neu: tav-geschichte. Geschichte in Bildern.
- Petra Schrader
- 16. März
- 3 Min. Lesezeit

Geschichte wird in Momenten gemacht. Sie liegt nicht in der Länge der Zeit und schon gar nicht gleichmäßig vor dem, der sie verstehen will oder: lernen. Sie steigt in Momenten. In einzelnen Momenten. Um Geschichte zu überblicken, muss man die Momente nicht verbinden. Man muss sie finden. Man muss sie in die Hand nehmen wie eine seltene Blüte. Es können zwei Worte sein, drei. Das Ziehen eines Schwertes. Ein Wetterumschwung. Ein Glas, das fällt und zerbricht: Kann Geschichte sein. Geschichte braucht Demut. Sie verlangt sie. Stellt Demut sich nicht ein, kann Geschichte nicht steigen und nicht leben. Dann wird sie nicht erzählt. Sie geschah und dennoch: Gehört sie keinem. Sie wird dann keinen Namen haben. Keinen Weg. Und keine Waffe.
Viele Menschen glauben, dass es zum Beispiel typisch ist für ein geschichtsträchtiges Ereignis, ob ein Heer der Mongolen in einem bestimmten Jahr – in einem bestimmten und so wichtig ist die Zahl für den Erstzuschauer nicht – ein Land durchquert hat, dessen Name heute sowieso anders klingt.
Was wichtiger ist: Ob es in einer Stadt mit Reifen, Leder und Holz, mit Pferdefuhrwerken und Käfigen, in denen man Menschen, die seltsam aussahen im Zirkus zur Schau stellte eine Frau durch die Straßen geht, die einen Stein in der Tasche trägt, der Tiere heilen kann. Denn sonst bricht das Tier aus. Es ist das Tier im Zirkus, das die Geschichte machen wird, nicht der seltsame Mensch, der seine Zuschaustellung nach einem Mißbrauch in seiner Familie am Ende in seine Geschichte erhoben hat: Opfer und Täter zugleich. Der Kinder anlockt und sagt: So sieht der Teufel aus. Dabei bin ich nur krank. Oder? Kinder, die dann wochenlang nicht gut schlafen. Der Zirkus ist in der Stadt. Das Tier, das ausbricht ist klein. Es ist eine Maus. Niemand achtet darauf. Es ist kein Tiger, kein Löwe, kein Elefang. Es ist kein Heer, das plötzlich wie eine schwarze Silhouette auf einem Berg erscheint. Es ist fast ein Schmusetier. Ein Tier für Kinder sogar? Und es ist: krank. Keiner weiß es. Alle glauben, eine Pestwelle hätte mit einer Ratte begonnen. Dabei war es eine Maus. Spielt das eine Rolle? Nein. Die Frau muss einen Stein tragen, der heilt. Wie der Stein heisst, ist heute nicht mehr bekannt. Vielleicht gibt es ihn nicht mehr. Vielleicht gibt es auch die Frauen nicht mehr. Frauen, die solche Tiere sofort erkennen. Ohne Labortests und Aktionssquad der WHO. Früher waren solche weisen Frauen zumeist hochgeschätzt. Waren sie zu arm, hatten sie keinen Stein. Dann kam die Geschichte. Die Geschichte nahm der Frau ihren Namen. Den Namen, den sie heute trägt, trug sie früher nicht. Obwohl die Buchstaben dieselben sind. Obwohl man ihn in alten Büchern findet, auf Mauerwerk, auf Höhlenzeichnungen, 10 Mio Jahre alte Ausgrabungen in allen Sprachen der Welt, immer wieder derselbe Name, über alle Länder hinweg, schon bei jungen Frauen, bis ins hohe Alter: Erwählte. Nur wenige hatte ein Land. Nur wenige wirkliche. Dann wurde ihnen der Name genommen. Und dann hießen plötzlich alle so. Und dann: tötete man sie. Denn so gut waren die wenigen auch. Sie duldeten keinen Zirkus, der solche Menschen trug und solche Tiere. Ordnungsamt, sagt man heute. Oder Gesundheitsamt. Oder zertifizierte Qualitätssicherung. Heute fehlen die Steine, die wirklich heilen. Sie sind verschwunden, mit dem Namen dieser wenigen Frauen. Der Name, der heute an seine Stelle tritt ist verwirrend, er liegt wie im Teufel, er ist verrucht, er ist verwundet, niemand will ihn und böse Märchen treten an die Stelle Gottes, der diese Frauen einst erwählte. Die Frau im Zentrum von Bamberg vor der ersten Maus, die den ersten nicht mutierten und damit schlimmsten Erreger der Pest nach Europa brachte war Clara Edith von Nonnberg. Sie war 57 Jahre alt, hatte drei Kinder und 15 Enkelkinder und lebte in einem wunderschönen alten fast römischen Patrizierhaus nahe des Marktes. Sie war eine Heilerin, eine Gelehrte, eine in der Kirche geschätzte Frau, eine Beraterin von Müttern und Hebammen, eine Nachtwächterin gegen die schwarzen Nächte von Bayern, sie war eine Wächterin gegen Krankheiten, sie liebte ihre Stadt, sie sah Krankheit, sie unterschied Gut von Böse, sie wußte nichts über ihre Zukunft und sie trug noch den alten Namen, den die Geschichte heute mühsam sucht. Afai. Die Herzen der Taube. Clara Edith von Nonnberg war 927 n. Christus die höchste Hexe von Südeuropa.
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