Buch-Leseprobe Teil 8: Naraita - Geschichten aus der Todai. Ein modernes Märchen.
- Petra Schrader
- 16. Jan. 2023
- 47 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Jan. 2023

Abeia war zum ersten Mal auf der Weißetage. Das Büro des Shijo lag in einem sehr ruhigen Flur. Zwei Tage in Naraita hatten sie noch nicht gelöst aus dem tiefen Eindruck des Staunens. Des intensiven Sehens. Immer, wenn sie irgendwo eintrat, verband sich das Bild mit allen anderen Sinnen – mit Fühlen. Mit Gerüchen. Mit Geräuschen. Mit Eindrücken, die neu für sie waren, weil sie fremd waren und weil sie so viel intensiver und wunderschöner waren als die Bilder, die sie aus Deutschland kannte. Feingemasertes Holz. Stein. Ein weicher und gleichzeitig fester Teppich. Ein großer Schreibtisch, der elegant und überhaupt nicht wuchtig wirkte. Eine wunderschöne Sitzecke. Erst nach einigen Momenten sah Abeia, dass an einem Tisch an der Wand kleine Terrarien standen. Schlangen. Käfer. Blätter. Sie wunderte sich nicht mehr. Weil sie sich dauernd wunderte. Himei Noja ließ ihr Zeit. Trat von der anderen Seite an seinen Schreibtisch und sah kurz auf einen Monitor. Dann kam er zur Sitzecke. „Setzen Sie sich.“ Jano trat in die offene Tür und ging in einen Gruß. Abeia hob den Blick und lächelte erleichtert. Jano kam zu ihr. „Ist hier noch Platz?“ Himei Noja telefonierte. Abeia dämpfte die Stimme: „Ich lerne jetzt alles.“ „Sag Bescheid, wenn du fertig bist.“ Abeia war irgendwie froh, dass Jano jetzt neben ihr stand. Sie hatte nicht genau gewußt, ob sie sich setzen durfte. Zwar hatte Himei Noja es gesagt. Aber sie hatte es bei anderen anders beobachtet. Jano stand noch, also blieb sie auch stehen. Himei Noja legte sein Handy weg und kam zum Tisch. „Ekiraede.“ Er setzte sich, Jano folgte ihm und Abeia folgte Jano. Sah wieder am Terrarium wie vorbei. Die steinerne Maserung der Wand wirkte tiefer. Schiefergrau mit wie an Marmor erinnernden weißen Einschlüssen. Die Oberfläche war wie ein Relief. Feingezeichnet. Himei Noja sah zu Abeia und nahm sie wahr. Wie immer klang sein Amai sanft und gleichzeitig klar. „Jetzt haben Sie länger geschlafen.“ Abeia nickte: „Die Zeitverschiebung ist.. jetzt nicht mehr so schwierig.“ Himei Noja nickte: „Das Klima und die intensive Verarbeitung auf der einen Seite brauchen einen guten Ausgleich auf der anderen Seite, durch ein gutes Essen und Schlaf.“ Abeia mußte fast strahlen: „Der Salat mit den Nüssen ist.. unglaublich. Den esse ich den ganzen Tag.“ Himei Noja nickte lächelnd: „Ich freue mich, wenn er Ihnen guttut.“ Kurz hatte Abeia das Gefühl, dass Himei Noja den Salat selbst zubereitet hatte. Was ja nicht möglich war. Dann fiel ihr die Suppe in der Botschaft ein, die Aryan Noja zusammengestellt hatte. Der Denei nahm eine Mappe und legte sie auf den Tisch der Sitzecke. „Sie sind jetzt ein bißchen angekommen. Fünf Tage, in denen wir Sie eng begleitet haben. Ich denke, Sie sollten jetzt von dieser Aufnahme und Verarbeitung etwas zur Ruhe kommen. Ihren eigenen Rhythmus finden. Das bedeutet, dass wir Sie ein bißchen mehr alleine lassen werden zwischendurch. Jedenfalls mehr als bisher. Und deshalb bekommen Sie jetzt das, was in Naraita jeder Ayesha und jeder Tesa nach seiner Ankunft bekommt, einen erayeto asanda, einen Einführungskurs. Ayesha müssen innerhalb von einer Woche nach ihrer Einbürgerung diesen Kurs nachweisen, es gibt offizielles Lehrmaterial dafür, Filme und Texte, die bekommen Sie jetzt ganz genauso wie jeder andere auch. Es handelt sich in Ihrem Fall formal um ein Gespräch innerhalb der Shijoa, denn die Shijoa begleitet adlige Ränge juristisch und achtet darauf, dass grundlegende Regeln und Gebote respektiert und eingehalten werden. Es handelt sich dabei nicht nur um ethische, also strafrechtliche Grundsätze, die in unserem Herzen verankert sein sollten und umso weniger einer Erklärung bedürfen, je genährter wir seelisch sind. Sondern auch um Regeln, die sich aus der Beschaffenheit unseres Landes ergeben und auf diese Weise Sie und andere schützen. Diese Regeln müssen Sie erklärt bekommen. Nach diesem Kurs tritt die Shijoa formal wieder zurück: Die Abteilung, die Sie im Alltag begleitet und Abläufe für Sie entwickelt sind die Keayake. Deshalb kommt Aryan gleich zu unserem Gespräch dazu.“ Abeia sah nicht aus dem Fenster. Sie war nicht unkonzentriert. Der Blick irrte nicht ab. Und doch wirkte er: Intensive Farben. Die Sonne tauchte den Park vor dem Fenster in Farben, die es in Deutschland nicht gab. Sie spürte eine tiefe Freude. Was für ein Geschenk, hier sein zu dürfen. Wie lange war es her, dass Sie Angst vor diesem Land gehabt hatte? Himei Noja hatte etwas gesagt, und Abeia ertappte sich dabei, dass sie doch abgeirrt war. Weil die Gefühle noch immer zu intensiv waren. Jemand war in die Tür getreten. Aryan Noja trug eine schwere Shizona-Tracht. Und dann sah Abeia Aryan Noja zum ersten Mal in einen tiefen Gruß gehen. Weich und routiniert. Fast wie unauffällig. Und doch zentriert. Jano stand auf, und Abeia folgte ihm sofort. „Ekarita.“ Himei Noja wies Aryan zur Sitzecke. Aryan schloß die Tür hinter sich: „Ekai. Guten Morgen, Frau Richter.“ „Aneadisse anadete ewenai.“ Nur Kopf senken. Nicht grüßen. Stehenbleiben. Aryan Nojas Miene war ruhig wie immer. Abeia spürte nicht, wie er sie wahrnahm: Der Blick war zu unaufdringlich. Freundlich. Warm. Eigentlich hatte sich Aryan Noja überhaupt nicht verändert, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. In der kerzenwarmen Kapelle in Berlin. Der Denei setzte sich, und wieder folgte Abeia Janos Tempo. Himei Noja hatte angefangen, die Papiere auszufüllen. Fasziniert sah Abeia, wie weich, präzise und elegant er die Amai-Schriftzeichen mit der Hand schrieb. (Olae) Dann sagte der Netoya-Denei: „Ich versuche jetzt, Ihnen etwas über unser Land und die Regeln unseres Alltags zu erzählen, um Ihnen ein Bild zu zeichnen. Gleichzeitig arbeite ich die Punkte ein, die notwendigerweise zu einer Einführung gehören und für die auch dokumentiert werden muß, dass Sie sie erklärt bekommem haben. Sie bekommen einen Überblick über die wichtigsten Punkte noch mal in Schriftform, um sie in Ruhe nachbereiten zu können. Wir möchten, dass Sie sie hören, wie auch alle Ayesha und Tesa sie hören, damit Sie sich hineinfühlen können in die normale Näherung an unser Land. Diese Einführung erfolgt in Englisch oder wenn möglich in der Muttersprache des Eingebürgerten, wobei die wichtigsten Begriffe in Amai übersetzt werden müssen. Ein Privileg dieser beiden Etagen hier ist, dass man leicht Ekya-Ränge treffen kann, die über wohl die exzellentesten Fremdsprachenkenntnisse der Heze verfügen, und so hat Meyota Yamatai mir gerade noch einige spezielle Begriffe ins Deutsche übersetzt. Er hat auch angeboten, dazuzukommen, falls Sie im Gespräch merken, dass in Amai für Sie nicht alles verständlich ist. Sie bekommen im Anschluß auch hier alle Punkte in gedruckter Form auf Deutsch. Ein Einbürgerungsverfahren in Naraita beginnt immer und sogar auch in Ihrem Fall mit avai aze – der Bitte um Aufnahme. Eine solche Bitte wird bei Tesa vom zukünftigen Ehepartner eingereicht und bei Ayesha vom nächsten Verwandten. Vorgetragen wird sie einem afiyeto, im Deutschen wie Meyota sagte am ehesten ein „Standesbeamter“ - oder im Fall einer adligen Aufnahme dem Familienführer. Wird diese Bitte zunächst gewährt, bekommt der Ankommende ein Bleiberecht, das noch kein Bürgerrecht ist. Zwischen der Bitte um Einbürgerung und der Gewährung eines vollen Bürgerrechts liegen meistens fünf bis zehn Jahre. Daneben gibt es einen weiteren, seltener genutzten Weg der Aufnahme. Für diesen Sonderweg benötigt man die Unterstützung einer Zirae.“ Abeia setzte sich auf. Dann atmete sie aus und sagte: „Ich.. es tut mir leid. Ich habe.. schon mehrere Male fragen wollen, weil ich glaube ich.. nicht verstanden habe, was das ist.“ Sie errötete. „Ich glaube, mein Onkel hat mir das am Anfang erklärt, aber.. ich habe es irgendwie... es tut mir leid.“ Himei Noja sagte sehr ruhig: „Das ist nicht schlimm. Der Begriff Zirae kann mit Patenschaft oder Bürgschaft übersetzt werden. Sie ist ein Zeichen dafür, dass hier Naraita in besonderer Weise von sich aus auf den neu Ankommenden zugeht und ausdrückt: Wir glauben, dass du hierhin gehörst. Wir glauben, dass wir diies schon erkannt haben und es nicht in einer solch bewusst langen Zeit der Einbürgerungsnäherung erst herausfinden möchten. Die Zirae sind die Menschen, die diese Einschätzung zum Ausdruck bringen. Es müssen drei Personen sein, die aus jeweils unterschiedlichen Kernfamilien stammen und nicht mit dem Antragssteller verwandt sind. Das ist normalerweise eine sehr hohe Hürde, denn eine Zirae ist nicht nur der Ausdruck einer Einschätzung, sondern es ist das Geschenk einer besonderen Beziehung und auch Verantwortung. Zirae müssen gegenüber der einbürgenden Stelle sicherstellen, dass der vorzeitig Eingebürgerte verläßlich und schnell an Sprache und Staatskunde von Naraita herangeführt wird. Sie sind ebenfalls zuständig für den Fall, dass der Ayesha in seiner Einbürgerungszeit Probleme bekommt oder in Konflikt mit dem Gesetz gerät, müssen ihn finanziell versorgen, falls dies notwendig wird und spürbar für ihn eintreten. Adlige Ayesha gibt es nun sehr selten, aber sie sind keineswegs die Erste, und auch der Zirae-Weg für einen adligen Rang ist genau vorgeschrieben. Hier gelten nochmal erheblich höhere Anforderungen. Zwar gilt in unserem Land, dass eine Person adliger Abstammung immer zugehörig ist und es daher keiner zusätzlichen Einschätzung bedarf. Gerade dann aber glauben wir, dass die Rückkehr und eine Anbindung hier, das Finden eines Platzes mit einem solchen Weg Zeit braucht und innerlich wie äußerlich organisch wachsen muss. Eine Zirae kann diesen Weg verkürzen, weil sie Aufgaben, aber auch Verantwortlichkeiten übernimmt und für den Neuankommenden einsteht, spricht und vor die Anderen tritt. Für eine adlige Zirae muss man ein Yea-Signum und ein Yadai-Signum gewinnen. Das Yadai-Signum ist ein zentrales Entwicklungssignum, also das Signum eines Lehrers. Seinem Träger erlaubt er das eigenverantwortliche Anlegen von Erziehungs- und Ausbildungslinien und ermöglicht ihm Interventionen, die eine Differenzierung der Persönlichkeit fördern sollen, zu der auch die Unterstützung von Identitäts- und Selbstwertentwicklung gehören. Das Yea-Signum ist das Zeichen eines Familienführers, und damit ist in diesem Falle nicht der der eigenen Familie gemeint.“ Himei Noja legte vor Abeia eine große und sehr kostbar wirkende Urkunde. „Sie sind bereits vielfach eingebunden in Beziehungen und viele Kräfte schauen, was Sie brauchen, deshalb tritt die Rolle der Zirae im Alltag in den HIntergrund. Dennoch gibt es sie, und sie spielen eine wichtige Rolle. Es sind Ränge, die einen besonderen Blick darauf haben, wie es Ihnen geht und wie Sie sich Naraita nähern - schon die ganze Zeit, nicht erst in den letzten drei Tagen.“ Abeia sah staunend auf die Unterschriften der Zirae-Uurkunde. Himei Noja erklärte ruhig: „Ihre Ziraeränge sind Nateo Yamatai, Keyo Adena Adjadan und Ande.“ Abeia vor Überraschung wie reglos. Himei Noja erklärte weiter: „Alle drei haben unterschiedliche Rollen gespielt in Ihrer Näherung an Naraita und auch unterschiedliche Kompetenzen eingebracht. Agie aya asai zirae nedeya: Die Zirae legt Licht an die Lampen, die den Weg zurück erhellen.“ Abeia mußte schlucken. Wann hatte sie irgendwann schlucken müssen? Ein Gefühl tiefer Bewegung. So viel Unbekanntes. So viel Geheimnisvolles. Wie sollte sie sich dafür bedanken. Wie sollte sie es ausdrücken. Und wie wunderbar fand alles zusammen. Keyo Adena, der die ersten, schweren Wochen mit ihr am See spazierengegangen war – jeden Abend wieder. Ande Noja, der sie in Naraita begrüßt hatte: Mit einer Natürlichkeit, Leichtigkeit und Unaufgeregtheit, die ihr diesen ersten, angstbesetzten Kontakt bei den Noja plötzlich möglich gemacht hatte. Mittlerweile hatte Abeia begriffen, dass sie anders zu den Noja gegangen wäre, wenn sie nicht vorher Ande Noja getroffen hätte. Wenn dieser sie nicht begleitet hätte die ersten Stunden und Tage. So wunderbar der erste Tag mit Aryan Noja und Jinai gewesen war: Aber ihre Näherung an die Residenz der Noja hatte nicht Jinai möglich gemacht, sondern Ande Noja. Abeia sah, dass ein Glas mit Wasser vor ihr stand. Sie hatte es vorher gar nicht gesehen. Aber jetzt war sie froh. Sie trank einen Schluck. Dann sagte sie: „Der Odoya.. ist ein Zirae-Rang?“ Sie brachte das „für mich“ nicht über die Lippen. „Ich... ich kenne ihn noch gar nicht.“ Himei Noja lächelte und sagte: „Er hat einige Dinge im Hintergrund gewirkt. Dinge, die nicht so direkt erlebbar für Sie werden. Aber wenn Nateo eine solche Patenschaft übernimmt, dann macht er keine halben Sachen. Sie werden den Segen seiner Kraft spüren. Und vielleicht erst viel später verstehen.“ Erst, als Jano sanft Hand auf ihren Arm legte, spürte Abeia, dass sie Tränen in den Augen hatte. Sie preßte: „Es tut mir leid, dass ich.. dass ich das nicht verstanden habe. Das tut mir sehr leid. Ich..“ Himei Noja deutete ein Kopfschütteln an: „Die Begriffe spielen erstmal keine Rolle. Und natürlich stehen Ihnen auch andere Menschen zur Seite, nicht nur die Zirae. Sie haben die Begleitung vieler Ränge gespürt und auch angenommen.“ Wieder Tränen in den Augen. „Ja.“ Abeia preßte noch immer mit tränenverschleiertem Blick: „Das.. hat sehr geholfen. So.. sehr.“ Wie sollte sie sich bedanken. Wie dafür Worte finden. Himei Noja sprach schon weiter: „Nach erfolgter Einbürgerung besitzt der Eingebürgerte dieselben Rechte und Pflichten wie jeder andere Naraita. Auch die Dienstwege sind dann dieselben. Das heißt, Sie müssen jetzt genau wissen, an wen Sie sich mit welchen Anliegen wenden können. Für Sie gibt es vier offizielle Stellen, die in unterschiedlicher Weise sich Ihnen zuwenden können: Ihre Familienführung, die Keayake, die Azaye und die Shijoa. Sowohl bei den Keayake und als auch in der Azaye werden Sie eine eigene Einführung bekommen, in denen sich Ihnen die Führränge vorstellen werden und in denen man Abläufe besprechen wird. Die Beziehung zu einem Azaye ist hochintim und steht unter Schweigepflicht. Auch die Shijoa darf einen Azaye nicht zu einer Aussage verpflichten. Die meisten Hochajani werden in der Azaye von Haikuye Ryozan und Aryan gemeinsam behandelt. Das heißt, dass die beiden sich in den Bereitschaften und Zuständigkeiten abwechseln und im Akutfall aber oft zusammenarbeiten. Sie können diese Azaye ebenfalls so annehmen, Sie können auch nur einen der beiden wählen oder jemand ganz anderen. Im Falle der Hochajani gibt es zwei Besonderheiten, die Aryan betreffen. Zunächst wird die Behandlung durch einen Arzt als schutzwürdiger Akt gesehen. Das bedeutet, dass strenggenommen die Keayake innerhalb der Schutzbitte Ihrer Familie jedes Mal informiert werden müssen, wenn Sie einen Arzt aufsuchen. Vereinfachend und die Intimität wahrend halten wir es so, dass der Keto der Keayake einen ständigen Azaye-Rang autorisiert. Sie können also einen Rang auswählen und dann mit Aryan absprechen, ob dieser Rang in seinen Augen ausreichend qualifiziert und in der Lage ist, eine Azaye anzunehmen. Es ist wichtig, dass Sie einen medizinischen Schutzraum erleben, gerade, wenn Sie sich der Edoa langsam nähern und einen Platz finden müssen. Allerdings wird Aryan einen Arzt, der Sie behandeln möchte, unter Sondierungspflicht stellen. Wenn Sie also zum Beispiel Yoshia Manae bitten möchten, Sie zu beraten, und ich nehme an, dass Aryan fachlich da keine Bedenken hat, dann muß Yoshia Manae das für sich in aller Ruhe selbst entscheiden und darf dies auch ablehnen, da er nicht wie viele andere Ränge in unserer unmittelbaren Umgebung vertraut ist mit Sondierungen der Shijoa. Eine weitere Einschränkung, die man vorher erklären muß, besteht dann, wenn Aryan die Azaye selbst übernimmt. Als Shijoa-Rang unterliegt er einer Garantenpflicht, auch diesen Begriff habe ich von Meyota auf Deutsch erbeten, unser Begriff lautet „aheye“, das heißt, er muß handeln, wenn er von einer Straftat oder dem Verdacht einer Straftat erfährt, sobald diese Straftat von der Shijoa verfolgt würde. Die Shijoa ist eine von der Verfassung eingesetzte Kraft zur Sicherung adliger Kraft. Die Shijoa muss auf Gesetzesverstöße reagieren, die mit einem adligen Rang in Verbindung stehen: Als Täter oder als Opfer. Das heißt, als Patient kann man in der Azaye eines Shijoa-Rangs vier Fälle erleben, in denen sogar auch gegen den eigenen Willen des Patienten ein Ermittlungsverfahren eröffnet werden muß: Wenn der Patient in Verdacht steht, ein adliger Täter zu sein. Oder ein adliges Opfer. Oder wenn er selbst nicht adlig ist, aber möglicherweise Opfer eines adligen Täters oder Täter gegen ein adliges Opfer wurde. In genau diesen vier Fällen muß Aryan in seiner Azaye eine Untersuchung der Shijoa anstoßen und dieser auch assistieren. Das häufigste Shijoa-Vergehen junger hoher Ränge ist Alkoholkonsum. Wenn Sie sich betrinken und danach Aryans Rat im Rahmen einer Azaye erbitten würden, müßte er Sie also innerhalb der Shijoa reflektieren lassen. Es gibt Ärzte und auch Patienten, die dies nicht vereinbar sehen. Wir denken, dass eine gut geführte Shijoa dazu kein Widerspruch ist. Eine klar geerdete Shijoa greift niemals den Wert, das Geliebtsein und das So-Sein eines Menschen an, sondern möchte in dem ihm zugemessenen Lernprozess helfen, ihm aber auch Grenzen aufzeigen und Wirkungen spiegeln. Gute Shijoa-Ränge sind immer Ränge, die selbst tiefe Erfahrungen mit dieser Art der Begrenzung und Hilfe gemacht haben. Wenn Sie die Azaye Ihrer Familie übernehmen wollen und dennoch irgendwann in Sorge geraten, ob Sie sich mit einem Thema, das Ihnen schwer fällt, an Aryan wenden können, können Sie jederzeit Haikuye fragen und ihm vorab erklären, was Sie Aryan sagen möchten. Sollte es bereits unter die Garantenpflicht fallen, wird Haikuye Ihnen das erklären, Ihnen auch helfen damit, ohne in diesem Fall die Information mit Aryan teilen zu müssen, wenn Sie dies nicht möchten. Das ist nur ein Grund der sehr guten und bewährten Kombinationsazaye, die die beiden führen. Sie sehen, dass eine Azaye eine Beziehung ist, die in ihrer Intimität die Art unseres Zusammenlebens widerspiegelt. Wir sind häufig damit sehr vertraut, Nähe und Führung gleichzeitig zuzulassen, besonders in unserer sehr nahen Familie und auch in den weißen Hochabteilungen, in denen viele Shijoa-Signen zusammenkommen. Dennoch muß jeder Rang das bewußt für sich so entscheiden, denn wenn man zum Patienten wird, hat man oft ein noch größeres Bedürfnis an Behutsamkeit und Geborgenheit als ohnehin schon. Wenn Sie einen Azaye gewählt haben, können Sie diesen bei Bedarf auch anrufen, ohne jede andere Abteilung zu informieren, Sie bekommen für den Fall eine besondere Telefonnummer. Die zweite Kontaktmöglichkeit sind die Keayake. Auch hier wird es eine Einführung geben innerhalb der nächsten Tage. Bei dieser Einführung werden Aryan und Naiu Ihnen die Führränge der Keayake persönlich vorstellen, zum Teil kennen Sie diese bereits, aber wir möchten Sie in dieser Abteilung einmal geschlossen begrüßen und auch hier spricht man von der Gründung eines Kontaktraums. Es ist wichtig, dass Sie besonders die Zyra, also die operativen Dienstleiter, mit der Zeit gut kennenlernen und sich auch trauen, zu Ihnen zu gehen, sie ansprechen zu können. Natürlich stehen Sie längst in einem Schutzdesign, aber dieses wird in der Einführung dann angepaßt, offiziell eröffnet, einige Improvisationen und Besonderheiten können wegfallen, und die Kollegen werden Ihnen die offiziellen Abläufe erklären. Ein Rang Ihrer Familie wird Sie dabei begleiten. Die dritte Kontaktmöglichkeit ist die innerhalb Ihrer eigenen Familie, und da gibt es den offiziellen Kontakt zu Ihrem Familienführer. Die Atmosphäre und der Umgang unter den Hochjani ist entspannt und intim. Dennoch gibt es offizielle Wege, die in einer Einführung vorgestellt werden sollten. Wenn Sie ein Anliegen haben, müssen Sie den Sheya um einen Audienztermin bitten. Audienztermine darf man ab einem Alter von 16 Jahren selbst erbeten. Sie bitten dazu die Keayake, Sie hier in die Weißetage zu bringen, dann werden Sie geschleust, gehen auf die untere Ebene, die sogenannte avai und bitten den diensthabenden Leitenden Zyra der Ekya um einen Termin. Dabei werden drei Ausdrücke unterschieden, die auch in Ihrer Mappe stehen: Ewia ist der Termin, der ganz normal erbeten wird, uzeya ist ein Termin in möglichst kurzer Zeit, das bedeutet dann meistens noch am selben Tag oder sobald der Sheya zurück ist, wobei dieser selten reist. Und aze ist der Ausdruck für einen „Moment, der in den Kräften steht“, also für eine große Not und eine Bitte um ein sofortiges Gespräch. Eine aze-Bitte eines Hochajani oder eines Angehörigen einer Hochabteilung wird von der Linienzentrale der Ekya dem Sheya sofort auf den Monitor gegeben werden, egal, wo dieser gerade ist, und er entscheidet dann, wie schnell Sie ihn sprechen können. Die Begriffe werden Sie eventuell nicht präsent haben, wenn die Situation entsteht, doch das ist kein Problem. Der diensthabende Deno wird mit Ihnen abklären, um welchen Bedarf es sich handelt, dies gehört zu den Aufgaben und auch den Kompetenzen einer ekya-Führung. Das alles ist etwas, was Sie sich vielleicht jetzt noch nicht vorstellen können. Aber Sie werden sich hier schneller an alles gewöhnen und das integrieren als Sie jetzt glauben. Sie werden in nächster Zeit viele Ränge näher kennenlernen, und dann wird es auch selbstverständlicher für Sie, irgendwo hinzugehen oder dort vorzusprechen. Das heißt auch, dass Sie sich langsam einfühlen und in das System, in dem wir zusammenleben, das wie jedes andere System auch aus offiziellen und auch ungeschriebenen Gesetzen besteht, einarbeiten. Es kann notwendig werden, einen Familienführer anzusprechen. Sich beraten zu lassen, eine Problem vorzutragen, aber durchaus auch: Einen Gefallen zu erbeten. Einen Wunsch zu äußern. Sein Interesse zu vertreten, vielleicht auch langfristig. Die Führungsränge der Familien und der Hochabteilungen haben unterschiedliche Arten, in denen sie so etwas möglich machen. Wie man sie ansprechen kann, wie man sich einen Weg eher öffnet oder eher verschließt.“ Jano legte seine Hand auf Abeias Arm und sagte: „Du wirst geübter werden. Aber am Anfang brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Wenn irgendwas ist, komm einfach zu mir. Egal was ist. Egal wieviel Uhr es ist. Die nächsten Wochen bin ich auf dem Handy immer erreichbar. Wenn ich zwischendurch in Einsätze gehe, was in den nächsten zwei Wochen nicht geplant ist, dann schauen wir genau dass du immer einen Ansprechpartner hast. Ich leite das Handy dann um, und wer drangeht, der ist dann ganz für dich da und du brauchst keine Scheu zu haben. Wahrscheinlich wird es Ande sein.“ Abeia atmete aus. Himei Noja nickte.
Himei Noja fuhr fort: „Die vierte Kontaktmöglichkeit ist eine, von der wir nicht erwarten, dass Sie sie je nutzen müssen, aber sie soll Ihnen trotzdem bekannt sein. Jeder Bürger in Naraita, egal welcher Herkunft und Position kann sich direkt und ohne Vermittlung an die Shijoa wenden, es gibt dafür eine Telefonnummer, eine Mail-Adresse und eine Postadresse, die in Naraita in jedem Telefonbuch stehen, im Internet schnell zu finden sind und regelmäßig als kleine Einspielung in den Medien genannt werden. Außerdem gibt es sogenannte ada-Sekreatariate, das sind offene Vorsprechstellen, zu denen jeder Bürger von Naraita Zutritt hat. Der Zugang zu diesen Sekretariaten ist 24 Stunden am Tag möglich. Die Ansprechstellen liegen jeweils in der Nähe der Residenz jeder Provinz, die für Aiza liegt im Hauptpräsidium der Akai an der Gada. Außerdem gibt es das Hauptsekretariat der Shijoa in der Todai, und tatsächlich muss jeder Bürger, der an der Brücke der Edoa angibt, vor die Shijoa treten zu wollen, umgehend zu diesem Sekretariat vorgelassen werden. Er wird zwar natürlich gesichert und begleitet, dennoch darf ihm der Zugang nicht verwehrt werden. Jede dieser Kontaktaufnahmen wird automatisch und ohne dass die annehmende Person dies beeinflussen kann dokumentiert und dem diensthabenden Rang zur Kenntnis gegeben. Allerdings, das muss man auch sagen, um dies in der Bedeutung ganz darzustellen, ist eine nachgewiesene vorsätzliche Falschaussage, also eine Verleumdung vor der Shijoa ein schwerer Straftatbestabt. Auch anonyme Meldungen werden verfolgt. Ebenso gibt es aufgrund der direkten Zugangsmöglichkeit in die Todai immer wieder Versuche, auf diesem Weg unbefugt in die Todai zu gelangen, auch Attentatsversuche wurden bereits über das Shijoa-Sekretariat angesetzt. Hier findet allerdings jedes Mal eine erweiterte Schleusung statt, und der Raum ist hochgesichert. Dennoch darf derjenige sprechen. Normale Bürger wählen diesen Weg eher selten. Die Shijoa tritt nicht oft in den Vordergrund, ist selten erlebbar und die Hürde deshalb oft zu hoch. Ich glaube wie gesagt nicht, dass das passieren wird. Aber sollten Sie irgendwann in Ihrem Weg in Naraita eine Gefahr für sich befürchten, die Sie nicht direkt an die normalen Kontaktwege geben möchten, sollten Sie sich bedroht fühlen oder Anzeichen haben für eine Gefahr, die von einem adligen Rang ausgeht, in letzter Konsequenz sogar von einem Keayake und in allerletzter Konsequenz auch vor einem Rang der Hochajani, dann können Sie sich damit sofort an die Shijoa wenden. Es gibt sieben juristisch bevollmächtigten Ränge der Shijoa: Nateo Yamatai, Ejonay Arasua, Naheya Harada, Inetai, Beresa, Aryan und mich. Shijoa-Ränge sind Verfassungsrechtler und Verfassungsermittler. Sie sind Wächter, aber auch Garanten. Das bedeutet, dass vor allem wir selbst als Ränge verfassungstreu sein müssen. Der Leumunds-Anspruch an einen Shijoa-Rang ist empfindlich hoch. Und das ist eine nicht selten genutzte Waffe gegen uns. Sie werden früher oder später von einem Dewa-Ade-Verfahren hören, das ist ein Untersuchungsverfahren gegen einen Shijoa-Rang, das ich schon einleiten muß, wenn es nur den Hauch eines Verdachts gibt und auch dann, wenn ich persönlich überzeugt davon bin, dass dieser Verdacht unbegründet oder sogar offensichtlich konstruiert ist. Und eine solche Konstruktion ist durchaus durchführbar. Sie müssen deshalb nicht erschrecken, wenn sich jemand der Ränge, die Sie jetzt enger kennenlernen oder schon gut kennen dann in einem solchen Verfahren sieht. Das bedeutet nicht, dass Sie vor ihm Angst haben müssen. Es bedeutet in letzter Konsequenz meistens, dass der Gegner ihn innerhalb der Shijoa schwächen will, was regelmäßig nicht gelingt.“
Abeia beugte sich über die Karte. Spürte plötzlich die tiefe Freude wieder. Vorfreude. Was würde noch alles kommen. Wieviel würde sie noch entdecken. Wie groß war dieses Land und wie nah plötzlich. Wie klar alles war: Wenn die Angst einmal aus dem Weg war. Himei Noja erklärte: „Ich möchte mit ihnen ein bißchen über Sicherheit sprechen, als Lehrer, als Rang der Shijoa, der ich zuweilen junge adlige Ränge reflektiere, abern vor allem auch als Personenschützer. Ein sehr wichtiges Schutzmittel sind Regeln. Nicht irgendwelche Regeln, schon gar nicht willkürlich aufgestellte oder gar strenge, beschneidende oder verwundende Regeln, sondern gute Regeln. Gute Regeln sind so bin ich ganz überzeugt eine große, große Hilfe, und nur deshalb habe ich das Amt angenommen, das in diesem Raum verankert ist. Nicht alle Menschen haben dieselben Regeln. Und es ist mir ein Anliegen besonders in meinem Fach der Entwicklung, mit den Menschen ihre Regeln zu entdecken. In meiner Kraft als Familienführer oder als Führrang führe ich manchmal Gespräche, in denen ich die Menschen an ihre Regeln erinnere. Auch das ist ein häufig sehr wohltuender Schritt, der sie langfristig wie ich glaube stärkt und sichert. Manche Regeln sind in unseren Augen so wichtig und sichernd, dass ein Übertreten ein Gespräch in der Shijoa zur Folge hat. Weil wir glauben, dass wir durch das rechtzeitige Verstehen und Korrigieren dieser Übertretung helfen können, Leid zu mindern, Eskalationen zu unterbrechen, Lernprozesse zu erleichtern und die Fehler, die ganz normal auftauchen werden, in einem Rahmen zu halten. Ich erwarte nun bei Ihrer Art nicht, dass Sie jede Woche ein dewa-Verfahren haben, weil Sie einfach mal Grenzen austesten müssen. Das ist nicht Ihre Art.“ Abeia schüttelte spontan den Kopf, und die Männer lächelten warm. Auch Himei Noja lächelte. „Menschen sind wunderbar verschieden. Vielleicht werden Sie niemals ein dewa-Verfahren sehen, also auch keine Klärung. Aber falls doch: Ich möchte, dass Sie diesen Raum hier einmal sehen. Hier geschieht nichts Schlimmes. Tatsächlich wird manchmal Angst gemacht vor diesem Raum und auch meiner Aufgabe darin. Das ist absolut unbegründet. Untersuchungsränge und Richtränge tragen eine große Verantwortung, denn sie sind die einzige Kraft unseres Landes, denen jemand zugeführt werden kann gegen seinen Willen. Daher werden diese Ränge von uns in besonderer Weise ausgewählt und die Vorgänge beaufsichtigt und kontrolliert. Die Ränge der Shijoa aber sind hoch erfahrene, gereifte und befähigte Untersuchungsränge, und im Gegensatz zu dem, was von uns oft erwartet wird sind die dewa- und Shijoa-Linien daher das ist meine Beurteilung erheblich weicher, sanfter und weniger eingreifend. Ich erlebe oft Angst hier in diesem Raum, bei großen wie kleinen Anliegen und auch im Unschuldsfall. Aber ich sage Ihnen: Wenn Sie ein betrunkener Jugendlicher in einer großen Krise sind und mit einem Messer in der Hand, und Sie treten damit vor einen Polizisten in Deutschland, dann kann es Ihnen passieren, dass Sie aus dieser Situation mit einer schweren Schußverletzung gehen oder sogar ihr Leben verlieren. Auch in unserem Land wäre dies möglich. Wenn Sie vor mich so treten, dann passiert nichts. Ich kann Sie auch so sichern. Ein betrunkener Jugendliche mit Messer, den muss ich nicht mal bewußtlos legen. Und diese Gestalt finden Sie überall. Die wichtigste Aufgabe der Shijoa ist Schutz. Wir schützen die Verfassung, die systemische Kraft der adligen Ränge und dadurch unsere Bürger, aber wir schützen auch vor Verleumdung. In vielen Systemen anderer Länder gibt es diesen Schutz gar nicht. In Deutschland darf die Presse einen Vorwurf gegen einen Politiker oder ein Unternehmen immer wieder aufnehmen, auch wenn er entkräftet ist. Die Presse darf darüber schreiben, und auch wenn dann dort steht „es konnten nicht genug Beweise gefunden werden“, dann geht dies so durch das Land, und der Ruf desjenigen, sein Unternehmen, seine Beziehungen sind ruiniert. Als Shijo kann ich eine Linie genau prüfen, und dann darf ich anordnen, das darüber nicht berichtet wird. Dies gilt in anderen Ländern als autokratisch. Wir glauben, dass wir dazu die Kompetenz haben, denn wir haben exzellente Untersuchungsränge, die wir vorschalten, wir haben unterschiedliche Hochfachabteilungen, die wir kombinieren, und wir gewichten auch Tastungen und Sondierungen. Und dann fällt ein Urteil. Ich habe schon oft gesehen, wie in diesem Raum der Ruf von Menschen bewahrt wurde - und zwar zu Recht. Und das gilt übrigens auch für Ausbildungsränge, die hier vor ihrem Karriereweg stehen und durch ein solches Urteil erheblich gefährdet wären. Wenn wir diese Ränge freisprechen, wissen die Keto, dass das zu Recht geschieht. Es erfolgt dann auch kein Akteneintrag. All das sollten Sie einfach wissen. Für Sie geht es aber jetzt ersteinmal darum, wichtige Grundregeln unseres Alltags einmal zu hören.
Die wichtigste Regel für Menschen, die neu nach Naraita ist Ihnen sicher schon bekannt, ich wiederhole sie noch einmal: Das Baden in Naraita ist grundsätzlich verboten.“ Abeia räusperte sich lautlos. Himei Noja machte eine ruhige Handbewegung. „Überall. Gehen Sie niemals in Naraita alleine ins Wasser. Auch nicht in einen See oder Teich, wie klein er auch sei. Schon gar nicht ins Meer. Gehen Sie nicht schwimmen und gehen Sie nicht in auf ein Boot. Gehen Sie nicht unbegleitet und unberaten über längere Wanderungen in die freie Natur und erkunden Sie nicht aus eigener Initiative Ihnen unbekannte Tiere und Pflanzen – es sei denn, Sie haben jemanden dabei, der ausreichend erfahren ist. Viele Menschen glauben, dass unsere Natur in besonderer Weise gefährlich und unberechenbar ist. Das Gegenteil ist der Fall. Sowohl die Meere und Flüsse als auch das Land, das uns geschenkt ist mit seiner wunderbar lebendigen Tier- und Pflanzenwelt ist zutiefst gutartig. Die Besonderheit in Naraita liegt darin, dass die Kräfte, die unsere Natur prägen einen tiefen inneren Sinn haben und daher sehr vital sind. Diese Lebendigkeit ist unter anderem erlebbar in Kraft. Vorgänge in der Natur, die auftreten, können eine Kraft entwickeln und in besonderer Weise klar und eindeutig sein. Das was geschieht, ist sinnvoll. Und Menschen, die zu unerfahren sind, verstehen diesen Sinn häufig nicht. Sie handelt nach ihrem eigenen Sinn, versuchen, ihren eigenen Willen und Plan durchzusetzen und haben nicht verinnerlicht, dass ein Anvertrauen immer auch ein Lauschen bedeutet. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wenn der Tag zur Neige geht, wird die Strandbrandung häufig spürbar ruhiger. Viele Touristen neigen dann dazu, schwimmen zu gehen sogar ohne Badewache oder zu glauben, jetzt sei es ja leichter. Sie verstehen nicht, dass Meer Teil eines lebendigen Systems ist. Um die Zeit der ewe, wie es bei uns heißt, also der beginnenden Dämmerung, setzt an den Küsten ein tiefer, sehr sanfter Strom ein, der Bereiche, die tagsüber durch die starke Brandung isoliert sind, mit Nährstoffen versorgt und gleichzeitig durch das Durchspülen auch reinigt. Die Brandung wird also sanfter, dafür setzt eine Strömung ein. Deshalb werden die Strände zur ewe geschlossen: Die Badezeit ist zuende. Wer das nicht einsieht und zu dieser Zeit schwimmen geht, wird also in diese Strömung geraten. Ist die Strömung in sich gefährlich? Nein. Sie ist sogar sanft, zumindest außerhalb der Aroka möchte ich hinzufügen. Vertraut man sich ihr an, trägt die Strömung einen aus dem Prilbecken und von dort aus wieder ans Ufer. Sie macht dafür nur eine kleine Reise, sie besucht kleine Fischschwärme, Anemonen und sanfte Untiefen, in denen zum Beispiel Schildkröten und zu bestimmten Zeiten sogar Robbenbabys zu finden sind. Iya-Ränge lassen sich oft nach ihrem Arbeitstag von der ewe rausziehen und wiegen, wie sie es nennen, also eine Zeitlang einfach tragen und dann wieder ans Ufer bringen. Iya glauben, dass die ewe demjenigen, der sich ihr anvertraut dasselbe schenkt wie den Tieren und Pflanzen, die sie durchströmt, also eine Nährung und aber vor allem auch eine Durchspülen, eine Reinigung. Ich habe oft erlebt, dass Iya nach einem schwierigen Tag in eine ewe gehen und danach völlig regeneriert sind. Gute Iya sind mit dem Meer tief vertraut, tief befreundet und wissen um den Reichtum und die Angebote dieses Elements wie niemand anders. Aber ein Schwimmer, der nichts von einer ewe-Strömung weiß wird natürlich in Angst geraten und dagegen ankämpfen, sich damit erschöpfen und deshalb in Not geraten. Dies alles zeigt nicht, dass die Natur eine bösartige Struktur habe, sondern dass wir sie nicht verstehen und sehr roh an sie herangehen. Unsere eigene unerfahrene Kraft fällt auf uns zurück, ohne dass wir dies ändern können. Um uns dabei zu helfen, sind erfahrenere Menschen nötig und deshalb auch vorgeschrieben.
Die Iya unterscheidet zwischen der yia und der mea. Diese beiden Gebiete besitzen unterschiedliche Charakteristiken und Kräfte. Zur yia werden die Flüsse und Seen, die Strände und der strandnahe Tiefenbereich gezählt, meist etwa bis zwanzig Seemeilen vor der Küste. Allerdings verläuft diese Grenze unregelmäßig, vor Aiza zum Beispiel ist sie deutlich größer, in der Edera deutlich schmaler. Die yia ist wie schon angedeutet ein Lebensraum, der sich von Strandzonen anderer Länder unterscheidet und eine entsprechende Begleitung, Wache und Führung braucht. Dann kann sie zu den vorgegebenen Zeiten als Freizeit-, aber auch als Heilraum wirken, für alle Menschen, auch für Frauen und Kinder. Die mea ist ein Bereich, der für Naraita charakteristisch und auch geschichtsprägend ist. Wir glauben, dass die mea wie ein Tor ist. Sie schützt uns. Sie ist ein Feld sehr starker Kräfte und aufgrund der geologischen Besonderheiten nur äußerst schwer zu befahren. Wir glauben, dass sie letztlich auch nicht dafür gedacht ist, befahren zu werden. Wie Sie vielleicht wissen, gibt es bis auf wenige, sehr kleine Passagen in unserem Land keinen industriellen Schiffsverkehr. Die beste und bekannteste Passage liegt genau vor Aiza und ist natürlich der Grund, weshalb es hier zur Anlandung und zur Gründung dieser Stadt kam. Tatsächlich ist Aiza der Name dieser Passage in der Sprache der Kiye, denn den Kiye war diese auffällig große Passage ruhigen Wassers sehr genau bekannt. Die Iya, also unsere Marinestreitkräfte, lernen, sich auch in den übrigen Zonen zu bewegen. Sie patrouillieren unsere Gewässer und bergen die Boote ab, die es aus der yia ungewollt – nur sehr selten vorsätzlich, meist durch Stürme oder Strömungen in den Grenzbereichen der yia – in die mea verschlagen hat oder helfen Handelsschiffen, deren Lotsen in der Passage in Schwierigkeiten kommen und die Passagengrenze touchieren. Sie tun dies auf ihre eigene Weise, mit sehr viel Respekt und Umsicht, aber auch als Frucht eines langen Weges der Erfahrung und Berufung und mit Zugriff auf eine tiefe Tradition von Wissen und Seekunde der Kiye, die die besondere Prägung der Iya ausmacht. Ränge anderer Abteilungen können dort nicht tätig werden und dürfen sich auch nur in Begleitung der Iya dort aufhalten.“ Jano neigte sich zu Abeia: „Genau. Wie ich hörte akzeptieren die Noja nur einen Familienführer, der es alleine mit einem Schiff durch die mea schafft. Alleine mit einem Schiff: Also mit einem Segelschiff oder einem kleinen Border. Bei verschärften Zulassungen startet die Fahrt gleich direkt aus der Aroka.“ Himei Noja blickte nachsichtig. „Sowas hörst du also.“ Jano verzog keine Miene. „Ich könnts nicht. Also die mea würde ich vielleicht versuchen. Aber die Noja führen..“ Die beiden Noja-Denei grinsten. Himei Noja sah Abeia an und fuhr fort: „Ansonsten ist die yia eine ausreichend große Herausforderung für Bootsführer und definitiv nicht ohne Risiko. Möglicherweise wird es nicht lange dauern, bis Sie auch auf ein Schiff eingeladen werden oder Lust bekommen, zu segeln oder mit Motorbooten zu fahren. Dies ist immer wieder eine wunderschöne Erfahrung. Der Ort dafür ist immer die yia. Natürlich ist auch in der yia das Befahren des Wassers genau wie das Schwimmen allgemein verboten und also nur möglich, wenn es jemanden gibt, der dieses allgemeine Verbot in jedem Einzelfall expizit für die Beteiligten aufhebt. Sie werden erleben, dass es am und auf dem Wasser entsprechende Kontrollen gibt, so dass Ränge der Iya auf die Beteiligten zugehen und sich zeigen lassen, wer eine tivia besitzt, also die entsprechende Befugnis z.B. für die gewählte Schiffart. Jeder exekutive Rang der Heze trägt tivia, auch die meisten exekutiv orientierten Ausbildungsränge stehen nicht selten seit dem Jugendalter in der tivia. Aryan hat aber festgesetzt, und das ist seine Aufgabe, dass Sie für die Nutzung eines Bootes eine Eko-Freigabe brauchen. Eine eko ist nun durchaus eine andere Hausnummer als eine tivia. Nur Hochführränge der Iya tragen eko, und so möchten die Keayake, dass für Ihre Wasserfreigabe die Iya offiziell eingeschaltet wird. Sie werden, so nehme ich an, im Laufe der Zeit etwa von Freunden oder von anderen Rängen auch das Urteil hören, dass diese Festsetzung sehr streng ist und sehr eng. Das Wort übertrieben könnte fallen. Rollende Augen sind denkbar. Damit Sie nicht extra nachfragen müssen: Die Worte „eri akuna“ können etwa so übersetzt werden: „Der hat doch n Knall.“ Die Männer grinsten kurz. „Denn wir haben hier auf der Edoa sehr viele sehr fähige Wasserränge. Und auch Ausbildungsränge sind in den Bereichen, in denen Sie sich zunächst bewegen, sehr vertraut und auch sehr leistungsfähig in und auf dem Wasser. Was diese Ausbildungsränge im Einzelfall nicht können, ist Ihre fehlende Sozialisation mit diesem Wasser ausreichend einzubeziehen, sich ausreichend einzuspüren. Nicht einfach von sich auf den anderen zu schließen. Sie sind nicht hier aufgewachsen, und die Keayke möchten gerne, dass die Iya Sie beim Kennenlernen des Wassers über zumindest mehrere Jahre eng begleitet. Entweder wird Ihnen ein von der Führung der Iya ausgewählter Iya-Rang direkt an die Seite gestellt oder, wenn ein Eko-Signumträger der Iya dies nach Prüfung Ihrer Route und der Wetterlage für ausreichend hält, ein Rang mit Hesa-Signum. Hesa-Signen bezeichnen neben der sicheren Schifffahrt in der yia noch eine ganze Menge weiterer Fähigkeiten, wie sie in der Führung schwieriger Situationen, in der Abrettung und Betreuung von Menschen sowie in der komplexeren Navigation verlangt sind, außerdem müssen Hesa-Signen erheblich stärkere körperliche Leistungsparameter im Wasser nachweisen als zum Beispiel Tivia-Träger. Im Normalfall wird es möglich sein, das Hesa-Signum von Seiten der Keayake zu stellen. Alle adligen Führränge der Keayake und viele unserer erfahrenen nicht-adligen Raumränge tragen mindestens Hesa – es gibt auch noch einige weitere Signen, die darüber liegen. Die Anfrage, die Sie wenn sich spontan eine solche Bootstour anbietet stellen müssen, wird wie alle solche Anfragen immer über die Keayake gehen und von dort aus an die Iya weitergeleitet, Sie werden keine Aufwand haben und keine große Verzögerung. Es wird dann im Ermessen des Eko-Signumträgers liegen, wann ein Seevollrang Ihnen zugeteilt wird und wann dies nicht notwendig ist.. Es wird aber auch vorkommen, dass der zuständige Eko-Träger Ihnen vom Ausflug abrät. Diese Einschätzung wird dann an die Keayake weitergeleitet, und der zuständige Zyra oder der anwesende Atea wird Sie bitten, vom Ausflug Abstand zu nehmen. Hierbei handelt es sich um eine afea ate afea „Bitte innerhalb der Bitte“, damit ist gemeint, dass Ihre Familie Aryan gebeten hat, sie zu schützen und im Rahmen dieser Bitte Aryan oder einer seiner Stellvertreter Sie bittet, ihm dies zu ermöglichen.“ Jano lehnte sich lächelnd zu ihr: „Soll ich dir das in Worte übersetzen, die junge Leute verstehen?“ Abeia hustete: „Nicht nötig. Glaube.. ich bleibe in der Badewanne.“ Himei Noja lächelte ruhig. „Das ist nicht nötig. Ich bin der Letzte, der Sie vom Meer fernhalten will. Im Gegenteil. Unser Wasser hat wie wir glauben eine tiefe Wirkung auf uns. In meinen Augen war es zum Beispiel eine sehr kluge und berührende Entscheidung, dass Aryan Sie bei Ihrer Ankunft in der Edoa über das Wasser gebracht hat. Nicht nur für Ihr Erleben an dem Tag und nicht nur symbolisch, sondern auch energetisch. Als Hize-Ränge finden wir es sehr gut, dass Sie an diesem Tag mit der yia in Berührung waren. Und ich wünsche Ihnen noch viele weitere heilsame Kontakte mit diesem wunderbaren Wasser. Aber ich möchte nicht, dass Sie alleine da rausgehen. Egal, wen Sie kennenlernen und in welchen Gruppen Sie sich dort bewegen: Die hören nur „Hochajani“. Niemand sagt einem Rang der Hochajani: Bist du sicher, dass du das kannst. Und zumindest männliche junge Ränge der Hochajani sind oder waren in der Jugendszene der Edoa und der adligen Familien nicht dafür bekannt, ausgerechnet bei sehr abgedrehten Aktionen ihre Führungsbegabung loszulassen.“ Jano kicherte irgendwie lautlos. Abeia konnte nicht darauf reagieren, weil Himei Noja schon weitersprach: „Ich weiß, dass das für Sie jetzt noch alles weit weg klingt und theoretisch. Aber das kommt. Es kommt immer schneller als man denkt. Sie werden sich hier eingewöhnen, und Sie werden die Scheu ablegen. Und dann werden Sie auch solche Sätze wie die aus der Einführung vergessen. Aber ich sage Ihnen: Unser Satellit ist sehr gut trainiert, und er besitzt für die automatische Erkennung von „Wasserzone um das Zielobjekt“ eine Sensitivität und Spezifität von 98 Prozent. Dann fragt der Satellit den diensthabenden Zyra, ob der weiß, dass Sie im Wasser sind. Es gibt Zyra, die pagen mich dann an, weil sie wissen möchten, wie man demjenigen das jetzt beibringen soll. Wenn Sie also auf eine Yacht einer Eriza-Klasse gehen und da Party machen, ohne diese Fahrt anzumelden, dann schicke ich Ihnen einen GAC-Hubschrauber über Ihren Kopf, mit vier Triebwerken und 24-Stunden-Tinnitus für alle, da haben Sie den Hafen noch nicht verlassen. Und dann werden Sie eine ganz neue Dimension davon erleben, was es heißt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Denn unsere Hubschrauber sind weiß, und sowas ist in Naraita nicht schönzureden.“ Wieder dieses Grinsen von allen. Und so unterschiedlich. Abeia mußte sich vor Schreck fast verschlucken: „Eh.. ich gelobe alles mögliche.“ „Gut.“ Jano feixte. Himei Noja sah ihn unbewegt an. Jano meinte: „Manchmal hat man das Gefühl, du traust uns jungen Menschen nicht.“ „Wem. Dir oder jungen Menschen.“ „Ehm.“ Abeia nahm Haltung an. „Ich bin weise und erwachsen.“ Himei Noja lächelte und fuhr fort: „Ich sage Ihnen nochmal diesen Satz, den Sie bitte wirklich sich einprägen als grundlegendes Gesetz: Das Baden in Naraita ist grundsätzlich verboten. Das bedeutet: Jeder Wassergang ist eine Ausnahme, und es müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit diese Ausnahme erlaubt ist. Wir leben hier am Strand: Auf keinen Fall gehen Sie alleine ins Wasser.“ Abeia saß reglos. Stille. Der Moment war da. Dies war der Moment, den Männern, die vor ihr saßen zu gestehen, dass sie nicht schwimmen konnte. So schwer es auch war. Es war notwendig, wenn sie sich nicht die nächsten Jahre immer wieder verstellen wollte. Abeia spürte die aufsteigend Wärme der Scham. Suchte innerlich nach Worten. Himei Noja schien zu spüren, dass sie etwas sagen wollte. Hatte seine Worte unterbrochen. Abeia rang mit sich. Aber dann sagte sie nur: „Ich fürchte, ich.. bin eh kein so guter Schwimmer. Wird wohl eher peinlich.“ Himei Noja lächelte ruhig. „Wenn Ihnen unsere Jungs zu wild werden, sagen Sie das deutlich und früh. Ab und zu brauchen die mal eine Ansage. Wenn Sie das Gefühl haben, Sie kommen nicht durch zu denen oder Sie fühlen sich nicht wohl bei den Worten, dann schauen Sie zur Wache. Das versteht die, und sie wird dann sofort eingreifen.“ Jano meinte: „Ich würd mich dabei aber nicht bewegen. Namio wirft schonmal gerne Dinge aus dem Hintergrund. Styropor-Pellets oder auch gerollte Handtücher. Was so greifbar ist. Nach meinen Berechnungen liegt seine Trefferquote in Bezug auf den Hinterkopf des Haupträdelsführers bei 100 Prozent.“ Wieder Grinsen. Abeia räusperte sich. Himei Noja fuhr fort: „Die Badestrände von Naraita sind von der Iya gesichert. Das Baden ist dort in Ausnahme zur allgemeinen Regel erlaubt, wo dies ausdrücklich gekennzeichnet ist und wo Strandwachen der Iya im Dienst sind. Die Badezonen sind dann abgesteckt, das kennen Sie aus anderen Ländern auch, und das Baden ist bewacht. Auch dann ist es noch gefährlicher als das Baden an Stränden anderer Länder. Es ist schwieriger. Wir haben sehr schnell wechselnde und sehr starke Strömungen. Deshalb muß eine Badezone nicht nur abgesteckt werden, sondern auch richtig überwacht. Also nicht nur die Schwimmenden, sondern auch das Wasser selbst. Seine Strömungen, die Untiefen, die Wellendynamik, die Temperatur. Sie werden erleben, dass wir sehr oft und gerne ins Wasser gehen. Aber als Schwimmer in Naraita braucht man zwei Sicherungen, nämlich die eigene Erfahrung und Routine im Wasser, das ist etwas, was schon Kinder in Naraita sehr früh und sehr lange lernen. Man kann hier nicht schwimmen wie überall sonst. Es macht großen Spaß, es kann auch sehr lange ruhig bleiben, aber man muß es lernen. Man muß lernen, einen Orientierungsrahmen zu fixieren, aufkommende Strömung zu erkennen, eine plötzlich größere Welle, einen Wetterumschwung, besonders das Bilden von den für die Gewässer von Naraita typischen kleinen und stationären Gewitterzellen. Zusätzlich dazu gibt es die zweite Absicherung durch eine Wache von außen. Immer, wenn Sie ins Wasser wollen, wenn Sie sich in einer Gruppe befinden, die am Strand ist, wenn sich eine solche Gruppe bildet oder Sie spontan an einen anderen Strand wechseln, dann muß ein Rang in der Szene sein, der ein Faria-Signum trägt. Das Faria-Signum ist eines der wichtigsten Grund-Hochabteilungssignen in Naraita, das einen Rang befähigt, eine Badezone zu analysieren, die Strömungen auszumessen und einzuschätzen, bevor er die Zone für Badende freigibt. Das Faria-Signum muß während der gesamten Zeit, in der Schwimmende im Wasser sind, aktiv wachen. Er ist nicht Teil der Freizeitgruppe. Er kann aus ihr hervorgehen, aber dann muß er auch dafür abgestellt werden. Faria-Signen sind nicht nur Erfahrungssignen, sondern geben auch körperliche Belastungsgrenzen vor für den Fall, dass der Faria-Träger einen Rettungseinsatz schwimmen muß. Faria-Signen sind vorgeschrieben für alle Ränge der Keayake, der Anai und der exekutiven Netoya. Die Iya haben die Aufgabe, an den Stränden zu patroullieren, ob Faria-Signen vor Ort sind und auch wachen. Verstöße gegen diese Regel werden ohne Ausnahme bestraft, mit sehr hohen Geldstrafen und bei Vorsatz und Gefährdung anderer Personen auch mit Haftstrafen. Es werden alle Teilnehmer der Gruppe bestraft, nicht nur derjenige, der hätte wachen müssen. Adlige Ausbildungsränge kommen bei Badeverstößen vor die Shijoa. Mit den Begriffen deutscher Rechtssprechung kann man sagen: Ein Badeverstoß ist kein Bußgeldtatbestand, sondern eine Straftat. Nur Faria-Signen selbst dürfen formal ohne Badewache ins Wasser gehen. Und zumeist entscheiden sie sich nicht dafür, sondern gehen wie Taucher dennoch mindestens mit einem Begleiter, in einer Gruppe oder sogar unter einer Wache oder melden ihren Schwimmgang zumindest an. Das heißt für Ihre Freizeitgestaltung folgendes: Das Baden in Naraita ist grundsätzlich verboten. Tun Sie es doch, brauchen Sie dafür ein Faria-Signum oder einen Vollrang der Iya, der es Ihnen erlaubt und der dafür die Verantwortung trägt. Der Signumträger muß die ganze Zeit vor Ort sein, er muß regelmäßig die Strömung kontrollieren und er muß eine Ausrüstung zur Rettung dabeihaben, im mindesten Fall sind das Flossen, eine Kommunikationseinrichtung zur Nachalarmierung von Kräften und ein Geaze-Gürtel, das ist eine Schwimmhilfe, die man im Gürtel tragen kann. Sie entfaltet sich durch Aufschlagen im Wasser als Plane und hat einen sehr hohen Auftrieb. Ein Schwimmer, der in Not ist, kann sich daran festhalten oder auch sich darauf legen oder wenn er bewusstlos ist dort seitenstabil fixiert werden. Der Strand der Geya ist durchgehend bewacht natürlich, er ist auch Tag und Nacht ausgemessen, Sie können jederzeit dort schwimmen gehen, Sie werden die aktuellen Markierungen sehen, und Sie müssen auch niemandem Bescheid geben, die Keayake merken sofort, wenn Sie schwimmen gehen, und es wird dann unmittelbar eine Badewache zu Ihnen kommen. Die Strände auf unserem Familiengebiet sind durch die Anai, im Falle unserer Residenz durch die Keayake flächengedeckt, hier ist es genauso: Wenn Sie ans Wasser gehen, wird man dies sofort bemerken. Ich rate Ihnen aber dennoch, bewußt Kontakt aufzunehmen zu Ihrer Badewache, vielleicht auch nur mit einem kurzen Blick. Sie werden schnell verstehen, wer Ihre Wache ist, die dann wenn Sie schwimmen gehen möchten sofort hinzutreten wird. Nicht-exekutive Ränge bekommen bei uns eine stärkere Sicherung als exekutive Ränge. Sollten Sie als nicht-exekutiver Rang rausgezogen werden, ist der Anspruchsstandard der Keayake der, dass innerhalb von hundert Sekunden jemand bei Ihnen sein wird, wobei sich diese Zahl schon auf die maximal schwierigsten Näherungen und nicht auf hohe Führränge bezieht. Der Begriff Nihe sollte einmal fallen. Eine Nihe ist eine sehr schmale, einzelne, aber sehr kompakte Strömungswelle, die ausschließlich an Meeresstränden auftritt. Sie wird nicht von einer Sturmfront oder einem Wetterwechsel begleitet und ist als einzelne Welle auf einen kleinen Raum beschränkt. Sie entsteht aus minimalen Erdbewegungen weiter draußen, wird vom Schiffsverkehr überhaupt nicht wahrgenommen und entfaltet aber, wenn sie an Land geht, eine große Kraft. Eine nihe besteht aus drei Teilen. Zunächst die Phase, in der sie auf die Küste zukommt. Die Schwimmer, die von dieser Kraft erfaßt werden, werden kurz durcheinandergeschüttelt; in einer Tiefe, in der ein Erwachsener vielleicht noch steht wird er von den Füßen geholt. Mehr geschieht aber nicht. Bei der Anlandung der Welle kommt es zu einer sehr lauten und knallenden, gischtintensiven Brechung. Dieser Ton ist sehr charakteristisch und wird eine geschulte Wache, die vorher keine Möglichkeit hat, die Welle zu sehen, sofort alarmieren. Nicht immer aber bedeutet der Ton auch eine Gefahr. Potenziell gefährlich wird die danach entstehende Rückströmung erst, wenn sie auf bestimmte zusätzliche nautische und strömungsphysikalischen Gegebenheiten trifft. Dann kann sie statt wie viele andere Küstenströmungen schnell auszulaufen eine eigene, ansteigende und sehr kratftvolle Dynamik entwickeln. Wenn Sie einen bestimmten Badestrand haben, wird man an diesem Strand etwa dreimal pro Jahr eine nihe messen, und vielleicht sind zwei davon noch außerhalb der Badezeiten, denn die meisten nihe treten während der Dämmerung und nachts auf. Nimmt man die gesamten Küstenlinien des Landes, wird aber klar, dass für die Iya das Auftreten einer nihe landesweit täglich ein routinemäßiges Ereignis ist. In unserer Residenz gibt es viele Firo, also Ränge, die in der ursprünglichen Führkraft der Kiye ausgebildet sind. Firo können einer ankommenden Welle manchmal schon vor der Brechung ansehen, dass sie eine nihe ist. Da sie oft auch bereits wissen, ob die Gegebenheiten für eine Rückströmverstärkung vorhanden sind, können sie die Gefahr schnell einschätzen. Allerdings ist auch dann häufig nicht mehr möglich, die Baderänge an Land zu holen, weil die Vorströmung der Welle sie gar nicht mehr dorthin läßt. Es ist dann besser, keine Unruhe zu verbreiten, denn wenn die Rückströmung entsteht, wird sie sich erheblich verschmälern und möglicherweise eine Person mitziehen, dafür aber für die anderen Badenden den Weg wieder frei machen. Die Aufgabe einer Badewache im Erkennen eines Nihevorstroms ist deshalb, seine Zentrale zu informieren, die sofort die Iya hinzuziehen wird und gleichzeitig möglichst schnell die Person zu identifizieren, die gleich seine Hilfe braucht und natürlich schnell zu ihr zu kommen. Die Besonderheit einer nihe im Vergleich zu vielen anderen Strömungsereignissen, die wir kennen ist die, dass sie ein so große Kraft entfaltet, dass man auch als Badewache mit eigener Körperkraft nicht viel dagegen tun kann, auch ein Untertauchen oder ein seitliches Heraustasten ist nicht möglich. Befindet sich ein Schwimmer in der nihe, kann er aber auch nicht ohne weiteres mit maschineller Kraft eines Schiffes geborgen werden. Zwar liegt dieser Weg nahe. Und in anderen Ländern wird er auch gewählt. Denn Nihe treten auch an Küsten anderer Länder und Inseln auf, die im Pazifik liegen. Deutlich seltener, und in vielen Ländern hat man diese Gestalt auch noch nicht erkannt und benennt sie nicht gesondert. Die Nihe wird als normale Strömung eingeordnet, und die Herangehensweise unserer Iya, diese Strömung als sehr unterschiedlich zu anderen zu begreifen und anders auf sie zu reagieren wird nicht verstanden. Stattdessen wird mit maschineller Kraft reagiert. Dies bringt meist schwere Verletzungen, oft Todesfolgen mit sich. Die Marinekräfte anderer Länder führen dann an, dass eine Strömung einer bestimmten Stärke nun mal dieses Risiko beim Abbergen mit sich bringt. Die Erfahrung, die wir in unserem Land machen ist eine andere. Jemand, der unverletzt in eine nihe eintritt und den die Iya schnell genug identifiziert wird körperlich völlig unversehrt diese nihe auch wieder verlassen. Was dazu aber notwendig ist, ist Zeit, Geduld und Vertrauen. Man muss warten, bis die nihe ausgelaufen ist, was eine erhebliche Zeit dauern kann. Im Normalfall wird die Badewache bei demjenigen sein, um ihn zu begleiten oder auch zu tragen, die Iya wird dann im Verlauf der Rettung weitere Schwimmer als Unterstützung abspringen lassen, aber mit der Aufnahme warten, bis die nihe ausgelaufen ist. Diese Art der Vorgehenesweise findet sich bei vielen Einsatzgestalten, nicht nur bei einer nihe, denn es ist wie wir glauben die schonendste und häufig klügste. Bei sehr eng miteinander badenden Gruppen kann es passieren, dass die nihe mehrere Leute mitnimmt, das ist ein Notfall der Badewache, die dann sofort benachbarte Wachen hinzurufen wird, wenn es welche gibt. Sind keine da, werden sofort auch andere exekutive Ränge oder starke Schwimmer mit in die Strömung gehen. Normalerweise erwischt die Strömung aber nur einen Schwimmer. So oder so kommt die Unterstützung sehr schnell, die Iya ist auf eine nihe gut eingerichtet, aber die Reaktion, vor allem das Mitgehen in einer nihe muss trainiert werden. Wir versuchen in der Netoya, die Kinder auf eine nihe vorzubereiten, denn sie werden im Laufe ihres Lebens, wenn sie häufig schwimmen, mindestens eine solche, oft mehrere auch erleben.“ Abeias Mund war trocken. Himei Noja sagte ruhig: „Es ist gut, wenn Sie das einmal als Grundlage hören. Dass Sie einordnen können, was Sie vielleicht beobachten oder im Gespräch hören. Etwas Anderes ist Ihr konkreter Weg. Eine Einführung wie diese kann ein Erleben nicht ersetzen. Ich möchte Sie daher einladen, das Wasser mit uns gemeinsam kennenzulernen und zunächst dort zurückhaltender zu sein als Sie es vielleicht in Europa waren. Wenn Sie außerhalb des Pools ins Wasser möchten oder auch nur an die flachen Vorwasser des Strandes, haben wir deshalb bestimmte Voraussetzungen festgelegt. Diese gelten zunächst einmal für den Anfang.“ Er sah zu Aryan, der sagte: „Sie nehmen einfach wie beschrieben den Kontakt zur Badewache auf. Diese macht den Rest. Wir haben verschiedene Ränge benannt, die Sie begleiten dürfen. Es ist möglich, dass zu einem Zeitpunkt keiner dieser Ränge verfügbar ist. Dann bitte ich Sie um Geduld: Auch wenn Sie sehen, dass vielleicht andere Ränge schwimmen, möglicherweise auch Kinder. Wir möchten gerne, dass Sie das Wasser im Beisein eines Firo entdecken, und im Zweifelsfall ist daher unsere Bitte, dass Sie dann hier den Pool nutzen.“ Abeia räusperte sich. Das hatte sie jetzt davon. „K..ein Problem.“ Himei Noja fuhr ruhig fort: „Das Badeverbot gilt ebenso in Seen und Flüssen. Auch dort gibt es Strömungen, es gibt Untiefen, giftige Fische, kalte Temperaturkerne und schlammige Untergrunde. Auch dort muß ein ortskundiges Faria-Signum Sie begleiten.“ „Badewanne“, nahm Abeia sich vor. Himei Noja lächelte. „Eine zweite Besonderheit, die sich auch an Land auswirkt, sind die schnell wechselnden Wetterscheiden. Innerhalb kurzer Zeit können sich gerade in Küstenstädten ein Sturm oder ein Gewitter entwickeln. In der entsprechenden Saison sind Wirbelstürme nicht selten. Große Wirbelstürme sind erkennbar und voraussagbar. Kleine Unwetterzellen können aber jederzeit auftreten. Wir besitzen sehr gute Wettervorhersagen, aber die zellenartigen Umschwünge sind kaum vorhersagbar. Dieser Umstand ist für Menschen, die aus stabilen Klimazonen kommen sehr stark gewöhnungsbedürftig. Alles in Naraita ist darauf eingerichtet. Überall gibt es Schutzräume und Unterstände, das öffentliche Leben, bei Feiern draußen oder bei Spaziergängen, kann innerhalb kurzer Zeit sich zurückziehen und anpassen. Oft werden Pläne vom Wetter umgeworfen. Das ist eine Eigenschaft, die unser Land und unser Lebensatmosphäre stark auszeichnet. Es führt zu einer bestimmten Relativierung der eigenen Pläne und fördert damit Gelassenheit. Und auch hier muss eine Sprache gelernt werden. Wenn man sehr aufmerksam ist, kann man früh spüren, wenn das Wetter umschlägt. Wenn die Energien in eine andere Frequenz geht. Die Farben ändern sich. Die Temperatur. Der Wind. Die Luft. Eine wunderbare Sprache. Die Iya besitzt eine jahrtausendealte Kunst, dieser Sprache zu lauschen, und von ihnen zu lernen ist eine faszinierende Schule. Solange Sie in Aiza sind, wird das Wetter für Sie nicht zu einem größeren Problem werden. Ihr Personenschutz wird entweder direkt bei Ihnen oder in der Distanz stehen, wird Sie in jedem Fall rechtzeitig unterbringen können. Etwas anderes wäre es, wenn es um längere Wanderungen geht, um Ausflüge in Naturparks oder lange Strandspaziergänge. Auch dies sind zentrale und intensive Erfahrungen, die wir Ihnen nicht vorenthalten möchten. Aber auch dann möchte ich Sie bitten, in den ersten Jahren Ihrer Näherung an Naraita auf eine Begleitung nicht zu verzichten.
Es gibt noch eine weitere Besonderheit in Naraita, in deren Umgang man eingeführt werden muß, und das sind giftige Pflanzen und Tiere. Wir haben eine endemische Flora und Fauna in unserem Land, viele Arten sind also nur hier zu finden; darunter sind auch einige, die man sehr gut kennen und vor denen man sich schützen muß.“ Jetzt erst verstand Abeia, wozu die Terrarien auf dem Wandtisch standen. Sie schluckte. Himei Noja nahm das erste Terrarium und sagte: „Fangen mir mit dem ungefährlichsten, aber alltäglichsten Tier im Umgang an. Das ist ein Hige-Krebs.“ Abeia sah auf eine krebsartige Garnele, die auf einem Stein saß und ihre Greifarme in einem Stoffballen versenkt hatte. Der Krebspanzer war tiefrot; das Tier war etwa so groß wie eine Riesengarnele. Himei Noja erklärte: „Hige-Krebse sind in Naraita sehr verbreitet, sie leben sowohl in Salz- wie in Süßwasser-Flachgewässern, man findet sie auch in kleinsten Seen, in Regentonnen, sogar Pfützen, sie gehen gerne und viel an Land, wenn es warm ist. Man sieht sie in unterschiedlichen Größen, weil sie sehr langsam wachsen. Das ist ein ausgewachsenes Exemplar, größer werden sie nicht. Hige-Krebse sind in der Küche von Naraita sehr beliebt und verbreitet. Sie werden häufig roh zubereitet und schmecken ganz köstlich, wenn sie sehr frisch sind, sie enthalten viele Nährstoffe, sehr hochwertiges Eiweiß, Vitamine, sättigen gut, in der Frühgeschichte von Naraita spielten die Hige-Krebse eine entscheidende Rolle in der Logistik und Versorgung. Wenn Sie sich im Küstenbereich bewegen oder an Seen werden Sie sehr schnell auf Hige-Krebse treffen. Das liegt daran, dass es sie überall gibt und auch daran, dass die Krebse wie man hier sieht weiche Stoffe sehr lieben. Sie verstecken sich unter Wasser nämlich in einer bestimmten, sehr weichen Anemonenart, laichen dort auch, und wenn sie an Land sind und auf einen textilen Stoff treffen, dann finden die das ganz toll. Das kann dazu führen, dass ein solcher Krebs an Ihnen hochklettert oder sich für Sie interessiert, wenn Sie irgendwo ruhig in der Sonne liegen.“ Abeia verzog das Gesicht. „A..ha..“ Himei Noja lächelte. „Innerhalb der Geya und in vergleichbaren Gebieten versuchen die Hausdienste natürlich, das Gelände frei von Krebsen zu halten. Aber letztlich sind sie besonders wenn man am Strand liegt oder Ausflüge macht oft gar nicht unwillkommen, denn wenn man weiß, wie man einen Krebs richtig faßt, kann man ihn gut und schnell zu einem leckeren und frischen Zwischensnack umfungieren, für den man nicht mal aufstehen muss. Hige-Krebse gibt es in der Gourmetküche genauso wie am Imbißstand am Strand. Er kann sehr vielfältig verarbeitet werden, und eigentlich jeder mag ihn. Aber man muß lernen, wie man mit ihm umgeht.“ Himei Noja öffnete das Terrarium und legte seine Hand vor den Krebs. Neugierig begann dieser, die Hand zu untersuchen. „Hige-Krebse sind völlig friedlich. Wenn Sie die Hand ganz ruhig halten wie ich jetzt, dann passiert gar nichts. Wenn man aber einen Krebs zu spät bemerkt und sich dann erschreckt, weil er schon am Bein hochkrabbelt oder an der Hand, dann greift der Krebs fester.“ Abeia sah, wie der Krebs filigran auf Himei Nojas Hand kletterte und verzog wieder das Gesicht. Himei Noja erklärte ruhig: „Ich erkläre Ihnen erstmal, was gleich passiert. Ich bewege meine Hand schnell, wie beim Erschrecken. Dann klammert sich der Krebs an mir fest. Er glaubt, dass ich eine Anemone bin, Anemonen bewegen sich in der Strömung, und damit er nicht weggespült wird, hält er sich fest. Er verletzt mich nicht. Das tut nicht weh. Er fühlt sich ungefähr so an wie wenn ein Kind sich mit seiner kleinen Hand an Ihrem Finger festhält. Die Kletterarme des Krebses sind nicht scharf. Sie müssen dieses Gefühl gut kennenlernen, damit Sie nicht erschrecken. Sie müssen überhaupt jegliche Angst vor Hige-Krebsen nicht bekommen oder ablegen.“ Himei Noja ließ seine Hand zusammenzucken. Sofort klammerte der Krebs sich fest. Abeia gab einen seltsamen Laut von sich. Himei Noja erklärte: „Er hält sich nur. Das tut nicht weh. Es ist keine Verletzung da. Das ist vergleichbar damit, dass eine Biene auf ihrer Hand gelandet ist. Die tut Ihnen nichts. Bienen sind völlig friedlich. Sie stechen nur in höchster Not. Und genau das tun die Hige-Krebse auch. Wenn ich jetzt erschrecke und mit Gewalt versuche, den Krebs von meiner Hand zu lösen, dann weiß er, dass das keine Anemone ist, sondern ein Angriff. Und dann fährt er seine Fangarme aus. Die Fangarme sind im Gegensatz zu den Kletterarmen sehr scharf. Das tut auch etwas weh, aber nur sehr leicht. Überhaupt nicht so, dass Sie weiter erschrecken sollten. Und das dürfen Sie auch auf keinen Fall. Denn wenn Sie jetzt durch das Erschrecken, dass Sie da einen scharfen Schmerz haben oder ein paar Blutstropfen sehen den Krebs abreißen, dann können Sie sich damit erheblich verletzen. Diese Fangarme sind durch Abreißen nicht aus der Haut zu lösen. Tut man es doch, und tut man es vor allem in Panik, kann man sich sehr große und tiefe Fleischwunden zufügen, und zwar nicht durch die Kraft des Krebses, sondern durch die eigene Kraft. Wenn Sie einen Krebs an der Hand klammern haben, dann halten Sie die Hand ganz ruhig. Und er wird sofort loslassen. Für ihn ist das die Anemone, das ist sein Freund, und wenn die in der Strömung nicht mehr weht, dann kann er loslassen und weiterlaufen. Das Anklammern ist ein Reflex, und der wird durch das Stillhalten unterbrochen.“ Abeia sah fasziniert auf den Wechsel von Stillhalten und sanftem Schütteln der Hand. Der Krebs klammerte und ließ wieder los. Himei Noja sagte ruhig: „Ich zeige Ihnen jetzt einmal, wie er mich verletzt. Dass Sie sehen, dass das nicht schlimm ist. Nicht erschrecken.“ Der Denei umfaßte mit der anderen Hand den Krebs und schlug auf seinen Panzer. Sofort krallte der Krebs sich in die Haut des Denei. Abeia gab einen kurzen Laut von sich. Blut tropfte in den Sand. Himei Noja hielt seine Hand ganz ruhig: „Nicht schlimm. Tut kaum weh. Das ist auch nicht tief. Die gehen nicht tief. Aber die Fangarme sind jetzt mit ganz feinen Widerhaken versehen. Und die muß der Krebs selbst wieder einfahren. Deshalb jetzt nichts machen. Warten. Auch, wenn es etwa zwickt. Auf keinen Fall ihn rausreißen. Still halten und warten, bis er von selbst rausgeht. Das kann eine Weile dauern. Es kann fünf Sekunden dauern oder dreißig, es kann aber auch zehn Minuten dauern, und die zehn Minuten können einem auch sehr lang vorkommen, wenn man sich erschrickt. Man kann einen Hige-Krebs auch lösen, wenn er sich verbissen hat, aber das muß jemand machen, der das sehr gut kann. Und zwar jemand anders, denn dazu braucht man zwei Hände. Im Zweifelsfall lassen Sie sich einen Hige-Krebs nicht lösen, sondern warten lieber. Durch eine tiefe Fleischwunde, die ein Hige-Krebs an einer ungünstigen Stelle reißt, am Handgelenk oder an einer anderen Gefäßstelle, können Sie durchaus einen ernsthaften Blutverlust bekommen. Der Krebs reißt Ihnen im ungünstigsten Fall alles raus, das Gefäß, die Sehne, das gibt richtig große Operationen. Es gibt für das Lösen eines Hige-Krebses nun nicht gleich ein Signum, aber man braucht dazu eine sehr ruhige Hand und eine schnelle Reaktionsfähigkeit. Wenn exekutive adlige Ränge mit sehr guter und abgeschlossener Ausbildung, also Ränge in Hochabteilungen oder erfahrene Ränge außerhalb von Hochabteilungen in dem Moment in Ihrer Nähe sind, dann können Sie sich den Krebs auch lösen lassen. Auch viele nicht-adlige Naraita trauen sich zu, Krebse zu lösen. So, wie sie auch Schlangen einfangen. Aber mancher kann das. Und mancher möchte es nur gerne können. Und manchmal gehört es auch zu einer narzißtischen Selbstdarstellung, dass dann jemand diese Szene an sich zieht. Dass er der Coole ist. Der, der das jetzt macht, während die Frauen kreischen. Und der dann alles schlimmer macht. Das hier muß niemand retten. Ein erfahrener und kluger Rang wird Ihnen den Krebs nicht lösen, sondern Sie beruhigen und mit Ihnen warten, bis er sich selbst löst, denn keine Bewegung ist so sauber und sanft wie die, mit der der Krebs selbst losläßt. Das kann eine Weile dauern. Wenn es länger dauert, ist der Grund dafür die eigene Unruhe und das unbewußte Bewegen der Muskeln, was den Krebs hält. Aber er wird wieder loslassen. Sehen Sie einfach zu.“ Himei Nojas Hand lag jetzt ganz ruhig. Nichts geschah. Abeia sah, wie der Krebs weiterhin verbissen war. Dann gab es eine minimale Bewegung, und der Krebs ließ los. Himei Noja nahm die Hand aus dem Terrarium, öffnete einen Alkoholtupfer und drückte ihn auf die Wunde. Aryan trug das Terrarium zurück und nahm ein zweites. Abeia staunte: „Sie hätten sich aber.. nicht verletzen lassen sollen...“ Sie sah schon auf das zweite Terrarium, in dem ebenfalls ein roter Krebs saß. Himei Noja sagte ruhig: „Ich möchte gerne, dass Sie das üben. Nicht das Beißen – nur das Klammern. Der Krebs tut Ihnen überhaupt nichts. Er ist völlig friedlich. Ich habe ihn gerade in Todesangst versetzt und gereizt, deshalb hat er die Fangarme aktiviert. Das tut er bei Ihnen jetzt nicht. Wir nehmen auch einen anderen, damit er nicht vorgereizt ist.“ Abeia spürte eine Angstwelle. Sie setzte sich auf: „Ich.. soll das jetzt.. auch machen?“ Himei Noja öffnete das Terrarium. „Ich helfe Ihnen. Nur den Krebs auf die Hand setzen und sonst nichts. Wir machen das ganz langsam.“ Abeia spannte sich an. „Ach so..“ Himei Noja nickte: „Was ich hier sage behalten Sie nicht. Das hat nichts mit Gedächtnis zu tun. Es ist zu flach. Es sind nur Worte. Es ist der Anfang. Es bietet einen Boden für Erfahrung und einen Rahmen für nachträgliche Einordnung von Erfahrungen. Aber nur die Erfahrung wird das sein, was Sie wirklich verstehen. Wenn Sie sich in Naraita bewegen, werden Sie früher oder später einen Krebs an sich haben. Das ist nicht schlimm. Sie werden Kinder sehen, die ganz selbstverständlich Hige-Krebse knacken. Wenn die klein sind, schmecken sie ganz süß, das ist für Kinder wie eine Süßigkeit. Viele Kinder tauchen auch nach ihnen oder sammeln sie in Seen, um sie sofort zu essen. Aber die ziehen sich dazu Handschuhe an oder umwickeln ihre Hand mit einem T-Shirt. Es ist wie wenn man Himbeeren pflückt und auf die Dornen aufpassen muß. Das ist nicht schwer. Aber man muß sich damit vertraut machen.“ Himei Noja hob den Krebs sanft aus dem Terrarium und ließ ihn auf seiner Hand spazieren. Abeia war angespannt. Drängte sich unmerklich von dem Tier weg. Himei Noja streichelte mit seiner Fingerkuppe sanft den Panzer. „Wenn die Bewegung langsam ist, passiert gar nichts. Er ist völlig friedlich. Er guckt mich an: Hige-Krebse sind völlig gutmütig.“ Himei Noja setzte den Krebs auf den Tisch. Abeia saß angespannt. „Mit.. Tieren hatte ich ja jetzt so... nicht gerechnet.“ Der Krebs erkundete Janos Hand. Dieser drehte sie sanft. Nahm den Krebs auf. Abeia beobachtete das Tier angespannt. Himei Noja erklärte: „Die Krebse, die an Land gehen, sind meistens kleiner. Aber wir möchten, dass Sie nicht erschrecken. Auch, wenn Sie ein großes Tier sehen.“ Abeia saß reglos. Himei Noja sprach ruhig: „Sie bewegen sich ganz langsam. Die kommen auch nicht weit, wenn die Sie berühren, deshalb sind die meistens am Fuß oder an der Hand. Trachten mögen sie sehr gerne.“ Der Denei lächelte. „Qualität erkennen sie sofort. Legen Sie mal die Hand einfach daneben, wenn Sie mögen. Gar nicht bewegen.“ Abeia atmete aus. Dann legte sie die Hand neben Janos. Reglos beobachtete sie, wie der Krebs sich langsam auf sie zubewegte. Sie zwang sich, die Hand liegenzulassen. Himei Nojas Stimme war jetzt sehr ruhig: „Nicht erschrecken, wenn er sie berührt. Die Berührung ist ganz sanft. Ist nicht unangenehm.“ Abeias Puls nahm Fahrt auf. Dann bewegte der Krebs sich langsam auf ihre Hand. Abeia war am ganzen Körper verkrampft. Himei Nojas Stimme wirkte sehr beruhigend: „Sehr gut. Er tut Ihnen nichts. Er guckt Sie neugierig an. Ist ganz friedlich.“ Der Netoya ließ Abeia Zeit. Führte sie mehrere Minuten. Nur langsam entspannte Abeia sich. Der Krebs erkundete die Hand. Steuerte auf den Saum der Tracht zu. Himei Noja lächelte: „Oh ja. Araoka-Samt sehen und sterben. Nehmen Sie mal die zweite Hand darüber.. wenn der in Ihren Stoff geht, geht der nicht mehr weg. Gut. Ist es okay?“ Abeia atmete aus. „Ja. Geht. Wenn.. er sich so langsam bewegt, dann.. ist es gut.“ Himei Noja nickte. Dann stand er auf und sagte: „Jetzt zeige ich Ihnen mal die Hand des Kindes. Das tut nicht weh. Und Sie müssen das gut im Kopf haben, intensiv erfahren haben, dass das nicht schlimm ist. Bleiben Sie sitzen.“ Er trat hinter sie und legte seine Hand um ihr Handgelenk. Mit der anderen Hand nahm er Abeias zweite Hand. Wie ein warmer Schauer ging die Berührung durch Abeias Körper. Eine tiefe Wärme und Kraft schien von dieser Berührung auszugehen. Sie tat unglaublich gut. Eine normale Berührung. Nichts Therapeutisches. Nichts Intimes. Die Berührung eines Hize-Signums. „Sie machen gar nichts. Ich schüttel Ihre Hand, und dabei halte ich die zweite Hand fest, damit Sie nicht eine Bewegung machen, die wir nicht wollen. Sie brauchen nicht zu erschrecken. Es passiert nichts. Aber auf keinen Fall den Krebs beim Klammern weiter reizen und angreifen. Wenn Sie das machen, halte ich Sie fest. Richtig fest. Okay?“ Abeias Puls ging wieder los. „O..kay.“ „Bei drei. Eins, zwei, drei.“ Himei schüttelte Abeias Handgelenk sanft. Sofort packte der Krebs zu. Abeia erschrak. Erschrak viel tiefer als sie erwartet hatte. Das Klammern tat überhaupt nicht weh. Kein Schmerz. Kaum ein Druck. Aber unwillkürlich riß Abeia die Schulter hoch. Wollte sich winden. Konnte nicht. Himei Noja hatte längst zugepackt. Hielt Abeia wie in einem Schraubstock. Sprach ganz ruhig: „Nichts machen. Nichts machen. Ausatmen.“ Abeia war jetzt am ganzen Körper verkrampft. Himei Nojas Stimme war wie ein Halt. „Ist gut. Warten. Wieder zum Atem.“ Der Druck des Denei ließ etwas nach. Abeia zitterte kurz: „Ent..schuldigung. Ich..“ „Sitzen bleiben. Nicht bewegen. Okay?“ „Ja.“ Himei Noja ließ sie los. Ein paar Sekunden mußte Abeia sich davon erholen, wie unbarmherzig dieser Griff gewesen war. Wie leicht der Denei mit nur einem Handgriff ihren gesamten Oberkörper festgehalten hatte. Wie eine Fixierung. Und dennoch: Warm. Der Krebs äugte friedlich. Himei Noja sagte ruhig: „Er hat Sie nicht angegriffen. Er hat sich nur festgehalten. Sie haben geweht. Seine Anemone weht. Tut irgendwas weh?“ Abeia atmete schwer. „Nein.“ „War es schlimm?“ „Nein. Ich.. habe mich nur erschrocken.“ Himei Noja nickte. Abeia konnte es nicht fassen: „Ich wollte.. nicht. Ich wollte.. mich nicht bewegen.“ Himei Noja sagte ruhig: „Das ist okay. Lehnen Sie sich an. Und warten. Krebs angucken und freundlich sein zu Krebs. Den haben die Kinder heute morgen für Sie gefangen, und der wird sicher den Tag nicht überleben.“ „Oh.“ „Noch mal?“ „Eh.. ja.“ Abeia atmete aus.
Abeia lehnte sich zurück und sah auf das nächste Terrarium. Himei Noja erklärte: „Die nächsten Tiere müssen Sie nicht mehr anfassen.“ „Sehr.. beruhigend.“ „Und wir möchten auch auf keinen Fall, dass Sie sie anfassen, wenn Sie sie irgendwo sehen sollten. Wir haben dreißig Schlangenarten auf Naraita, sehr unterschiedliche Größen, und alle sind giftig. Diese drei hier möchten wir Ihnen in besonderem Maße zeigen. Sie tragen gemeinsam die Farbe gelb. Diese Farbe weist auf eine besondere Gefahr hin, wir benennen sie als hochgiftig. Alle hochgiftigen sind gelb, und alle gelben sind hochgiftig. Das ist eine Zider-Natter, die blau-gelbe ist eine Fira-Viper, und die gelb-weiße ist eine Amytra. Die Amytra ist die kleinste und schnellste. Sie besitzt die schnellste Muskelbeschleunigung aller Lebewesen, die uns bekannt sind. Traditionell und bis heute werden entzahnte Amytra im Aje-Training eingesetzt. Im fortgeschrittenen Training sind sie dann nicht mehr entzahnt. Die Zider-Natter und die Fira-Viper kommt nur im Regenwaldgebiet von Aiba vor, wobei die Schlangen auch in Besiedelungsräumen zu finden ist. Amytren leben an Wassergrenzen, Salzwasser wie Süsswasser, also an Stränden, Seeufern, Flüssen, Bachläufen, aber auch Sumpfgebieten oder großen Pfützen. Sie graben sich im Ufersaum ein, das heißt, sie liegen genau vor dem Wasser und jagen von dort Hige-Krebse, Krabben, Frösche und andere Kleintiere. Sie bewegen sich nicht weit vom Wasserrand fort und nicht weit ins Wasser hinein. Für Badende, gerade für Kinder, die im Sand spielen, stellen sie eine sehr ernste Gefahr dar, da sie eingegraben schlecht zu sehen sind. Tritt man neben oder auf eine solche Schlange, wird sie sofort zubeißen. Toxikologisch gesehen ist das Gift der Amytra zwar nicht für sich genommen gefährlich, Sie wissen, dass wir genau aus diesem Grund in der Heze ebenfalls Amitralyn einsetzen, genau aus diesem Grunde. Dennoch gilt die Amytra als hochgiftige Schlange, da ihr Biß zu einer sofortigen Bewußtlosigkeit führt, und diese kann in Wassernähe eine Gefahr für sich darstellen; außerdem kann derjenige dann nicht um Hilfe ersuchen, und ist darauf angewiesen, dass die Badewache bemerkt, dass hier ein Amytra-Biß vorliegt. Bei sehr kleinen Kindern oder vorerkrankten Personen kann es darüber hinaus zu Atemproblemen kommen. Es gehört auch zu den Aufgabe einer Badewache, sein abgestecktes Areal auf Amytraspuren abzusuchen. Bei Strandspaziergängen empfiehlt es sich, einen Sicherheitsabstand zum Wasser zu halten. Manchmal liegen die Amytren aber auch etwas weiter vom Ufersaum entfernt. Nicht nur aus diesem Grund gehört der Biß einer Amytra auch häufig zur Erfahrung eines Lebens in Naraita. Ich habe es fünfmal erlebt, bevor ich erwachsen wurde. Die Kiye lehren sogar, dass dieser Biß eine sehr wichtige Reifung im Immunsystem bei Kindern auslöst, und die Keye nutzt das Gift auch bei der Behandlung von bestimmten Immunschwächen bei Erwachsenen. Sollten Sie die Erfahrung machen, von einer solchen Schlange gebissen zu werden, haben Sie nur wenige Momente, um sich auf die Bewußtlosigkeit einzustellen, die Sie mit keinem Mittel verhindern können. Bei einer sehr großen Schlange haben Sie faktisch gar keine Vorbereitungszeit und können auch nicht um Hilfe rufen; aber häufig sind die Schlangen, die man nicht sieht, auch klein und jung. Das Gift ist noch schwächer, daher hat man ein paar Momente. Sie können diese nutzen, um sich sofort hinzulegen oder falls es der Fall sein sollte, absolut schnellstmöglich sich aus dem Wasser zu begeben. Rufen Sie laut, irgendetwas, um die anderen aufmerksam zu machen. Sollten Sie alleine sein – etwa, wenn Sie nicht im Wasser sind - dann werden Sie nach einiger Zeit wieder zu Bewußtsein kommen, ohne dass Sie jemand gelagert und betreut hat. Das Aufwachen geht so, dass man sich zunächst sehr schlecht bewegen kann. Hier ist es ähnlich wie bei Ihrer Erfahrung des Hige-Krebses: Sie können es nicht beschleunigen. Bleiben Sie liegen und warten Sie, bis die Muskelkraft von selbst zurückkommt. Die Muskeln sind nicht geschädigt, aber sie brauchen einfach ihre Zeit. Man erlebt für etwa fünf Minuten eine starke Muskelschwäche. Das Atmen ist bei gesunden Menschen gut möglich, man kann auch sich umschauen, aber schon das Sprechen und erst Recht Stehen oder Gehen sind mühsam oder sogar kaum machbar, so dass es das Beste ist, einfach zu ruhen und zu warten. Mir ist bewußt, dass dies nur Worte sind und diese Ihnen in einem solchen Fall kaum zur Verfügung stehen. Aber ich denke, dass falls es wirklich dazu kommen sollte wir schnell genug bei Ihnen sind und Sie begleiten. So oder so werden Sie Schlangen sehen und erleben. Es gibt auf Naraita, auch auf Jea, abgesehen von den Würgeschlangen, die eine andere Unterart darstellen, keine Schlange, die nicht giftig ist. Sie haben unterschiedliche Lebensräume und unterschiedliche Aktivitätszeiten. Im gemäßigten Kontinentalklima, also in der Nordhälfte von Jea, halten Schlangen im Winter eine Winterruhe. Sonst muß man immer mit ihnen rechnen. Die Vorsicherung einer Wohnung durch den Personenschutz umfaßt auf Naraita immer auch die Prüfung auf Schlangen. Die Gefahr ist nicht sehr groß. Schlangen sind scheu, und Schlangen sind auch nicht aggressiv, wenn sie sich nicht gefährdet fühlen. Aber bevor sie in der Abenddämmerung sich auf eine Liege fallen lassen, die auf der Veranda steht, gucken Sie kurz auf das Kissen, das darauf liegt oder heben Sie die Decke hoch. In besiedelten Wohnräumen findet man Schlangen aber dennoch sehr selten. Wichtiger wird das, wenn man sich im Gelände abseits von Straßen bewegt, da ist es wichtig, dass man entsprechendes Schuhwerk hat. Wenn Sie wirklich auf eine Schlange treffen sollten, verhalten Sie sich so ruhig und unaggressiv wie es Ihnen in dem Moment möglich ist. Stehenbleiben und warten, ob sie selbst sich weiterbewegt. Wenn sie über eine längere Zeit reglos bleibt, können Sie in ganz langsamen Bewegungen versuchen, wieder Distanz zu bekommen. Wenn ein Personenschützer oder ein anderer exekutiver Rang bei Ihnen ist, bleiben Sie einfach stehen und bewegen sich nicht. Keine Hand heben, nicht rufen. Ein Personenschützer sieht sofort, wenn Sie reglos stehen, und er weiß auch sofort, was das bedeutet. Sollten Sie von einer Schlange gebissen werden, brauchen Sie um nichts zu kämpfen. Keine wilden Erste-Hilfe-Maßnahmen, kein Aufschneiden, kein Aussaugen oder sonstige Selbstverstümmelungen. Das Wichtigste ist wie so oft, Ruhe zu bewahren. Und zwar auch ein bißchen Ruhe im Angesicht von Angst. Schlangenbisse sind meist Abwehrbisse, keine Beutebisse. Abwehrbisse sind trocken, führen also in den meisten Fällen überhaupt kein Gift, obgleich sie sehr schmerzhaft sind und schnell anschwellen. Die meisten Bisse gehen in Muskeln. Selbst wenn sie also Gift enthalten, geht dieses Gift nicht sofort und schnell in große Gefäße. Daher die Bißstelle so ruhig stellen wie möglich, nicht bewegen. Setzen Sie Ihr Notsignal ab, den Rest machen wir. Wenn noch Offenheit dafür da ist, schauen Sie sich die Schlange gut an, bevor sie möglicherweise flieht, denn dies kann bei einer Erstversorgung oder Behandlung von großer Hilfe sein, wenn sie schnell identifiziert wird. Es gibt Schlangen, bei denen es helfen kann, die Extremität ganz sanft zu wickeln und zu bandagieren, und es gibt Schlangen, bei denen dies erheblichen Schaden anrichtet. Das machen aber nicht Sie, sondern das entscheiden wir dann.“
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