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Leseprobe: GESA - (Science Fiction): Der Beginn des neuen Chefcommanders

  • Autorenbild: Petra Schrader
    Petra Schrader
  • 20. Nov. 2023
  • 31 Min. Lesezeit


Der erste Eindruck war klar enttäuschend. So viele Gerüchte und Geschichten hatten sich um den jungen Commander gerankt, der „Held“ der Narina, der erste „Bezwinger“ einer 9800-er-Front, der begabteste Kommandant der Epoche. In der Fantasie der Leute war er zu einem Kinohelden angewachsen, und jetzt, bei seinem Antrittsbesuch an der GESA-Stelle in Bern, brach das Heldenbild zusammen. Christopher Richter sah ganz normal aus - hochgewachsen, schmal, jung, viel zu jung für einen Chef­commander - kein Kinoheld. Der Einzige, der sich von Anfang an nicht täuschen ließ, war der Berner Chefcommander. Zu genau wußte er, was alles passieren mußte, bevor jemand zum Chefcommander der Zentrale ernannt wurde, und dass ein so revolutionär junger Kommandant mit seinem Können ganz offensichtlich das gesamte Komitee überzeugt hatte, hieß für Georg Thaler, dass er auf einiges würde achten müssen. Zum Beispiel darauf, seinen neuen Chef nicht zu unterschätzen. Ja, er sah völlig normal aus, aber die Augen blickten sehr ruhig, und seine Gesten wirkten unauffällig, irgendwie leise und unaufdringlich. Aber sehr klar. Ein Mann, der Halt bieten konnte, der ein Ruhepol war, ein Zentrum in den chaotischen Situationen eines extravenerischen Testflugs. „Commander Richter, herzlich Willkommen in Bern.“ „Vielen Dank.“ Die beiden Männer gaben sich die Hand. „Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug?“ Irgendwo in seinem Gesicht blitzte so etwas wie Humor auf. „Da ich mein eigener Pilot war, darf ich nicht klagen.“ „Ich.. verstehe.“ Man würde sich daran gewöhnen müssen, dass Christopher Richter sich nicht wie ein privilegierter Zentralenchef benahm. Kein Chauffeurpilot, kein Empfangsbankett, kein Protokoll. Er reduzierte den Antrittsbesuch auf seinen ursprünglichen Zweck – die Vorstellung. Er wollte nach Bern sehen. Und Bern sollte zu ihm sehen. „Wenn ich Ihnen meine erste Sektion vorstellen darf..“


Zwei Stunden später war niemand der Führungsleute mehr der Meinung, dass Christopher Richter „völlig normal“ war. Commander Thaler wußte genau, dass seine Rampensicherung und seine Vorwerft zwei Schwachstellen besaßen; wie Richter es aber geschafft hatte, sie innerhalb von zwanzig Minuten zu entdecken, wußte er nicht. Der neue Chefcommander ging nicht zu Vorwürfen oder Forderungen über - er gab zwei diskrete Hinweise und fuhr fort, die Teststärke der Berner Stelle zu analysieren. Thaler tat sein Bestes - ein habilitierter Werftleiter, zwei Professoren mit internationalen Preistiteln und seine Erstcrew waren immer um Richter herum, doch dieser hatte sie längst registriert. Er sprach mit Werfttechnikern, Anwärtern, Gangsicherheitsleuten und Sekretärinnen, las Bordbücher, Aushänge und Korrekturblätter, ging durch Cafeterien und Druckereien, unterhielt sich entspannt mit Commander Thaler und durchschaute alles, was ihm in die Hände kam. Als sich der Stab um zwei Uhr zum Mittagessen zusammensetzte, war Commander Thaler so erschöpft wie nach einer 10-Stunden-Wache.


Commander Mirsch sah auf die Personalakte. „Peter Greven“, nickte Commander Barry. „Alter Freund von mir. Hart aber gerecht. Und sowas gibts bei ihm nicht.“ „Und?“ Mirsch war sauer. „New York glaubt natürlich wieder, wir wären die GESA-Müllkippe. Sollen sie ihn doch feuern. „Nur bis zur Venus“ - ist doch Beschiß. Wem ist damit geholfen.“ „Immerhin war er schonmal in dier Sektionsleitung.“ „Na und? Ich will auf meinem Schiff keinen Ingenieur, der gemeutert hat.“ „Wer schon. Es war indirekte Meuterei.“ „Es war Meuterei.“ Mirsch klappte die Akte zu. „Der wird noch Spaß mit mir kriegen.“ „Wie heißt er?“ Mirsch sah auf das Deckblatt. „Andrew Shaw.“


Commander Thaler reichte Christopher Richter die Papiere. „Die Raitan. Ihre Crew kennen Sie ja schon..“ Richter überflog die Papiere und setzte seine Tasse ab. „Eine interessante Modulation.“ „Professor Kaiser und Lieutenant Zech stehen zu Ihrer Verfügung.“ „Danke.“ Richter lächelte. „Sehen Sie, Commander - es geht mir um einen Gesamtüberblick. Es ist üblich, ein Gastkommando zu übernehmen, ich werde das auch tun, aber ich möchte keine Extraausflüge. Bauen Sie mich einfach in Ihren normalen Flugplan ein. Haben Sie eine Liste?“ „Äh.. schon, aber..“ „Vielen Dank.“


Die Piran war ein schwaches Schiff. Ihre Crew bewegte sich am untersten Qualitätsrand: Mittelmäßige Abschlußnoten, wenig Erfahrung, keine Zulassung als Rettungscrew, nur intravenerische Flüge - Schiffe wie die Piran waren die Last jeder der kleineren GESA-Außenstellen und automatischer Auffangplatz für diejenigen psychisch, physisch oder fachlich gescheiterten Existenzen, für deren Entlassungen es zuviel Mitleid oder zuwenig Beweise gegeben hatte. Lieutenant Krapp, in zwei Energiefronten und einer Druckfront wiederholt das Opfer seiner zu schwachen Nerven, hatte nichtsdestotrotz ein fröhliches Gesicht und einen gesunden Sinn für Humor. Die Tatsache, dass er in der Piranhierarchie zum 1. Ingenieur aufgestiegen war, steigerte seine gute Laune noch. Gutgelaunt begrüßte er den Neuankömmling. „Lieutenant Shaw, wie ich annehme. Willkommen in Bern, ich bin Fritz Krapp, der Erste. Auf gute Zusammenarbeit.“ „Danke.“ Eine Hand legte sich auf die Schulter von Andrew Shaw. „Willkommen unter den Verdammten. Sie dürfen auch nicht durch den Gürtel, ja? Nehmen Sie es leicht: Mehr Schlaf, besseres Essen, weniger Streß. Kündigen Sie Ihre Lebensversicherung. Ich bin Captain Rech.“ „Andrew Shaw.“ „Und wie sind Sie hierhergekommen?“ Andrews Miene blieb unbewegt. „American Airlines.“ Der untersetzte Pilot grinste. „Keinen Sinn für Humor? Das lernen Sie noch. Sie sind Brite, was?“ „Schotte.“ „Sag ich ja. Also - jetzt kennen Sie fast alle, unsere Artemis ist noch beim Schminken.“ „Wer?“ „Wir haben eine echte Kadettin im Navigationsstand. Eine Senior-Kadettin, sowas kennen Sie, ja? Oder gibts die in New York nicht? Ach so, einen Commander haben wir auch noch. Aber keine Sorge, der tut Ihnen nichts. Sie haben ja wohl was gegen Commander, ja?“ Ingo Rech grinste. Andrew Shaw sagte kühl: „In keinster Weise.“ „Kommen Sie, Sie müssen viel lockerer werden. Wir wissen, warum Sie hier sind.“ Das Grinsen wurde stärker. „Entscheiden Sie sich, okay? Bisher saßen wir alle im selben Boot. Aussteigen hat sich nicht bewährt.“


Christopher Richter gab Commander Thaler die Liste zurück. „Die Piran. Kann ich davon die Personalakten sehen?“ Der Berner Commander erstarrte. „Die Piran?“ „Habe ich es falsch ausgesprochen?“ „Commander, die Piran ist..“ „.. ein Innenschiff.“ Thaler schluckte. „Richtig.“ „Innencrews sind schwerer zu kommandieren. Und es ist wichtiger, dass man sie kommandiert. Und wie. Ich sage Ihnen meine persönliche Meinung: Niemand kann einem so gut Kommandieren beibringen wie eine Innencrew.“ „Bei-bringen? Commander, diese Crew kann niemandem etwas beibringen. Sie haben mein Wort. Wenn Sie eine besondere Herausforderung...“ „Die Personalakten. Ich möchte nur einen Blick drauf werfen.“ Thaler sah ihn stumm an. Dann griff er zum Telefon.


Im Raum war es sehr still. Endlich, umrahmt von der Mittagssonne der Alpen, schloß Christopher Richter die Akten. „Eine interessante Crew.“ Commander Thaler hatte sich gefaßt. „Haben Sie gefunden, was Sie wissen wollten?“ „Noch nicht ganz. Da der Flug nur bis ELT geht, paßt er gut in meinen Zeitplan.“ Sieben entsetzte Augenpaare starrten ihn an. „Das.. ist nicht Ihr Ernst.“ „Nicht?“ „Das.. diese Crew ist.. indiskutabel.“ „Wann sind Sie das letzte Mal mit ihr geflogen?“ „I..ch? Ich.. bin noch nie mit ihr geflogen.“ Richter hob die Brauen. „Trotzdem haben Sie schon ein sehr festes Urteil.“ „Aber..“ Thaler war völlig aus dem Konzept. „Ich verstehe nicht.“ „Lieutenant Kerst.“ Der Chefnavigator räusperte sich. „Sir.“ „Kadettin Ravenna gehört zu Ihrer Sektion?“ „Nun sie.. kam zu uns aus Brüssel. Commander Thibaut war bis vor zwei Jahren Chefcommander, er hat ihr den Lieutenant verweigert.“ „Und?“ „Sir?“ „Können Sie mir etwas über sie sagen.“ „Nun.. bis jetzt hat sie keinen Grund zu einem Personalakteneintrag geboten. Weder positiv noch negativ.“ „Wurde ihr Rangverdienst erneut überprüft?“ „Nein, Sir.“ „Warum nicht?“ Der Navigator sah hilflos zu seinem Commander. „Sie.. hat nichts Herausragendes geleistet. Keine Verdienste bei Expeditionen, keine D-Fronten..“ Richter ließ ihn nicht los. „Hätte sie Gelegenheit dazu gehabt? Gab es andere Flüge als mit Innenschiffen?“ „Aber.. nicht bei einer Senior-Kadettin, Sir..“ Richter sah ihn nur an, und Thaler kam ihm zur Hilfe. „Commander, das Mädchen ist eine klassische Innenkadettin mit wenig Erfahrung. Was suchen Sie bei ihr?“ „Nennen Sie sie hier so: Mädchen?“ Thaler spürte ein leichtes Kribbeln auf der Haut: War es nur eine Verstimmung? Oder war es schon eine Warnung? Er beeilte sich zu erklären: „Ich.. wollte damit ausdrücken, dass ich ihre persönliche und fachliche Qualifikation auf einem Stand einschätze, der mit dem unserer Navigatoren nicht vergleichbar ist. Auch, wenn ich die Kadettin nicht besonders gut kenne.“ Christopher Richter legte die Personalakte auf den Tisch. „Ich kenne sie gar nicht. Was ist allerdings kenne, ist die Navigationsakademie Marseille-Quichy.“ „Eh.. natürlich..“ „Natürlich wie Sie mir zustimmen werden, ist sie das Beyton der Navigatoren. Und Ihr „Mädchen“ hat die Ecole Quichy mit magna cum abgeschlossen. Wie hat sie nun das gemacht. Wie macht sie einen magna cum laude unter Lieutenant Robert Trelian, ein in meiner Einschätzung sehr harter Lehrer, der schon seit zwanzig Jahren verkündet, er würde niemals und aus Prinzip keinen magna cum vergeben? Und jetzt sitzt diese Frau auf einem Innenschiff. An irgendeiner Stelle hat ihre berufliche Entwicklung eine Cäsur bekommen. Warum. Ist sie nicht weiter gefördert worden? Wurde ihre Ausbildung abgebrochen? Ist sie krank geworden? Wie ist sie in ihrer praktischen Ausbildung weiter betreut worden? Wie in ersten schwersten Erfahrungen begleitet? Ist ein Trauma zurückgeblieben? Diese Information ist in der Akte nicht zu finden, dabei ist sie hochwichtig. Das Leben macht Cäsuren. Es sind hochwichtige Entwicklungsreize, sie formen einen ganzen Menschen, indem sie ihn Fähigkeiten lehrt im Angesicht von Licht und von Dunkelheit. Möglicherweise entwickelt sich hier gerade im Schutz eines Innenschiffs ein Juwel. Was ist mit Lieutenant Shaw.“ Commander Thaler räusperte sich. „Es gab in New York ein internes Verfahren wegen indirekter Meuterei. Er wurde zurückgestuft und zu uns strafversetzt. Ich habe ihn zunächst im Bereich der Innenschiffe eingesetzt. Ich halte eine klare Positionierung für wichtig. Er muß wissen, dass die New Yorker Zeiten für ihn jetzt vorbei sind. Natürlich habe ich nicht vor, ihn dort zu lassen. Aber erst muß er begreifen, dass er nicht bestimmt, wo es langgeht.“ Christopher Richter nahm die dicke Personalakte, faßte einen erheblichen Teil der Papiere zwischen die Finger und sagte: „Mich zieht auch nichts dahin, mit Papier zu arbeiten. Aber was ist das hier. Das ist alles grün. Das sind alles besondere Einträge, Belobigungen, Protokolle, der Mann ist der aufstrebende Spitzeningenieur von New York. Bis hier also: Steigflug. Und dann: von 100 auf null in einem Blatt. Das ist wie 12 Jahre Diamanten verkaufen und dann den letzten in einen Kaugummiautomaten stecken. Cäsur. Was ist hier passiert. Das müssen wir unbedingt herausfinden. Einen Mann, der einen DTS-instabilen Dreitrieber in einer Sogwellenfront ohne Assistenz rekalibriert, ohne Anzug, ohne Sauerstoff, mit einer Trennungsmodulation, von der ganz sicher ist, dass sie nirgendwo steht und von der man absolut annehmen muß, dass er sie sich in diesem Moment selbst abgeleitet hat: Diesen Mann kann die GESA nicht einfach in ein Innenschiff setzen. Nicht wegen eines Papiers. Einverstanden, dass indirekte Meuterei ein schwer­­wiegendes Papier ist. Aber haben wir hier schon tief genug verstanden. Ich kann das nicht glauben. 95 Prozent aller Meutereiprozesse finden in den ersten anderthalb Dienstjahren eines Crew­mitglieds statt. Andrew Shaw hat 11 Jahre bei uns gearbeitet, besitzt seit 5 Jahren einen A-Schein und ist stellvertretender Chefingenieur von New York. Jetzt schreibt ihm sein Chefcommander ein „schwer führbar“ in seine Personalakte. Warum hat das bis jetzt niemand da reingeschrieben. Hat er eine Persönlichkeitsveränderung durchgemacht? Viele Fragen.“ Christopher Richter nickte kurz. „Lernen wir die Leute kennen.“


Commander Mirsch hatte seine Crew wie eine Schafsherde auf der Brücke zusammengetrieben, wobei er selbst der Aufgeregteste war. „Wie ich eben erst erfahren habe, ist der neue Chefcommander der Zentrale auf dem Weg hierher..“ Lieutenant Krapp wurde blaß. „Will.. er das Schiff besichtigen?“ Mirsch rang mit einer Hand. „Er will es kommandieren! Für sein Gastkommando nimmt er nicht die Raitan, sondern die Piran.“ Captain Reichs Unterlippe wurde weiß. „W..as?“ Mirsch sah sich um. „Wo ist Kadettin Ravenna?“ „Sie ist noch nicht da.“ „Auch das noch.“ Mirsch war in heller Aufregung. „Und das Bordbuch.. es ist nicht vollständig. Und haben Sie die letzten Modulstände...“ Er brach ab, als die beiden Commander das Cockpit betraten. Die Crew straffte sich, und Thaler nickte Mirsch zu. „Guten Morgen, die Herren. Commander..“ „Sir.“ „Commander Mirsch, Commander Richter.“ „Ich..“ Mirschs Stimme bröckelte. „Willkommen auf der Piran, Sir.“ „Vielen Dank.“ „Ich fürchte.. dieses Schiff kann im Interessantheitsgrad nicht annähernd mit anderen Schiffen konkurrieren, die Ihnen zur Verfügung..“ „Vielen Dank“, unterbrach Richter ihn sanft, „aber die Piran ist ein Testschiff. Und ich bin Testpilot, es ist also gar nicht möglich, dass sie mich nicht interessiert.“ „Es ist für uns eine große Ehre, einen so großen Kommandanten..“ „Commander Mirsch“, lächelte Richter freundlich, „ich bin 1,82. Mit Sicherheitsschuhen.“ „Eh.. vielleicht mache ich Sie mit Ihrer Crew bekannt.“ „Gerne.“ „Captain Rech, der Crewsprecher..“ „Captain.“ Der Pilot bekam keinen Ton heraus und nahm nur Richters Hand. „Auf gute Zusammenarbeit.“ „Ich.. sich.. nke.“ „Lieutenant Krapp, erster Ingenieur.“ „Angenehm.“ „Die Ehre.. ist auf meiner Seite.“ „Lieutenant Shaw, zweiter Ingenieur.“ „Lieutenant.“ „Commander.“ Andrew Shaw spürte, wie der Blick dieses Mannes durch ihn durch­ging. Die beiden Männer waren sich noch nie begegnet, und jetzt stand ihre erste Begegnung unter einem internen wie vernichtenden Urteil des zweitmächtigten Chefcommander der GESA: “Führbar nur unter einem starken Commander.“ Andrew stand sehr ruhig. Dieser Mann war der beste Kommandant der GESA. Und Andrew hatte sich schon sehr lange gewünscht, unter ihm zu fliegen. Schon lange bevor er überhaupt als Kandidat für eine F1-Stelle im Gespräch gewesen war. Christopher Richters Blick war der Blick eines Mannes, der in Ruhe sah: Offen und aufmerksam. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Lieutenant.“ „Danke, Sir. Ich freue mich auch.“ Richter blickte auf. „Und Ihre Navigatorin?“ Mirsch errötete. „Sie... äh, ist noch nicht da. Was ich mir nicht erklären kann. Sie ist durch so etwas noch nie aufgefallen.“ Commander Thaler reagierte sofort. „Kein Problem. Funken Sie Lieutenant Vierth an.“ „Sofort, Sir.“ Die Tür ging auf, ein zerzauster Lockenkopf kam in spürbarer Eile herein und blieb beim Anblick des gefüllten Cockpits überrascht stehen. Niemand konnte ahnen, dass mit Clarissa Ravennas Eintreten zum ersten Mal die Hälfte der Crew versammelt war, die in Eingespieltheit, Vertrauen, Können, Erfolg und Berühmtheit einzigartige GESA-Geschichte schreiben sollte. Commander Thaler fauchte Clarissa an: „Wo kommen Sie denn her? Wie können Sie hier zehn Minuten zu spät erscheinen, mit noch unklarer Sektion und ohne..“ „Commander.“ Richters ruhige Stimme wirkte wie ein Messer, das Thaler Wutausbruch einfach abschnitt. „Vielen Dank. Da Sie mir ja das Schiff bereits übergeben haben..“ Thaler schloß den Mund. „Natürlich. Verzeihung, Sir, ich wollte natürlich keinesfalls..“ Richter sah zu Clarissa. „Kadettin Ravenna?“ „Sir.“ „Ich bin Commander Richter und habe die Piran für ein Einflugkommando übernommen.“ „Sir.“ „Möchten Sie uns etwas erklären?“ Clarissas Gesicht glich - wie immer, wenn sie mit einem Commander sprach - einer Maske. „Nein. Sie würden mir ja doch nicht glauben.“ Clarissas Kälte gegenüber dem neuen Commander war deutlich zu spüren. Es war ein guter und ein schlechter Anfang der Bekanntschaft des Chefcommanders und seiner späteren Chefnavigatorin: Schlecht, weil Clarissa ihn sabotieren wollte. Und gut, weil Christopher Richter sich daran nicht störte. „Vielleicht irren Sie sich.“ Clarissa verkrampfte ihre Kiefer ganz leicht - um nichts in der Welt wollte sie unter einem Chefcommander fliegen. „Bestimmt nicht.“ Commander Thaler schnappte nach Luft, und die Seniorkadettin wartete auf den unvermeidlichen Rauswurf. Sie konnte nicht wissen, dass Christopher Richter sich in den Kopf gesetzt hatte, sie navigieren zu sehen. Zu Mirschs Verblüffung und Thalers Entsetzen sagte er ruhig: „Es ist nichts passiert, Sie haben noch Zeit, ich bin auch noch nicht fertig. Ich möchte mir gerne das Bordbuch anschauen, bereiten Sie in Ruhe Ihre Station vor, dann eröffnen wir.“


Commander Thaler war gleichzeitig unglücklich und sehr erleichtert darüber, dass Christopher Richter nicht annähernd die Gesamtlänge der ersten Startphase brauchte, um die Fähigkeiten von Captain Rech abzuschätzen. „MA-Brücke.“ Das MA war der Hauptstand der Maschinentechnik. „Frage: Koaxial.“ „Ist.. eh, weiß, Sir.“ „Danke. Captain, die Dämpfertarierung nicht so hoch.“ „Äh - Aye.“ „Jetzt ist sie zu niedrig.“ „Ich.. äh...“ „Vorsichtig höher - stop. So ist gut. Achten Sie auf die Koaxialanzeige.“ „Ich.. aye.“ „Brücke-MA. Sir..“ „Ja.“ „Kann ich Sie kurz stören?“ „Ich sagte „ja“.“ „Verzeihung. Tut mir leid. Wir haben eine Modulschwankung in den 32-er Reihen.“ „Wie hoch?“ „0,3 Grad.“ „Danke.“ Kurze Stille. „Keine Anweisung diesbezüglich?“ Commander Thaler, der angesichts des Gesprächs am liebsten im Erdboden versunken wäre, sah leicht errötend mit an, wie Christopher Richter schon während der Startphase damit begann, diese auf den neuen Commander völlig verunsichert reagierende Crew auszubilden. „Nein, ich habe keine Anweisung für Sie im Moment. Wir sind gerade gestartet, 0.3 darf er.“ „Danke, Sir.“ „Captain, gehen Sie wieder etwas runter.“ „Aye, Sir.“ Fast mitleidig schien sich der schwarze Samt um das kleine, verunsicherte Schiff zu legen.


Christopher Richter ließ die Piran bis zum Terixkreuz fliegen, mit ungefährlicher Geschwindigkeit und völlig ohne Testprogramm. Zwei Stunden lang trainierte er mit der Crew nur mechanische Manöverübungen - stoisch, konzentriert und mit einer Engelsgeduld. Aus stotternden Anlagensätzen wurden sachliche Meldungen, aus drei Stationen wurden Crewteile, die zumindest zu ahnen begannen, dass man ein Schiff auch gemeinsam fliegen konnte, aus einem albernden Pilot wurde ein erst stummer und dann in Ansätzen konzentrierter Testflieger. Commander Thaler verfolgte die Arbeit seines neuen Chefcommanders immer faszinierter. Ohne sich von seinem Platz zu erheben, ohne ein einziges Mal laut zu werden, brachte Richter die vier Leute dazu, ihre Arbeit immer mehr auf ihn hin zu steuern, bis sich schließlich die Konzentration in wie unsichtbaren Bändern auf ihn als Mittelpunkt bündelte. Commander Thaler begann langsam zu ahnen, dass er auf diesem Flug eine ganze Menge über das Kommandieren lernen sollte.


Als Christopher Richter bei seinem Kontrollgang auf dem Unterdeck angekommen war, hörte er aus dem MA streitende Stimmen. „Jetzt hör mal zu, Brite. Das hier ist mein MA, klar? Ich entscheide, was wir machen.“ „Gut“, sagte Andrew Shaw beherrscht und sehr kühl. „Dann entscheiden Sie jetzt, dass wir das der Brücke melden. Jetzt sofort.“ „Vorhin hatten wir auch nix davon.“ „Vorhin haben Sie eine 0.3-er Verschiebung gemeldet, das ist einen normale Startreaktion, die meldet man nicht. DAS da meldet man, und zwar sofort. Das ist eine offene Gefahr. Die..“ „Wir melden erstmal gar nichts.“ „So ein Unsinn!“ Krapp sprang auf. „Weg da!!“ Christopher Richter war mit zwei Schritten an der Tür und sah, wie Lieutenant Krapp Andrew Shaw wütend vom Relaisstand wegstieß, an dem dieser schon die Verkleidung abgerissen hatte. „Lieutenant!“ Die Schärfe in Richters Stimme ließ Fritz Krapp erschrocken zusammenfahren. Im selben Moment heulte das Triebwerk auf. Mit dem Satz eines Panthers sprang Andrew Shaw auf, doch es war zu spät. Fünf Jahre später sollte genau dasselbe nur einen Quadranten entfernt wieder passieren, dann als unbedeutender Zwischenfall mit einem kurzen Bordbucheintrag als einziger Folge: An Fritz Krapps Stelle würde ein Andrew Shaw stehen, und an Ingo Rechs Stelle ein Phil Adrian. Doch die Piran war noch nicht soweit: Bevor Richter die Anlage und Andrew Shaw die durch Lieutenant Krapp verstellte Energieschalter erreichte, blockierte ein Triebwerk, und die Piran schnellte dem kleinen Wagen entgegen.


Commander Thaler war der älteste, Christopher Richter aber der mit Abstand Erfahrenste an Bord und kam als Erster wieder zu sich. Trotz seiner Benommenheit brauchte er nur Sekunden, um ins Cockpit zu gelangen. Captain Rech lag noch bewußtlos in seinem Sitz. Richter langte über die Armaturen und bremste das durchgegangene Schiff genauso schnell wie behutsam. Vier Außenrotanzeigen. Commander Thaler schien noch in der Messe zu sein. Christopher Richter fuhr zwei Schutzschirme hoch, kontrollierte den Puls des Piloten und verließ die Brücke.


Clarissa war noch tief bewußtlos – zu tief, wie Christopher Richter fand. Er lagerte sie auf dem Boden, versorgte sie mit einem Guedel aus dem C-Schott und nahm dann erst die Position.


Man konnte einen New Yorker Spitzeningenieur aus der Elite der amerikanischen Astronauten ausstoßen, ihn mit internen Verfahren demütigen und auf ein Innenschiff verbannen, aber man konnte ihm nicht seine hochtrainierten Reflexe und seine jahrelange extravenerische Erfahrung nehmen: Genau wie Christopher Richter hatte Andrew Shaw sich im letzten Moment in eine Entlastungsposition geworfen und war daraus nach weniger als einer Minute wieder zu sich gekommen. Als der Commander wieder den MA betrat, kniete Andrew Shaw neben der Leiche von Fritz Krapp und sah auf. „Sir.“ Richters Nicken war kaum zu sehen. „Ich weiß.“ „Das Genick.“ Andrews Stimme war leise. „Er hat.. sich nicht mal von der Wand weggeworfen.“ Richters Gesicht wurde das eines Commanders: Offen und gleichzeitig ruhig. Tief geerdet. „Was ist mit den Modulen?“ Er hatte sich neben die reglose Gestalt gekniet und untersuchte erneut die Halswirbelsäule, die eindeutig gebrochen war. „Stabilisiert“, antwortete Andrew Shaw. „LES habe ich überbrückt, wir haben vier Außenrots, aber die T-Spur ist ohne Befund.“ Richter schloß die Augen des Toten und richtete sich auf. Dann sah er auf seinen neuen Ingenieur, der völlig ruhig zwischen der Leiche und dem zerstörten Relaisblock stand: Ein Innenschiffdegradierter. „Danke. Sehr gut. Unsere Position ist NLC 305. Ich brauche jetzt zuerst den genauen Schadensstatus. Und das Koaxial gehört Ihnen.“ „Aye, Sir.“


Commander Thaler war noch immer bewußtlos. Auf der Piran hatte monatelang der Schlendrian geherrscht, und drei Stunden waren zuwenig gewesen, um ihn zu vertreiben: Jemand hatte einen Stuhl nicht wieder in die Magnethalter zurückgeklinkt, und bei der Blockierung war er gegen Commander Thaler geknallt. Noch hatte Christopher Richter nicht viel Zeit für ihn. Die Hüfte und die Schulter schienen verletzt, doch es gab keinen Blutverlust, und Richter lief weiter ins Navigationscenter: Die drei Minuten waren um, und das Streuprogramm, das er gestartet hatte, würde erste Ergebnisse liefern. Im Navigationsstand (NC) erwartete den Commander die erste von unzähligen Überraschungen über die unglaubliche Zähigkeit von Clarissa Ravenna: Die Kadettin stand, halb auf den Tisch gestützt und ziemlich blass, zwischen Streutastern und Inferenzbildern und war auf ihre schnelle Arbeit konzentriert. Endlich sah sie auf - ein Blick aus Ruhe und Spannung, den Christopher Richter erst später verstehen sollte. Übergangslos sagte sie: „November Lima Charlie 305. Streuung negativ, TLA negativ, Inferenzanalyse negativ.“ Christopher Richter hob eine innere Braue. „Danke. Das ist sehr gut. Wann müssen Sie wieder messen?“ „In sechs Minuten.“ Clarissas Stimme war kühl und reserviert - aber sie war ruhig. Die Tiefe ihrer anfänglichen Bewußtlosigkeit war der Beweis fehlender Erfahrung - doch trotz ihres jungen Alters und ihrer Verschlossenheit erkannte der crewerfahrene Commander in ihr die vertraute Art der tiefen Zuverlässigkeit wirklich begabter Testflieger. Sein Blick schien ihr unangenehm zu sein, und er sagte: „Commander Thaler ist verletzt, ich brauche wen, der mir bei seiner Versorgung assistiert. In sechs Minuten können Sie wieder hier sein.“


Es war noch nicht die Taniscrew. Der gute Pilot fehlte völlig, der Ingenieur war ein disziplinarisch geächteter Meuterer, die Navigatorin ein traumatisiertes Diskriminations-Opfer mit wenig Erfahrung. Und doch war es der Beginn der Taniscrew: Christopher Richter wurde die Mitte, die er immer bleiben sollte.

Das Triebwerk lag noch still, und das Fehlen der Maschinengeräusche auf der Brücke ließ die Worte des Commanders lauter als sonst erscheinen. Ruhig und mit der sicheren Distanz der guten Kommandanten in Krisensituationen informierte er die drei unverletzten GESA-Leute über das, was passiert war, über den Zustand des Schiffes, die Position, das Wetter und die ersten Maßnahmen. „...danach werden wir die Reconatanzahl, die unversehrt ist, wieder aktivieren. Ich schätze, dass wir in etwa einer halben Stunde funken können. Lieutenant Shaw, was die T-Spur betrifft, können Sie..“ „Sir!“ Captain Rech, seit seinem Erwachen bleich und verschwitzt, holte tief Luft. „Ich finde es nicht richtig, dass Lieutenant Krapp unten bleiben muß. Die MA-Entscheidungen liegen doch wohl in seiner Verantwortung.“ Auf der Brücke wurde es still. Offensichtlich hatte der Pilot den ersten Sätzen des Commanders gar nicht zugehört. Christopher Richter sah Ingo Rech, dessen Nerven bereits zum Zerreißen gespannt waren, an und sagte sehr ruhig: „Captain, wie ich gerade sagte, ist Lieutenant Krapp bei der Blockierung leider schwerst verletzt worden. Sein Genick ist gebrochen, und er war sofort tot.“ Der Pilot starrte den Commander ungläubig an. „W.. as? Was, was heißt das, er ist tot, wieso ist er tot, wieso, er ist doch nicht tot, das kann nicht sein..“ Christopher Richter stand sehr ruhig. „Nehmen Sie sich Zeit.“ Captain Rech brachte das Wort nur mühsam hervor. Dann entlud sich seine Erregung und seine Angst. „Er ist tot???“ Jetzt schrie er. „Er ist tot, ja? Und für Sie ist das der Teil des Wetterberichts, oder wie? Das sagen Sie mal eben so nebenbei.“ Seine Stimme kickste. „Für Sie ist er nur ein Innenschiffingenieur, damit geben Sie sich ja gar nicht ab, nicht als Starcommander, Sie..“ „Das reicht!“ Christopher Richter hatte seine Stimme nicht gehoben. Aber sie hatte den Ton verändert. Sie war nicht kalt, sondern nur klar. „Wenn Sie sich im Moment nicht dienstfähig fühlen, dann kann ich Sie auf Ihre Bitte vom Dienst freistellen. Wir stehen in schwierigen Erfahrungen. Ich bin hier, um Sie währenddessen zu begleiten und zu führen. Wenn diese Erfahrung im Moment Ihre Aufmerksamkeit benötigt und das Handeln Sie unnötig belastet, werde ich die Brücke übernehmen und Sie gehen in eine Ruhepause. Möchten Sie eine solche Pause im Moment in Anspruch nehmen?“ Stille. Ingo Rech atmete schwer. Dann sagte er brüchig: „Nein, Sir.“



Endlich öffnete Commander Thaler wieder die Augen. „Mein Gott. Und Sie fanden die Crew interessant, ja? Ein einfacher Flug - und jetzt sitzen wir da in Raumnot mit einer Innencrew.“ Christopher Richter sah ihn ruhig an. „Das ist nicht einfach eine Innencrew.“ „Diese Leute haben keinerlei Erfahrung mit Raumnotlagen.“ „Jetzt schon.“ „Soll ich mich um die Kadettin kümmern?“ „Kadettin Ravenna arbeitet. Sie sitzt vor fünf Simultanmessungen. Der weltweit beste Navigator, den ich kenne, schafft drei. Sie haben diese Frau übersehen. Aber vielleicht brauchte sie das. Frauen sind anders als Männer. Viele Führungskräfte verstehen das nicht. Jetzt ist es nicht Thema. Allerdings werde ich Ihnen Captain Rech zu Ihrer medizinischen Überwachung runterschicken.“ „Ich... verstehe.“ „Ich gebe ihn an Sie ab. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie nicht mehr die Ressourcen haben. Solange halte ich meine frei.“ „Selbstverständlich.“


Es war wie immer: Das samtene Dunkel der gesprenkelte Weite schien sich in einen schwarzen, kalten und lautlosen Feind zu verwandeln: Übermächtig versuchte es, das havarierende Schiff einzuspinnen in ein Netz aus Angst und Ausweglosigkeit. Aber wer den Raum, in dem das Schiff trieb tiefer berührt hatte wußte: Es waren auch andere Kräfte da. Kräfte, die eine solche Angst halten konnten. Als Andrew Shaw wieder auf die Brücke kam, stand Clarissa Ravenna an den Cockpitstreugeräten. „Der Commander ist noch nicht da?“ Die Navigatorin sah auf. „Noch im Hospital.“ „Ich glaube, wir hatten noch gar keine Zeit, uns bekannt zu machen.“ „Das stimmt.“ Die Seniorkadettin schien völlig verändert - alle Kühle und Verschlossenheit waren verschwunden. Zum ersten Mal erahnte Andrew etwas von der Wärme dieser Frau. „Clarissa Ravenna.“ „Andrew Shaw.“ „Das Willkommen an Bord kann ich mir wohl sparen.“ „Sowas passiert.“ „Ja.“ Clarissa sah auf ihren Bildschirm. „Und so ist es jetzt passiert.“ Im selben Moment kam der Commander herein. „Kadettin?“ „Sir.“ Clarissas Ausstrahlung war sofort umgeklappt: Die Mauer aus Verschlossenheit stand sekundenschnell und völlig massiv. Andrew Shaw konnte nicht glauben, was er begriff: Die Feindseligkeit der Kadettin bezog sich auf den Commander. „Ist die CLF durch?“ „Negativ.“ „Danke. Hervorragend.“ Richter kontrollierte die Armaturen. „Lieutenant Shaw, es ist an der Zeit, dass wir uns über das zweite Triebwerk unterhalten.“


Gespannt aber ruhig blickten Andrew und Clarissa auf die Anzeige des Funkgeräts. Irgendwo, weit weg hinter dem schwarzen Samt, knisterte eine fremde Stimme. „Christopher?“ „Hallo Lars.“ Lars Teusch, stellvertretender Chefcommander und neun Jahre älter als Christopher, klang sehr besorgt. „So war´s nicht geplant.“ „So ist es nie geplant.“ „In STL 400 baut sich die Front wieder auf. Die Kailax wird mindestens drei Tage zu euch brauchen.“ „Sie wird nicht den Direktweg nehmen, Lars. Das ist ein klarer Befehl, und den wirst du jetzt bitte erstmal protokollieren.“ „Christopher..“ „Ende der Diskussion.“ „Du hast Nerven.“ „Ich habe einen Toten, und das reicht. Du wolltest noch was sagen.“ „Sie hat sich gerade abgemeldet, aber in zehn Minuten wissen wir es definitiv: Die Laina ist in eurer Nähe - NRT 331. Es scheint allerdings, als hätte sie Probleme mit der T-Spur.“ Nein, Christopher Richter ließ das „Auch das noch.“ niemanden hören. „Wer ist da drauf?“ „Captain Adrian.“


Die Kontrollinstrumente des MA summten beschäftigt. Andrew Shaw sah wieder auf die Notizen des Commanders und sagte schließlich: „Theoretisch.. möglich, sicher. Aber..“ „Aber?“ „Wir haben auf der linken Seitenkranzleiste nur 55% Stabilisation. Jede Bewegung, die über 30 Grad geht..“ Er hielt inne: Warum erzählte er dem Commander das. Er wußte es selbst sehr gut. „Was ich damit sagen will ist.. wer soll das fliegen?“ Die Frage war völlig deplaziert. Andrew kam von der Spannung im Umgang mit Christopher Richter nicht weg: Zuviel Bewunderung? Oder war alles viel komplizierter? „Ich meine natürlich.. also, reden wir nicht von Captain Rech..“ Andrew beschloß, sich ein großes Pflaster auf den Mund zu kleben. Christopher Richter nahm die Papiere wieder zurück und sagte: „Das wird ein schweres Manöver, und zwar für alle Stationen. Es wird nicht nur um Schnelligkeit gehen, sondern auch um Kreativität. Ich hoffe, dass ich die Kadettin damit noch nicht überfordere, ich denke, dass sie noch etwas Zeit braucht, aber Sie brauchen die nicht mehr: Ich werde die Hauptlast auf die Kranzüberzüge legen. Sie müssen mir helfen. Alleine schaffe ich das nicht.“ Andrew Shaw sah den Kommandanten einfach nur an: Einen Piloten, der sich gerade eine Aufgabe aufgebürdet hatte, die im Alptraumbereich lag. Aber die Alternative war, das Schiff aufzugeben, die Störfront zu erwarten und in Gurt und Anzug gehüllt auf die ein oder andere Weise zu sterben. In Andrews Sorge, Angst und Ernst mischte sich eine ehrfurchtsvolle Neugier, diesen Commander, der schon als Pilot fast ein Mythos gewesen war, fliegen zu sehen. „Das werde ich, Sir.“


Wieder knackte das Funkgerät. „Er mußte auf Minimalenergie gehen. Aber seine letzte Position haben wir. Wann kannst du da sein?“ „Wir rechnen noch. Fragt sich nur, wie froh er mit dem ist, was wir ihm bieten.. danke. 43 Minuten, Lars.“ „Müßte reichen.“ „Wie kommt die Kailax durch?“ „Ist im Zeitplan.“


Die Kopplung verlief ohne Probleme. Phil Adrian stieg auf die Piran über und brachte nur sein Bordbuch und seinen Raumanzug mit - die Minimalenergie hatte bereits nicht mehr ausgereicht, und die Temperatur war bis Minus 110 Grad abgesunken. Andrew Shaw beendete die Schleusung und sah, wie die beiden Berliner Piloten sich begrüßten - der hochgewachsene, noch ziemlich junge Chefpilot der Zentrale legte seinen Anzug ab, beantwortete die Fragen des Commanders, übergab das Bordbuch und wirkte nicht übermäßig wie jemand, der gerade vom sicheren Tod in ein äußerst unsicheres Leben getreten war. Als Andrew Shaw herankam, hatten die beiden Männer ihre kurzen Kommentare beendet. „Tot.“ „Ja. Das ist Lieutenant Shaw... Captain Adrian, unser Chefpilot.“ Die beiden sahen sich kurz an, ergriffen die Hand des anderen und verstanden sich sofort. „Aus den weiten Ebenen der ingenieurlosen Alleinflüge?“ „Aus den weiten Ebenen des pilotlosen Schottlands?“ Phil Adrian und Andrew Shaw verstanden sich auf Anhieb. Niemand konnte jetzt schon ahnen, wie tief und intensiv diese Freundschaft einmal mit einer eingespielten Teamarbeit wachsen und weit über sie hinausgehen würde, aber schon jetzt deutete sich an, wieviel die beiden gemeinsam hatten. „Sie haben ein gutes Ohr.“ „Ihr Ohr sieht auch nicht übel aus.“


Phil Adrian hatte in seiner Laufbahn schon Senior-Kadetten aller Art gesehen, die alle so verschieden gewesen waren und doch das eine gemeinsam gehabt hatten: Niemals hätten sie in einer T4-Raumnot ruhig, konzentriert und routiniert arbeitend vor ihren Apparaten gesessen wie Clarissa Ravenna bei seinem Eintreten. Jung, schlank, leicht gebräunt und mit nur unzureichend gebändigten Locken saß sie vor den Großmonitor und machte schnelle, gezielte Handbewegungen, die zeigten, wie blind sie mit der ihr anvertrauten Technik umzugehen imstande war. Phil Adrian wußte noch nichts über Clarissa Ravenna, doch noch bevor sie sich umwandte, war er bereits davon überzeugt, dass sie keine Seniorkadettin war. Nirgendwo in der GESA gab es eine Seniorkadettin, die sich in der Atmosphäre akuter Lebensgefahr so kaltblütig und selbständig bewegte. Irgendjemand hatte etwas falsch verstanden: Höchstwahrscheinlich er selbst. „Lieutenant Ravenna?“ Ein unglaublich junges, feines Gesicht mit einem sensiblen Lächeln. „Willkommen an Bord. Und mit dem Lieutenant, das muß ich zurückweisen.“ Stille. Phil Adrian sah sie an. Dann sagte er: „Sie sind keine Kadettin. Ich bin Phil Adrian.“ Die beiden gaben sich die Hand. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ „Ich freue mich auch. Leider muß ich sofort hoch. Aber falls ich Sie über die Anlage mit „Lieutenant“ anspreche, werden Sie das wohl hinnehmen müssen. Wir haben keine Zeit für lange Diskussionen.“ „Mit der Zeit, da haben Sie recht.“ „Zum Glück sind Sie ja dabei.“ „Sagen Sie das nicht.“ „Doch.“


Als Phil Adrian auf die Brücke kam, schaltete Christopher Richter gerade das Funkgerät wieder aus. Die Miene des Commanders war nach wie vor ruhig, doch der junge Chefpilot erkannte im Blick seines alten Ausbilders, alten Commanders und neuen Chefcommanders ein wie unsichtbares Funkeln: Schalk. „Captain, geben Sie sich einen aus. Der Kelch des Doppelfliegens mit mir ist just an Ihnen vorbeigerauscht.“ Christopher Richter drückte die Taste. „An alle Stationen, die Crew bitte auf die Brücke.“ Phil Adrian war an den Armaturen angekommen und grinste leicht: „Another time.“ Er wußte, was Christopher Richter meinte. Als die Crew eine Minute später auf der Brücke erschienen war, war der Miene des Commanders schon nichts mehr anderes zu entnehmen als Ruhe. „Wir haben soeben einen Funkspruch der Kailax erhalten. Der Kailax-Navigator hat eine Zenar-Interferenz gemessen und daraus einen Korridor konstruiert, der eine direkte Durchquerung der Front unter normalem Meteoriten-Risiko erlaubt. Commander Nei rechnet damit, dass er in 70 Minuten hier sein wird. Wir werden auf die Kailax als intaktem, viertriebigem Schlechtwetterschiff übersteigen, durch den Korridor zurückfliegen und planmäßig in zehn Stunden in Berlin landen.“ Stille. Captain Zech, bleicher als je zuvor, lehnte sich an das Schott, schloß die Augen und begann zu weinen.


Die Triebwerke der Kailax summten fast leise. Die beiden aktiven Kommandanten hatten als letztes die Leiche von Fritz Krapp herübergebracht, und noch während die beiden im Kühlraum waren, legte das Rettungsschiff schon wieder ab. Commander Thaler kam in die Obhut von Dr. Navoni und Dr. Tessan, Clarissa Ravenna und Andrew Shaw bekamen einen Ruheraum, und Captain Zech wurde in Abwesenheit der beiden Kommandanten von Phil Adrian nicht aus den Augen gelassen. Tobias Keyhoff, der Chefnavigator der Zentrale, saß hinter seinen Computern und berechnete gelassen die hochkomplizierte Rekonstruierung des Rück-Korridors.


Professor Navoni, hochgewachsen, braungebrannt, mit angegrautem Haar und einem meist energischen Blitzen in den Augen, lehnte an der chirurgischen Anrichte und steckte die Röntgenbilder wieder weg. „Nein“, sagte er. „Es ist übrigens sogar ein Grenzfall, kann durchaus sein, dass die Herren in Bern ihm eine Operation aufschwatzen werden, aber was Sie natürlich meinten: Akut haben wir nichts. Meinetwegen können Sie noch ein paar Runden drehen.“ Christopher Richter lächelte nicht. „Für heute ist gut.“ Die Kailax landete genau elf Stunden später.


Nachdem die drei unverletzten Berner Crew-Leute in einem der GESA-Gast­häuser übernachtet hatten, sollte am nächsten Tag um 16 Uhr der Flug nach Bern zurückgehen. Es war genau fünf Minuten vor zehn, als Andrew Shaw zum ersten Mal in seinem Leben die Chefetage der Zentrale betrat: Sehr ausgeschlafen und mit einem sehr unsicheren Gefühl im Magen. Was wollte der Commander von ihm? Die weiße Tür war geschlossen und gab sich sehr schweigsam, weshalb Andrew noch einmal auf die Uhr sah und dann klopfte. „Ja.“ Hinter dem Sekretariatsbord stand eine hochgewachsene, streng frisierte Frau und sortierte Briefe. Ein kleines Schild vor dem Computer gab an, dass sie Francine Cornelius hieß. „Guten Morgen.“ Andrew hielt inne, als er Clarissa erkannte, die am Fenster vor einer kleinen Warteecke saß. „Guten Morgen“, antwortete die Sekretärin schon, und Andrew mußte sich wieder umdrehen: „Andrew Shaw. Commander Richter hat mir gestern abend eine Nachricht..“ „Ich weiß Bescheid.“ Ihr Lächeln milderte die Strenge des Gesichts sehr weich. „Leider ist ihm etwas dazwischen-gekommen, wenn Sie sich etwas gedulden, er hat noch einen Termin vor Ihnen...“ „Ich.. sehe schon..“ „Sie können dort Platz nehmen, darf ich Ihnen einen Kaffee bringen?“ „Eh.. ich hatte schon, vielen Dank. Guten Morgen.“ Er war bei Clarissa angekommen. Die Navigatorin hatte die Handflächen ineinandergelegt. „Guten Morgen.“ Die beiden wollten etwas sagen, doch sie taten es nicht. Dann ging die Tür auf, und Christopher Richter kam mit einem sakkobekleideten Grauhaarigen heraus. „Und eine gute Rückfahrt.“ „Vielen Dank. Auch für den kurzfristigen Termin.“ Die beiden gaben sich die Hand, und der Sakkomann verschwand. Christopher Richter sah zu den beiden. „Guten Morgen.“ „Guten Morgen.“ „Guten Morgen.“ Der Commander sah zu Clarissa. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Lieutenant Shaw gerne vorher sprechen, vielleicht ist Frau Cornelius so lieb und macht Ihnen noch einen Tee. Dann haben wir mehr Zeit hinterher.“ Clarissa hatte den Mund etwas geöffnet, doch sie brachte es nicht zu einer Antwort. Der Chefcommander nickte Andrew zu, und dieser kam sofort. Der Händedruck von Christopher Richter war noch derselbe wie bei der Bordverbanderöffnung der Piran: Warm und sanft. „Bitte.“ Er deutete auf den kleinen Basttisch in der rechten Ecke des sonnendurchfluteten Raumes, schloß die Tür hinter Andrew und ging zu dem Faxapparat, der neben dem schwarzen, sauber geordneten Schreibtisch stand. Das gerade angekommene Fax bekam einen kurzen Blick und landete auf einer Ablage. Dann kam der Commander zum Tisch und setzte sich Andrew gegenüber. Der Ingenieur hatte die Unterlagen längst erkannt, die auf der Tischplatte lagen: So schnell konnte also eine Personalakte von Bern nach Berlin gelangen. Oder waren es Ausdrucke? Christopher Richter hatte sich gesetzt. „Sie wollten nichts trinken?“ „Nein. Danke.“ „Wie haben Sie sich erholt?“ „Sehr gut. Wirklich: Sehr gut.“ Andrew spürte, dass er unruhig war und wußte noch immer nicht warum. Wie konnte ihn ein Mann faszinieren, den er kaum kannte? Christopher Richter nahm die Personalakte und öffnete sie. „Was glauben Sie, weshalb ich mit Ihnen sprechen wollte, Lieutenant?“ „Ich.. habe keine Ahnung, Sir.“ Christopher Richter hatte zwei Zettel herausgeholt, die Andrew nur zu gut kannte. „Ich nehme an, Sie kennen diese beiden Zettel.“ „Sehr gut, Sir.“ „Wie lautet Ihre Einschätzung?“ „Meine.. Einschätzung?“ „Haben Sie indirekt gemeutert oder nicht?“ Kurze Stille. Dann sagte Andrew: „Ja. Habe ich.“ Christopher Richter nickte. „Warum?“ Die Frage war Andrew in New York nie gestellt worden. „Weil ich mich geirrt habe.“ „Erzählen Sie mir bitte, was da passiert ist.“ Christopher Richter lehnte sich zurück. Andrew Shaw nickte. Dann sagte er: „Der C-Kadett, den ich zu betreuen hatte, hatte in der Nacht unter Weinkrämpfen und Alpträumen gelitten. Ich habe mit ihm ein langes Gespräch geführt, nur sehr wenig Vertrauen wecken können und danach aufgrund der Schwere des Bildes den Commander informiert. Commander Rice gab mir zu verstehen, dass er den Kadetten von früheren Praktika kenne und er schon in der Vergangenheit mithilfe vorgetäuschter Weinanfälle eine Entlastung von unliebsamen Aufgaben erreicht habe. Der Commander wies mich an, dem Kadetten die geplanten Übungen zu übertragen und diese noch zu verlängern. Ich suchte eine Diskussion, die von Commander Rice verweigert wurde. Daraufhin ging ich zum Kadetten, fand ihn erneut weinend und begann ein wie ich dachte entlastendes Gespräch. Danach war er sehr müde, und da ich der Meinung war, dass er psychisch wirklich gearbeitet hatte und von der Nacht erschöpft war, schickte ich ihn ins Bett. Drei Stunden später warf ihn der Commander aus seiner Kabine, zwang ihn - wieder weinend - vor den Simulator, und fünf Minuten später sah ich einen Kadetten, der völlig Herr seiner selbst und sichtlich sauer war, dass sein Spiel beim Commander nichts gebracht hatte. Nach der Landung wurde ich vom Dienst suspendiert, und Commander Greven stellte mich vor die Wahl eines offiziellen Verfahrens wegen indirekter Meuterei oder einer Versetzung nach Bern. Es gab ein inoffizielles Verfahren, das mit der Zurückstufung endete, und ich kam nach Bern.“ Andrew atmete aus und schwieg. Christopher Richter hatte aufmerksam zugehört. Jetzt sagte er mit einem Ernst, den Andrew niemals erwartet hätte: „Das tut mir leid. Er hat Sie gelinkt. Sie haben Ihr Herz geöffnet und er nicht. Das ist eine schwere Erfahrung. Wie ein Meteoritenschlag. Wie lange betreuen Sie schon?“ Andrew mußte sich von diesen Worten erstmal erholen. „Ich.. ich betreue seit fünf Jahren.“ „Commander Rice betreut seit über 20 Jahren.“ „Ja.“ „Wie schätzen Sie seine Betreuungsfähigkeiten ein?“ „Ich.. absolut untadelig.“ „Lieutenant, ich weiß, dass Sie mich noch nicht kennen, aber verschonen Sie mich mit so einem Wort. Ich bin hier, weil ich Ihre Meinung hören will. Werde ich die bekommen?“ Andrew starrte den Commander an. Dann sagte er: „Sir. Commander Rice betreut Kadetten wie seine Kollegen auch. Strukturiert, disziplinierend und hart: Daher schlecht. Das ist meine Wertung, ich halte Disziplin für absolut notwendig, aber sie ist ein Instrument und mehr nicht. Sie hat keine eigene Kraft aus sich heraus und vermag nicht, einen Sinn zu garantieren. Die Entwicklung von Schiffen und die Entwicklung von Menschen hat für mich eine Ähnlichkeit. Ich gehe ja auch nicht hin und belaste ein Schiff einfach. Ich gehe in einen Prozeß mit diesem Schiff, und es wird im Laufe von Belastungen angepaßt und verändert. Ich muss doch einen Zugang dazu haben, was ein Schiff kann. Und wo seine Grenzen sind. Und wie ich es weiterentwickeln kann. Schiffe sind wenn sie fertig konstruiert sind doch etwas ganz Anderes als sie zu Beginn sind, aber warum? Doch nicht, weil ich sie einfach belastet habe. Auch Menschen können sich aus sich heraus entwickeln und ein Potenzial entfalten. Aber das heißt nicht, dass sie dies einfach tun, wenn man sie belastet. Da gehört doch mehr dazu. Was ist dies? Es ist nicht leicht in Worte zu fassen. Vielleicht würde ich mir wünschen, dass ich es selbst besser verstehe: Vielleicht hätte ich mich dann besser erklären können.“ Andrew spürte, wie er plötzlich wieder zu sich fand: Aus der wochenlangen Verfahrens- und Bern-Apathie war eine ruhige Entschiedenheit geworden. „Ein Kadett, der mir sagt, er habe furchtbare Angst, bekommt bei mir ein Gespräch und nicht ein Simulatortraining. Und das werde ich immer so halten. Ich habe jetzt gelernt: Kadetten können auch lügen. Das ändert nichts an meinem Angebot: Meine Kadetten können zu mir kommen und mir ein Zeichen geben, dass sie Hilfe brauchen. Und Sie haben Recht, ich habe mein Herz geöffnet. Ich sehe jetzt, dass ich dieses Wort in der GESA noch niemals gehört habe. Obwohl es mir eigentlich vertraut ist. Ich glaube, ich habe nicht gewagt, mich so zu erklären. Oder ich habe es selbst nicht verstanden. Hat dieser Kadett mich verletzt? Ja. Aber er hat dabei die Erfahrung gemacht, dass auf ein Hilfesignal geantwortet wird – selbst dann, wenn das Signal gespielt ist. Dass da jemand ist, der ihn ernst nimmt. Da kann er im Moment vielleicht darüber lachen. Aber wenn er weiter bei der GESA fliegt, dann wird der Zeitpunkt kommen, an dem er wirklich Angst bekommt. Und dann wird er sich daran erinnern, dass jemand, der erfahrener war, diese Angst nicht verurteilt hat. Ich glaube nicht, dass er das vergessen wird. Vielleicht ist hier gar nichts Schlechtes passiert. Wer bin ich, das zu beurteilen.“ Stille. Christopher Richter sah den schottischen Ingenieur an und sagte nichts. Andrew spürte, wie ruhig er geworden war: Woher kam plötzlich diese Ruhe? Irgend etwas mußte sie mit dem Mann zu tun haben, der vor ihm saß. Irgend etwas. Christopher Richter nickte und sah wieder in Andrews Akte. Dann sagte er: „Ich habe zu dem, was Sie gesagt haben, eine sehr klare Meinung. Diese Meinung steht im Moment nicht im Mittelpunkt, obwohl ich hoffe, dass wir Zeit und Muße finden werden, sie auszutauschen. Ich möchte gerne, dass Sie sich nicht von Bestätigung beeinflussen lassen oder von Kritik. Das ist das, was die letzten Monate geschehen ist. Sie haben versucht, Ihren Standpunkt zu finden. Und jetzt stehen Sie. Sie haben eine Entscheidung getroffen. Das ist das, was ich auch tun muß. Es tut mir leid, dass die GESA Sie gekränkt hat. Unabhängig davon, wie man juristisch oder moralisch zu Ihrem Vorgehen steht, ist die disziplinarrechtliche Folge überzogen und unverhältnismäßig. Ihre Qualifikation und Ihr Karriereweg sprechen eine deutliche Sprache. Vor dieser Entscheidung hätten die Träger dieser Entscheidung die Stille suchen müssen und nicht die schnelle Reaktion. Eine Stille, in der die Sprache Ihrer Leistungen und Ihrer Absichten zunächst sprechen darf. Ich möchte mich daher bei Ihnen für das entschuldigen, was das Kommandoriat der GESA Ihnen zugefügt hat in den letzten Monaten an Härte und an Demütigung. Ich hoffe, dass Sie sich dadurch nicht entmutigen lassen so zu fühlen wie Sie es tun. Und der zu sein, der Sie sind. Mögen Sie Berlin?“ „B..itte?“ Christopher Richter nahm ein Formular, das unter der Personalakte gelegen hatte. Andrew traute seinen Augen nicht: Es war gelb. „Die Zurückstufung auf intravenerische Flugziele wird natürlich aufgehoben“, erklärte Christopher Richter und unterschrieb das Formular. „Das ist das Eine. Sie können sich eine Stelle aussuchen, an der Sie gerne arbeiten möchten, ich gehe nicht davon aus, dass Sie nach Bern oder New York zurückwollen, aber vielleicht irre ich mich ja. Ich würde mich freuen, wenn Sie nach Berlin kämen. Ich brauche einen Sektionsleiter. Sie wären meine erste Wahl.“ Andrew bekam den Durchschlag des Formulars hingehalten. „Zwei Wochen Bedenkzeit. Da unten steht meine Durchwahl.“ Andrew starrte Christopher Richter sprachlos an.


„Bitte.“ Christopher Richter deutete auf den Baststuhl. Wie automatisch setzte Clarissa sich. Christopher Richter griff zum Tablett. „Tee?“ „Ich.. nein, danke.“ Der Commander nahm die Kanne und goß sich seine Tasse voll. Auch Clarissa hatte ihre Personalakte bereits erkannt, die auf dem Tisch lag. Noch war sie geschlossen. Oder schon wieder. Christopher Richter lehnte sich zurück. „Wie haben Sie sich erholt?“ Die Mauer aus Verschlossenheit stand schon wieder. „Ich.. habe gut geschlafen.“ „Es war nicht Ihre erste Raumnot.“ „Nein.“ „Ich möchte Ihnen gerne eines zu Beginn sagen, damit Sie es auf keinen Fall vergessen. Sie haben sich dort oben sehr gut verhalten, sehr konzentriert, sehr geerdet, sehr kraftvoll gearbeitet und in einem bewundernswerten Maß den Kontakt zu sich selbst und Ihren Fähigkeiten gehalten. Es ist nicht gekommen, wie wir befürchtet hatten, aber als ich die Frontdurchquerung plante, meine eigenen Ressourcen und Kräfte abschätzte, da war ich sehr froh, Sie im Navigationsstand zu haben, denn Sie hätten mir helfen müssen und Sie hätten mir geholfen. Dafür möchte ich Ihnen danken.“ Stille. Die Worte schienen Clarissa nicht zu erreichen: Sie kannte sie nicht. Commander sprachen nicht so. Christopher Richter fuhr fort: „Ich merke, dass Sie auf Kommandanten reagieren. Sie scheinen durch schwere Erfahrungen gegangen zu sein. Ich weiß nicht, welche. Aber Sie wollen es mir im Moment nicht erzählen, oder?“ Stille. Clarissa saß wie ein Eisblock. „Nein.“ Christopher Richter nickte. Dann sagte er leise: „Vielleicht später.“ Wieder Stille. Clarissa Ravenna saß reglos. Christopher Richter nahm ein Formular und einen Stift: „Wir hatten eine T4-Raumnot, in der Sie eine überdurchschnittliche Leistung gezeigt haben. Sie bekommen Ihren Lieutenant, wobei ich sicher bin, dass dies schon eher hätte geschehen müssen. Die Männer, mit denen Sie gestern geflogen sind wissen das ebenfalls. Captain Adrian weigert sich, Sie Kadettin zu nennen. Er tuts einfach nicht.“ Jetzt lächelte Clarissa ganz kurz. Sie nahm das Formular entgegen. „Vielen Dank, Sir.“ Christopher Richter fuhr fort: „Ich möchte Sie einladen, nach Berlin zu wechseln.“ Stille. Clarissa wurde schon wieder reglos. Christopher Richter sagte: „Ich würde mich freuen, Sie näher kennenzulernen. Ich habe Ihre Akte versucht zu verstehen. Versucht herauszufinden, welche Erfahrungen Sie gemacht haben. Ich habe einige Befürchtungen. Ich kann hier aus diesem Raum, in dem ich noch nicht lange arbeite, nicht Wege von Menschen grundsätzlich verändern oder Verantwortung für Dinge übernehmen, die mir nicht zustehen. Mein Beitrag ist vielleicht klein, dennoch gibt es ihn. Aber wenn Sie sich von einem Kommandanten schlecht behandelt fühlen: Dann biete ich Ihnen an, dass Sie zu mir kommen können wenn Sie möchten. Dass ich Sie aufmerksam anhören und sehr, sehr ernst nehmen werde, was Sie sagen.“ Stille. Clarissa Ravenna sagte: „Ich werde darüber nachdenken.“



Genau zehn Jahre und drei Stunden später saßen Andrew und Clarissa in Andrews Büro und zogen die Feier ihrer beiden Jubiläen auf eigene Weise vor: Bei zwei Gläsern Sekt und einer sehr erinnerungsschwangeren Stunde. Das Klopfen an der Tür unterbrach den ersten Schluck. David Conradi kam herein und erklärte: „Ich wußte es. Dafür habe ich einen eingebauten Sensor, wenn jemand Sekt trinkt und mir nicht Bescheid sagt..“ Andrew grinste und griff zum Schrank, um noch ein Glas zu holen. „Aber deshalb haben wir dir doch nicht Bescheid gesagt: Weil du einen Sensor hast.“ Der Sektionsleiter Kommunikation, Funk und Radartechnik nahm das gefüllte Glas und grinste. „Thanks. Feiern wir was Bestimmtes? Oder schon heute abend?“ „Sozusagen.“ Clarissa lächelte. „Wir feiern Andrews Miene, mit der er mich vor dem Büro des Commanders damals fast umgerannt hat.“ „Aus Quellen mit gutem Gedächtnis“, schob Andrew ein, „haben wir aber Vergleichswerte. Was die Miene angeht, mit der jemand dreißig Minuten später Richters Büro verlassen hat.“ „Francine“, erklärte die Chefnavigatorin, „ist auf meiner Seite und hat jeglichen Aussage widerrufen.“ „Prost.“ David hob sein Glas, trank einen Schluck und lächelte. „Wie hieß das damals?“ „Es hieß Piran.“ „In Bern.“ Er setzte sich, und Clarissa nickte schwer. „Ja. Piran...“ „Und ein Toter.“ Andrew nickte und sah aus dem Fenster. „Ein so bitter überflüssiger Toter. Richter hätte ihn da rausgeholt. Auch, wenn sie uns nicht abgeborgen hätten, er hätte uns alle da rausgeholt.“ „Stattdessen“, meinte Clarissa, „hat er uns alle reingeholt. In sein Boot..“ Sie stand auf und ging zum Fenster. Als sie sich umdrehte, blickte sie sehr ernst. In ihren Augen schimmerte Schmerz. „Es war gar nicht dieser Anfang. Es war dann später nochmal eine.. Szene. Da ist es hochgekocht. Er hat alles abbekommen. Und diesen Abend.. habe ich glaube ich lange verdrängt. Auch später noch. Vielleicht auch heute noch. Er hat ganz ruhig gestanden.. und sich alles angehört. Ich wünschte, er hätte mich gestoppt. Aber das hat er nicht.“ Sie lehnte sich an das Bord. „Erst an diesem Abend habe ich wirklich begriffen, dass man als Opfer auch zum Täter werden kann.“ Stille. Es klopfte, und die Tür öffnete sich halb: Christopher Richter hatte hereinkommen wollen, dann aber wieder auf den Gang zurückgeguckt. Von hinten war Phil Adrian zu hören. „Und dann oben.“ „Wir gehen gleich zusammen“, sagte der Commander und guckte in den Raum. „Mahlzeit. Das sind doch Eiweißkonzentrate in Magnesiumlösung, die Sie da zu sich nehmen? Captain, bleiben Sie, wo Sie sind, für uns beide ist nicht mehr genug da.“ „Es ist so“, meinte der herankommende Phil in die aufgrinsende Menge, „David hat einen eingebauten Sektsensor, und ich habe einen eingebauten Davidsensor.“ Andrew sorgte bereits für Nachschubgläser: „Eigentlich haben wir gerade Privat-Fete für dumme Gesichtsausdrücke nach Gesprächen hinter weißen Türen.“ „Kommt, kommt.“ Phil nahm ein Glas entgegen. „Wenn es nach dummen Gesichtsausdrücken geht, müßtet ihr viel öfter Sekt ausgeben. Aber es sei euch verziehen, bitte ganz voll, mein Lieber...“ Das allgemeine Kichern war leise und tanistypisch gleichzeitig. Clarissa nahm wieder ihr Glas, sah zu Christopher Richter und drohte: „Wenn mich hier nicht bald jemand vom Nachdenken ablenkt, werde ich heute abend eine Rede halten, in der Sie vorkommen.“ „Lieutenant“, sagte Christopher Richter mit ruhigem Lächeln und nahm das Glas entgegen, „da könnte Ihnen ein ähnliches Schicksal bevorstehen.“ Clarissa sah Christopher Richter ruhig an. Warm und dankbar. Und noch immer mit einem Schimmer von Schmerz. „Ich möche Ihnen danken, dass ich bleiben durfte.“ Christopher Richter stand ebenfalls ruhig. „Ich danke Ihnen, dass Sie geblieben sind.“ Clarissa sagte ruhig: „Mir ist vorhin klar geworden, dass ich mich niemals.. richtig entschuldigt habe. Für den Abend in der Schleuse. Das tut mir sehr leid. Vielleicht wäre es auch etwas für.. eine Rede. Aber vielleicht bin ich dafür auch zu feige. Verzeihen Sie mir das, was ich gesagt habe. Und wie ich es gesagt habe.“ Stille. Christopher Richter antwortete ruhig: „Ich konnte Ihre Gefühle sehr gut verstehen.“ „Sie haben etwas abbekommen, was nichts mit Ihnen zu tun hatte.“ „Sie auch.“

 
 
 

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