „Catherine.“ Mychea hielt die Hand eine Spur zu lange. „Mychea.“
Es war eine seltsame Atmosphäre. Mychea und Catherine schwiegen, ohne dass sich einer der beiden dadurch gestört fühlte. Auch, als Ano und Yvea auf die Tanzfläche gingen und der Vierertisch völlig still wurde, brachen weder Mychea noch Catherine das Schweigen. Ein Livrée brachte neue Gläser und ein Tablett mit Salzgebäck, doch die beiden saßen einfach nur, sahen auf die Tanzfläche und schwiegen. Als die beiden Blicke sich trafen, war eine kleine Ewigkeit vergangen. Eine Ewigkeit, die sie einander näher gebracht hatte. Catherines Stimme klang ruhig und gleichzeitig dunkel und hell: „Das ist das Schöne: Man ist hier so weg von allem. Kennen Sie das?“ Mychea sah sie an. Dann nickte er und lächelte, obwohl er eigentlich nicht lächeln wollte. Er lächelte sehr warm. „Man muß nichts mehr. Nicht mal tanzen.“ Die Frau lächelte ganz leicht. „Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie nicht gerne tanzen.“ Mycheas Gesicht lag im Halbschatten. „Ich weiß nicht.“ Catherine sah ihn an. „Sie sind nicht vom Theater oder?“ „Nein. Sie?“ „Ich?“ Die Frau sah in eine Ferne, die hinter die Zimmerwand reichte. „Nein.“ „Fiza meinte, dass Sie vielleicht nicht so gerne tanzen.“ Der Blick richtete sich wieder auf ihn. Mychea spürte eine seltsame Mischung: Verletzlichkeit und herber Humor. „Hat sie Sie deshalb zu mir geschickt? Weil ich nicht so gut tanze?“ „Ich denke, wir sind der gita-Tisch.“ Die Frau saß nicht ruhend, aber sehr ruhig. „Da wollte ich immer schonmal hin.“
Anto lächelte charmant. „Eine wunderbare Fläche. Haben Sie schon getanzt, Catherine?“ Die Frau verschloß ihre Miene. „Nein.“ „Aber..“ „Tut mir leid. Aber wissen Sie was: Ich kann nicht tanzen. Das ist hier überall bekannt.“ „Esai.“ Der hochgewachsene Amra neigte kurz den Kopf. „Wenn Sie mögen, versuchen wir es zusammen.“ Von dem Gefühl, das Mychea in sich entdeckte, war er so verblüfft, dass er gar nicht reagierte. Catherine sagte kühl: „Danke. Sie würden mich nicht mögen.“ Yvea sagte lächelnd: „Scheuen Sie sich nicht, wir sind hier völlig unter uns und nur unter guten Freunden. Es gibt keinen Druck. Tanzen Sie wie Sie mögen.“ Eifersucht. Das völlig unerklärliche, wie scharfe Gefühl, das Mychea in sich spürte, gehörte ganz klar in die Klasse der Eifersucht. Er hatte es noch niemals zuvor gespürt: Es war ihm neu. Mychea versuchte, dafür von sich selbst eine Erklärung zu verlangen, während Catherine gleichzeitig kühl und verletzlich wirkte: „Ich kann leider nicht tanzen, da ich krank bin.“ Antos Miene war umgeschlagen. „Das tut mir leid. Ich habe Sie bedrängt.“ Mit ehrlichem Selbstvorwurf schob der Amra seinen Stuhl zurück. „Verzeihen Sie.“ „Keine Ursache.“ Er hielt noch inne, dann gingen sie zur nächsten Gruppe. Catherine schloß die Augen. Mychea saß reglos. Der Amra hatte Catherine aufgefordert, während er danebensaß. Das bedeutete: Er hatte wirklich die tiefe Ausstrahlung, nicht zu tanzen. Nicht tanzen zu wollen. Nicht tanzen zu können. Er saß neben Catherine, aber im Gespür des Amra saß sie alleine. Deshalb hatte er angefangen, sich um sie zu kümmern. Mychea sah auf Catherine und sagte leise: „Es tut mir leid. Ich glaube, ich habe gar nicht gut auf Sie geachtet. Möchten Sie tanzen?“ Catherine sah Mychea an und sagte leise: „Nein, das möchte ich nicht. Und ich glaube, Sie haben sehr gut auf mich geachtet.“ Die beiden sahen sich an. Mychea sagte: „Ich glaube, dass Sie mehr vom Tanzen verstehen als alle hier ahnen.“ Catherine blickte ihn an. „Wieso glauben Sie das?“ „Weil Sie das einzige Paar beobachten, das wirklich gut ist. Was die beiden ziemlich gut verbergen.“ Catherine saß unbewegt. Dann sagte sie: „Ich mag ihr Kleid.“ Mychea nickte nur.
Der Kontakt war weg. Kein Gefühl, kein Gebet, keine Ruhe. Irgendwann warf Mychea das Da-Vienna-Heft entnervt gegen den Wandteppich seines Zimmers, zog sich ein anderes T-Shirt an und ging hinaus. Da war etwas, was ihn nicht losließ. Etwas, was lange, dunkle Haare und zwei dunkle Augen hatte. In dem hochgefliesten Eingangsflur stand Fiza und ordnete Blumenmassen in Vasen. „Essen ist gleich fertig.“ „Entschuldige, dass ich dich nicht eher gefragt habe: Kann ich dir was helfen?“ Fiza lächelte und sah ihn an: „Gerne. Setz dich hin und iß was.“
„Störe ich Sie?“ Catherine fuhr herum, doch der Schreck klang sofort ab. „G.. uten Abend.“ „Entschuldigung.“ Mychea kam an das Verandageländer. „Ich hatte schon befürchtet, dass ich Sie erschrecke.“ „Sie haben mich nicht erschreckt.“ Kurze Stille. Dann sagte Mychea: „Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl noch einen Spaziergang machen wollen. Es ist jetzt Ebbe. Ich mache jeden Abend einen. Also, heute wäre es der zweite.“ Catherine lächelte ganz leicht. „Ja. Ich glaube, das möchte ich gerne.“
Die Sonne war fast untergegangen. Die glutrote, sanfte, letzte Wärme des Tages schien in den Rücken der Sitzenden. Catherine saß neben Mychea an den Sand einer sanft ansteigenden Düne gelehnt und sagte leise: „Es ist so: Man kann gar nichts machen. Man kann es in Gottes Hand legen. Man kann ihn bitten. Und dann kann man nur noch warten.“ „Ja.“ Catherine nahm etwas Sand in die Hand und spürte die Kühle der winzigen Steine. „Was macht man mit dem Gedanken: Es geht nicht schnell genug. Du musst mithelfen.“ Mychea hatte einen Stein in die Hand genommen und strich über seine Oberfläche. „Glauben Sie das?“ Stille. Catherine legte ihre Hände auf den noch warmen Sand. „Nein.“
Die beiden wußten nicht, wie lange sie schon gelaufen waren. Irgendwann waren sie umgekehrt, um nicht zu weit vom Hausstrand wegzukommen, aber die Zeit spielte keine Rolle mehr bei den beiden, die nach Vuena gekommen waren, um in Ruhe beten zu können und die noch nicht ahnten, dass sie dabei waren, sich ineinander zu verlieben.
Als Catherine wieder aufstand, war es dreiundzwanzig Uhr. Draußen lag ein stilles Begonienfeld unter einem hell scheinenden Vollmond. Sie hatte kein Auge zugetan. Langsam ging sie zum Fenster. “Süß und warm wird der Friede bei dir einziehen / in jede Zelle heimkehren / und begrüßt werden als alter Freund..“ Catherine streifte ihre Hausschuhe ab, machte einen leisen Schritt und tanzte einen lautlosen, sehr intensiven Barriée. “Es wird von dir Besitz nehmen / was dein Herz war und dein Leben / was du von dir geworfen hast in Angst und Mißverstehen / und was dich bewahren wird vor dem Nicht-Leben“. Das Tanzen war zurückgekehrt. Catherine nahm das erste Kleidungsstück, das ihr in die Hände kam. Das Studio von Mareo, in dem die Theatergruppen probten lag im Anbau und war schallgedämpft.
Als Catherine die Tür öffnete, prallte sie vor Überraschung über die Musik fast zurück. Geigen, Bratschen, Cellos, dann Klarinetten und perlend-leicht darüber improvisiert ein Klavier. Mychea Rhye saß an dem alten Flügel und spielte zu der Musik, die aus den Lautsprechern kam. Die ersten Töne kamen noch zögernd, von Händen, die lange nicht mehr auf Tasten gespielt hatten, doch auch die zögernden Töne waren schon perlend und zart. Catherine schloß die Tür leise und hörte einfach zu. Mychea bemerkte sie nicht. Die Musik war traurig, und auch der Klavierspieler schien traurig: Eine Traurigkeit, die er intensiv und fließend in die Musik ließ. Langsam kam Catherine näher. Mychea sah die Bewegung und hob seinen Kopf. Die beiden Blicke trafen sich, Catherine sah in zwei ernste, traurige Augen, hörte den letzten Lauf, dann nahm Mychea seine Hände von den Tasten. „Bitte hören Sie nicht auf“, sagte Catherine leise, weil die Geigen auch sehr leise spielten. Mychea saß unbeweglich. Dann sagte er: „Ich habe fast vergessen, wie es geht. Klavierspielen, das wollten sie von mir nicht. Aber ich will es. Ich kann es nicht sehr gut, wissen Sie? Ja, es ist wahr. Ich kann es nicht gut. Und deshalb will mich auch keiner zu einem berühmten Klavierspieler machen, ist das nicht wunderbar?“ Die Musik wurde noch trauriger. Mychea drehte sich zu den Tasten und begann wieder zu spielen. Catherine stand ganz unbeweglich. Irgendwann begann es von selbst. Catherine setzte ihre Schritte ganz weich. Langsam wie die Geigen. Dann drehte sie sich einmal, und dann begann sie zu tanzen. “Ein Gefühlstanz ist immer ein Lichtstrahl / einfallend in eine dunkle Halle / über sie fallend und in eine unsägliche Zartheit / Leben auf hartem Holz.“ Catherine hatte sechs unendliche Wochen lang nicht mehr tanzen können. Aber jetzt fand sie zurück, mitten in diese traurige, sanfte Musik, ohne jede schwierige Figur und ohne jede Anstrengung. Erst improvisierte sie die Bögen auf die Klavierstimme, dann ließ sie sich von den weichen Geigen führen. “Ein Körper kann warten. Ein Körper kann lange warten. Er erträgt, er wartet, er vernarbt, er ermüdet: Aber er wartet weiter, und er erkennt den Frieden, wenn er kommt. Ein Körper irrt nicht.“ Catherine drehte und drehte. Von der Traurigkeit in die Freude. Der erste Barrié kam mit dem ersten Oboensolo. “Wenn Gott dich begrüßt / das klingt / wie ein sehr warmes Lachen.“ Die Spannung war da. Catherine wirbelte herum, verdoppelte ihr Tempo und tanzte die drei vielleicht intensivsten Bouées ihres Lebens: “Frei. Was weißt du davon, wenn du es nicht bist.“ Erst bei der Schlußkadenz merkte Catherine, dass etwas fehlte: Die Klavierstimme war verstummt. Sofort hielt sie inne und drehte sich um. Mychea Rhye saß bewegungslos auf dem Klavierstuhl und beobachtete sie. Die Geigen wurden leiser, und Catherine ließ ihre Schultern sinken. Dann sagte sie: „Ich.. wollte Sie nicht stören. Ich wollte.. mich nicht.. in den Mittelpunkt stellen. Das tut mir leid.“ Mychea stand langsam auf. Dann sagte er: „Wo haben Sie so tanzen gelernt.“ Aus den Lautsprechern erklang der Beginn von „cae deo“: Die Musik eine der berühmtesten Zaye-Bouée-Choreographien. Catherine sah Mychea an: „Ist das.. Ihre CD?“ „Ja.“ „Das ist.. eine wunderbare Musik.“ „Sie beginnen.“ Catherine sah Mychea nur an. Da war er, der Moment. Wieder ein Partner. Vor wievielen falschen Partner hatte sie schon gestanden. Die Geigenmelodie begann: Der Einsatz der ersten Tänzerin. Die Entscheidung fiel. Catherine machte zwei Schritte nach vorne, hob die Arme in eine zarte Exziéespannung und wirbelte sich dann in eine Exziéedrehung, um genau in der Gerade stehen zu bleiben. Bevor sie richtig stand, sah sie, wie Mychea dieselbe Figur neben sie tanzte: Zwei Schritte, in eine zarte Armspannung und dann in eine perfekt gewinkelte Exziéedrehung. Bevor Catherine vor Verblüffung einatmen konnte, wurde sie gefaßt, drehte mit und begriff sofort, dass der Mann vor ihr nicht nur die Choreographie genau kannte, sondern auch die sanfteste, sicherste und beste Führkraft besaß, die sie jemals erlebt hatte. Catherine hatte keine Zeit nachzudenken. Sie setzte die Schritte, nahm Anlauf für den ersten Bouée, wurde tief behutsam nach hinten gebeugt, spürte sofort die linke Hand an ihrem Handgelenk, drehte wieder. Bögen aus Weichheit. Langsam wurden die Figuren schneller. Mychea führte ein Tempo an, merkte, dass Catherine es problemlos aufnahm, führte schneller, drehte schneller, sah, wie Catherines Fuß bei jedem side genau neben ihm den Boden berührte, spürte, wie weich und sicher sie ihren Körper an seinen anglich, wie weich sie die Spannung über die Bögen hielt, wie mühelos sie jede noch so schwierige Figur mittanzte. Und dann verließ Mychea Rhye die vorgegebene Choreographie. Catherine reagierte weich. Übergangslos ließ sie sich führen: In eine Bround-Drehung, in einen Barrié, in einen Tioré, in einen Doppelpioré. Jeder noch so dezente von Mycheas Führungsdrücken wurde sofort aufgenommen. Mit innerer Anmut drehte Catherine einen Armschwung, ließ sich wieder fassen, ging in eine sanfte Bresse. Der Mittelpunkt war da. Sie war geerdet. Und sie spürte, was kam. Was in der Musik war. Und sie wollte es. Sie hatte es immer gewollt. Aber war dieser Mann auch jemand, der das konnte. Mychea sah sie an. Er fragte, ob sie bereit war. Catherine faßte seine Hand etwas fester und fragte leise: „Können Sie das?“ Mychea antwortete: „Ja, das kann ich.“ Catherine nickte. Er kannte ihre Geschichte nicht: Aber er schien sie zu verstehen. Catherine nickte noch einmal. Dann gab sie ihr Becken frei. Die beiden gingen in eine Bouéereihe. Catherine tat etwas, das untypisch war für eine erfahrene Tänzerin: Sie hielt Mycheas Blick. Und er verstand, dass sie Angst hatte. Er faßte sie deutlicher. Dann begann die Steigung der Synkopen. Catherine spürte die Präsenz von Mycheas Körper. Dann ließ sie los, spannte ihre Mitte an und ließ sich in einen Dreierflip werfen. Zweimal wirbelte der Boden über sie hinweg. Ihre Beine drehten sich blitzschnell, die Haare wurden herumgeworfen, die Körperspannung klappte, dann stürzte sie aus dem Vertrauen in die Hände, wurde mit unglaublicher Sicherheit gefaßt und sanft auf den Boden gestellt. Die Musik klang aus. Beide Tänzer kämpften ein paar Sekunden gegen ihren zu schnell gehenden Atem. Dann sahen sie sich wortlos an. Catherine sprach als erste: „Ich kenne alle Schwarztrikots der Zaye.“ Mycheas Stimme klang nicht anders. „Ich auch.“ „Sie sind.. fantastisch.“ Mychea trat einen schnellen Schritt zurück. Dann sagte er: „Sind.. Sie Catherine Tiani!?“ Catherine hob die Brauen. „Woher wissen Sie das?“ „Das.. gibts doch überhaupt gar nicht.“ „Woher kennen Sie meinen Namen?“ „Sie.. Sie sind ja unglaublich gut.“ Catherines Blick änderte sich. „Sie sind... der Ryozan! Rhye? Sie müssen Mychea Rhye sein.“ Mychea sah sie nur an. Dann lächelte er leicht. „Warum muß ich das?“ Catherine sah ihn an. Dann sagte sie: „Danke.“ Ihre Stimme brach: „Danke, dass Sie mich halten konnten. Das scheint.. manchmal schwer.“ Mychea sah sie an. Dann nahm er ganz sanft ihre Hand und gab ihr einen Handkuss. „In keinster Weise.“
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