Leseprobe Teil 7: Naraita - Geschichten aus der Todai, ein modernes Märchen
- Petra Schrader
- 16. Jan. 2023
- 13 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Jan. 2023

Als Abeia aufwachte, war der Raum völlig still. Auch draußen war es still. Konnte man die Sonne hören? Grillen. Wind. Abeia sah sich um. Nirgendwo eine Uhr. Abeia richtete sich auf und sah in das Zimmer. Heller Holzboden, ein großes, wunderschönes sandfarbenes Sofa. Die große Terrassen-Front des Zimmers des ari-Hauses zeigte aufs Meer. Sandelholzduft aus dem offenen Bad. Abeia sah auf ihre Handy-Uhr: 8 Uhr Naraita-Zeit. Erst jetzt spürte Abeia, dass sie vom Hunger aufgewacht war. Sie sah, dass vor der geschlossenen Terrassentür ein Tablett stand. Sie stand auf, öffnete die Tür und sah ein Tablett mit einem Gebäckteilchen-Teller und einer großen Tasse. Daneben lag ein Zettel. Abeia las: „Guten Morgen! Wir sind bis 9 Uhr auf der Shijata. Danach frühstücken wir alle zusammen auf der Veranda meiner Eltern, wenn du magst. Du kannst dich noch ausruhen oder dich auch einfach umsehen, wenn du möchtest. Wenn du den Hausdienst brauchst, geh einfach nach vorne. Die Kurzwahltaste 1 auf deinem Handy geht direkt zum Diensthabenden der Keayake. (du hast eine neue sim-Karte, aber die Nummern sonst sind dieselben). Bitte nicht alleine ins Wasser gehen. Falls du einen Hund siehst, nicht erschrecken, sie tun dir nichts. Jinai.“ Abeia fuhr sich durch die Haare. Von draußen duftete es intensiv nach Meer. Abeia trat auf die offene Terrasse. Rechts und links sah man weitere Häuser mit großen Verandas. Überall blühte es. Rechts glitzerte das Meer. Abeia sah eine Weile auf die unglaublich intensiven Farben. Spürte, dass ihr das guttat. Dass sie das brauchte: Einfach nur gucken. Etwas in ihrem Tempo zu verarbeiten. Irgendwann nahm sie das Gebäck vom Teller und aß es. Ein wunderbar dünner Hefeteig, der mit einer Füllung aus intensiv schmeckenden Pflaumen und Mohn gefüllt war. Daneben stand ein Glas mit kaltem Kakao. Abeia trank und genoß den wunderbaren Geschmack von Kakao und Vanille. Wo in Deutschland gab es so einen Kakao.
Mit von der Dusche nassen Haaren trat sie auf die Terrasse. Auf den Rasenstücken der anderen Häuser war niemand zu sehen. Abeia hockte sich hin und legte ihre Hand auf das wunderbare Holz, das sie schon gestern so bewundert hatte. Es war warm und wirkte fast weich. Duftete. Die Wände von außen bestanden aus einem edel aussehenden, fast grau marmorierten Naturstein, in den schwarze Platten eingelassen waren. Von rechts klang das gleichmäßige Geräusch der Brandung. Abeia richtete sich auf und sah sich um. Immer noch war es völlig still. Abeia ging mit nackten Füßen über das Holz. Sah sich. Sah die Stille. Und sah Naraita.
Der große, wunderschöne Innenhof mit dem langgezogenen Pool lag menschenleer. Hatten die Noja sie bewußt alleine gelassen? Oder hatten sie ihr einfach den Schlaf gegönnt? Abeia spürte, wie gut ihr das Alleine-Sein tat. Das Zeitgefühl ging wieder verloren. Sie sah alle Bilder noch mal vor sich. Hörte die Stimmen. Und spürte, wie sie sich gefühlt hatte. Der Tag begann. Und ihr Glück begann.
Plötzlich war die Angst weg. Und die Leichtigkeit wieder in ihrem Körper. Nicht die Leichtigkeit von gestern. Sondern die Leichtigkeit der Reise, die Henriette und Abeia vor einem Jahr begonnen hatten. Ein Jahr. Abeia war auf den Sand getreten und sah auf die Wellen. Und plötzlich mußte sie lachen.
Es war ein wunderschöner Strand. Das Wasser war hellblau und glasklar. Noch niemals hatte Abeia so klares Wasser gesehen. Und noch niemals hatte sie Fische in den Wellen an einem Strand gesehen. Fasziniert blieb sie stehen. Die Fische waren bunt und klein. Aquarium. Abeia trat näher. Dann zog sie ihre Schuhe aus, legte das Handy in die Schuhe und ging bis zu den Knöcheln ins Wasser. Das Wasser war warm. Wirkte weich. Die Wellen umspielten sie sanft. Die See war ruhig. Als Abeia zwischen die Fische trat, stieben diese auseinander. Ruhig blieb sie stehen. Sofort kamen die Schwärme wieder näher. Abeia lachte. „Hallo.“ Die Welle klatschte bis an ihr Knie. Ihre Hose war naß. Aber es war warm. Irgendwann ließ Abeia sich einfach fallen.
Als Abeia die Hunde sah, erschrak sie so sehr, dass ihr ganzer Körper zusammenzuckte. Sie hatte sie nicht kommen sehen. Und die Hunde hatten sich nicht bemerkbar gemacht. Sie lagen einfach da, wie in Stein gegossen: Zwanzig Meter hinter ihr an der Grasnarbe vor dem Sand. Es waren sieben. Sie lagen nebeneinander, zwei etwas abseits, und wirkten wie ein großes Rudel Löwen. Einige waren silbern, einige golden oder braun. Sie schienen alle sehr groß. Und sie sahen alle zu ihr. Abeia wagte erst kaum, sich zu bewegen. Dann erkannte sie Nendo. Der Leithund lag etwas abseits und tat nichts. Abeia konnte nicht einschätzen, was das bedeutete. Die Hunde kannten sie nicht. Galt sie als Eindringling? Würden sie ihr etwas tun? Eine Weile war Abeia ratlos. Dann stand ein Hund auf und kam auf sie zu. Abeias Herz pochte. Sie durfte nicht weglaufen. Der Hund hatte ein helles Fell. Er schien zu Abeia zu wollen, aber plötzlich hielt er inne. Gleichzeitg kam Bewegung in die Hunde. Abeia zuckte zusammen, doch die Hunde bewegten sich weich und fast lautlos. Wie im Gleichschritt liefen sie Richtung Haus. Abeia atmete aus.
Wieder war die Zeit verlorengegangen. Abeia saß auf dem Sand und ließ sich in den Wellen umspülen. Behielt immer die Hände hinter sich auf dem Boden, um darauf achtzugeben, dass sie ganz vorne blieb. Nicht richtig ins Wasser ging. Die Fische umschwommen sie neugierig. Schienen sie zu begrüßen. Vom Strand aus sah man die wunderbar verschachtelte, leichte und doch elegante Architektur der Einzelhäuser, die von weiter entfernt doch wie ein großer Komplex wirkten. Eine aufgebrochene Front. Abgestufte Gärten. Kleine Wege. Der Strand lag deutlich tiefer, aber der Abhang war weich und elegant angelegt. Violett und purpur blühende Pflanzen. Wunderschöne, große Bäume, die Abeia noch nie gesehen hatte. Das Wasser war wunderbar warm. Seicht. Wie ein flacher See. Plötzlich fühlte Abeia die Angst, die sie vor dem Wasser hatte, langsam schmelzen. Es herrschte Ebbe. Man sah, wie lange das Wasser flach blieb. Sogar weiter draußen ragten flache Steine aus dem Wasser. Sie machte ein paar Schritte. Das Wasser ging nur bis zu den Knöcheln. Auf dem ersten Stein setzte sie sich wieder. Noch immer war das Wasser nur an den Knöcheln. Eine Welle umspülte sie sanft. Abeia fühlte sich leicht. Wußte nicht, ob sie mit dem Bad die Haustracht ruinierte. Ob die Noja glücklich darüber waren, wenn sie tropfnass in ihr Schlafzimmer zurücklief. Aber Abeia mußte lachen. Wieder beobachtete sie die Fische. Die Farben. Die Sonne glitzerte. Dann sah sie die Welle auf sich zukommen. Urplötzlich war sie entstanden: Weit und breit auf dem flachen Wasser war alles ruhig. Die Welle kam langsam heran. Erschrocken stand Abeia auf, um an das nahe Ufer zurückzulaufen. Doch plötzlich war das Wasser bis über den Knien. Es gurgelte. Sie stand mitten in einer Strömung. Die Strömung war so stark, dass sie das Bein kaum bewegt bekam. Noch immer war die Meeresoberfläche ruhig. Sie wurde auch nicht mit dem Wasser mitgezogen. Aber sie kam nicht vorwärts. Die Welle war schon viel näher. Abeia spürte eine kalte Woge von Panik. Das Meer war gefährlich. Keyo Adenas Stimme. „Geht nicht ins Wasser, auch abends nicht, auch nicht bis zu den Knien, auch nicht, wenn das Wasser vorne gerade ruhig erscheint.“ Niemand in Naraita wußte, dass sie nicht schwimmen konnte. Abeia blickte panisch um sich. Dann sah sie den Mann. Er stand vor einer umgeklappten, sehr schweren Holzliege. Schien an die Beine gelehnt. Er wirkte hochgewachsen und athletisch. Die Haare waren dunkel und graustichig. Abeia sah, dass er eine beruhigende Handbewegung machte. Die Handbewegung ging nach vorne. Niemals zuvor hatte Abeia eine solche Bewegung gesehen. Soviel Ruhe. Kein Wort. Keine andere Geste. Nur dieses Gleiten der Hand, das sie sofort verstand: Sie sollte sich von der Welle über die Strömung tragen lassen. Von hinten zog sie etwas. Die Welle war heran. Abeia wollte aufschreien, aber das Wasser hob sie schon hoch. Sie fiel mehr nach vorne als dass sie sich gleiten ließ. Hielt den Atem an. Die Welle hob sie hoch. Abeia bewegte ungelenk ihre Beine. Dann brach die Welle sich am Ufer. Nicht mal laut. So groß wie befürchtet war die Welle gar nicht gewesen. Und auch nicht kräftig. Fast eher sanft. Jetzt konnte Abeia wieder laufen. So schnell sie konnte verließ sie das Wasser. Die Strömung war völlig verschwunden. Endlich stand sie auf dem Sand. Der Schreck ließ ihre Knie weich werden. Die Haustracht klebte nass an ihrem Körper. Der Wind wirkte plötzlich kalt. Der Mann war herangekommen. Abeia nahm ihn erst gar nicht richtig wahr. Der Schreck holte sie ein. Vielleicht waren die Knie weich. Oder es fühlte sich nur so an. Abeia hatte das Gefühl einzuknicken. Sie setzte sich auf den Sand. Der Mann setzte sich neben sie. Er trug eine seltsam kurze und enge Tracht. Er löste ein Tuch in seinem Rücken und gab es Abeia: „Legen Sie das um.“ Abeia atmete schwer aus. „Ich..“ Der Mann nickte nur: „Es ist schon warm, aber der Morgenwind ist noch kalt.“ Abeia fröstelte. Das Tuch war weich. Schwer und leicht. Warm. Erst jetzt sah Abeia den Mann genauer. Ein Schrank: was sonst. Aber im Moment fand sie gut, dass da ein Schrank war. Er wirkte ruhig und so als könne sie sich an ihn anlehnen. Sie tat es nicht, aber irgendwie wirkte es dennoch. Sein Blick war tief warm. Abeia wickelte sich in das Tuch und wollte etwas sagen. Es kam nichts. Der Mann sagte sanft: „Wollten Sie ein bißchen schwimmen gehen?“ Abeia preßte etwas heiser: „Eher... nicht.“ „Herzlich Willkommen in Naraita, Frau Richter. Ich bin Inetai Noja.“ Abeia spürte einen trockenen Hals. Sie preßte: „Ich..“ Die Stimme versagte kurz. „Was war denn das, was... ich wollte nicht.. nur mit den Beinen... es war nur bis zu den Knöcheln.. ich habe extra aufgepaßt, dass ich nicht..“ Inetai Noja nickte. „Es kann Ihnen hier überhaupt gar nichts passieren.“ Abeia kämpfte gegen die Tränen. „Ich dachte, das.. wäre noch das Ufer, das war.. so flach und ich dachte... ich setze mich zu den Steinen, aber.. dann kann ich ja gar nicht mehr zurück plötzlich.. ich dachte, ich wäre am Ufer.. ich wäre ja niemals ins Wasser gegangen...“ „Wenn die Wellen zunehmen, entsteht eine Rückströmung. Gegen die können Sie nur schwer anlaufen, aber das brauchen Sie auch gar nicht. Die Welle selbst bringt die Energie wieder mit.“ Abeia flüsterte: „Und wenn Sie nicht da gewesen wären.“ „Ich habe nichts getan.“ „Das... doch. Ich.. glaube, ich wäre sonst in Panik geraten. Ich..“ Sie sah sich um. „Vorhin.. waren auch noch Hunde hier. Sehr.. viele..“ Inetai nickte lächelnd und sah nach hinten. Abeia folgte seinem Blick und sah, dass die Hunde wieder beieinander lagen, etwas weiter Richtung Haus zurück. Abeia spürte einen trockenen Hals. „Ein Hund hat.. kam plötzlich auf mich zu.“ Inetai nickte ruhig. „Für die Hunde sind Sie ein Kind. Ande hat Sie so vorgestellt. Als jemanden, der unerfahren ist. Die passen auf Sie jetzt sehr genau auf, und als die gesehen haben, dass Sie ans Wasser gehen, da sind die sofort mit allen Positionen auf der Matte.“ „Des..wegen?“ „Unsere Kinder dürfen nicht ohne Aufsicht an den Strand. Das wissen die Hunde ganz gut. Paco ist die Hündin, die für vorne zuständig ist. Sie wollte Sie nach hinten verweisen, damit Sie nicht weiter ins Wasser gehen. Aber keine Sorge, die Kollegen haben Sie sehr wohl im Blick. Namio hat Sie als Sie Richtung Strand gingen sowieso gar nicht aus den Augen gelassen, und als er gesehen hat, dass Sie sich erschrecken, hat er die Hunde zurückgeholt. Wenn ich nicht da gewesen wäre, säße er jetzt hier. Er ist derjenige, der auf uns aufpaßt hier.“ Abeia spürte wieder einen trockenen Hals: „Mußten Sie.. wegen mir die Shijata verlassen?“ „Ich habe geschwänzt.“ Inetai Noja lächelte. Und beim Lächeln sah man, dass das Gesicht dieses großen Mannes oft lächelte. „Ich habe bis gerade gearbeitet, und jetzt gehe ich gleich ein bißchen schlafen.“ Abeia sah sich um. „Aber.. die anderen sind noch da?“ „Noch zwanzig Minuten.“ „Jinai.. wird mich umbringen. Er hat mir extra einen Zettel geschrieben...“ Inetai Nojas Stimme klang wunderbar tief. „Jinai hat in seinem Leben schon soviel Mist gebaut, das holen Sie nicht mehr auf.“ Abeia räusperte sich. „Ich bin aber ziemlich begabt.“ „Wir können mit Begabten umgehen.“ Die beiden lächelten. Und plötzlich verstand Abeia, was in Inetai Nojas Augen stand: Güte. Mit einem Mal war die Angst völlig weg. Leise sagte sie: „Vielen Dank, dass Sie.. hier waren. Und mir geholfen haben.“ Erst als sie es aussprach wurde Abeia klar, wie intensiv die Handbewegung von Inetai Noja in den Wellen gewirkt hatte. Die sie sofort aus der Panik geholt hatte – ohne ein Wort. Eine Bewegung des Keto der Iya.
Es hörte nicht auf. Würde es jemals aufhören? Abeia versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren. Die Begrüßungen. Die Wahrnehmung der Gesichter. Trachten. Leichtigkeit. Zuwendung. Auf den wunderbar gedeckten Tisch. Auf das Meer kostbarer Kissen. Die weite Veranda. Das glitzernde Meer. Aber immer wieder zog es ihren Blick hin zu dem wunderschönen Anblick des Innengartens. Der Innengarten war nur zur Meerseite offen. Die Gebäude waren ineinander verschachtelt, leicht versetzt und doch voneinander sichtbar unterschieden. Die Terrassen hatten keinen Sichtschutz und waren nicht in sich abgeschlossen: Der Garten wirkte wie ein gemeinsamer Raum, in dem jeder seinen Platz hatte, um seine Stühle hinzustellen. Im Zentrum des Gartens ruhte ein langer Pool. Um den Pool herum lagen gemeinsame Wege und Flächen mit Liegestühlen. Überall Blumen, Büsche und Bäume. Die Fronten der Häuser waren in einem edel wirkenden grauen Stein gehalten. Auch hier wieder: Schwarze Rahmen. Leichte und gleichzeitig elegante Architektur. Die Häuser wirkten individuell. Besaßen unterschiedliche Größen und Grundrisse. Das Meer glitzerte in der Weite. Ein Blick wie ein Panorama. Abeia spürte nicht, dass sie aufgehört hatte zu reden. Und dass die Noja sie ließen. Jetzt sah sie auch die Hunde wieder: Zwei saßen direkt an der Veranda. Zwei weitere auf einer etwas entfernteren Wiese. Jinai trat neben Abeia. Diese sah zu ihm und sagte: „Es ist wunderschön. Sind das.. einzelne Wohnungen?“ „Ja. Aber sie sind untereinander verbunden und haben im Keller gemeinsame Versorgungs- und Sicherheitsgänge.“ „Wer.. wohnt hier alles.“ „Meine Eltern, Inetai und Ferya, Aryan und Nejae mit den Kindern, Kiyohara und Esaja mit Beo und Ande und Vjeya wohnen in den era-Wohnungen. Regiedo und Rao wohnen im Viro-Haus. Chayas Hochzeit war vor einem Jahr, seitdem wohnt sie bei den Ryozan.“ „Wo ich heute.. geschlafen habe... ist das sowas wie ein Gästehaus?“ „Nein, das ist das viro-Haus. Die viro-Ränge haben dort ihren Raum und auch ein paar gemeinsame Räume, sie haben ja nicht wie die Familien eine größere eigene Wohnung.“ Abeia blieb berührt stehen. Das Viro-Haus. Abeia atmete aus. „Und jetzt bist du gar nicht mehr hier so gesehen?“ „Ich bin heute hier, weil ich einfach nach dir sehen wollte. Und das ist natürlich auch kein Problem. Die Familiengemeinschaften, die es hier auf dem Gelände gibt, sind schon eng miteinander vertraut, und auch nicht mal räumlich weit entfernt. Also die Gemeinschaft von Muria liegt etwas weiter hinten, aber auch dahin ist der Weg kurz. Oft wird auch mal zusammengesessen, oder die Kinder sind mal alle zusammen hier oder drüben. Von den Strukturen aber ist es schon eindeutig zugeordnet. Ich darf natürlich hier einfach hinkommen, aber ich gehe durch das vordere Tor und klopfe an sozusagen.“ „Sozusagen?“ „Naja die Wache läßt mich rein und schleust mich, und dann gehe ich zu dem Ranghöchsten, der da ist, um mich sozusagen bei ihm zu melden, also anzukommen. Das ist alles ganz natürlich, aber es zeigt halt auch, dass ich hier zu Besuch bin.“ „Verstehe. Die Messe ist zusammen, oder.“ „Ja. Die Morgenmesse ist gemeinsam für alle, nicht nur für die Familiengemeinschaften, auch für das Kloster und die Familien. Die Mahlzeiten finden dann innerhalb der einzelnen Gemeinschaften statt. Es gibt auch Gebetszeiten innerhalb der Gemeinschaft, das macht jedes Haus etwas anders. Hier gibt es morgens vor der Messe eine geba, also eine leichte körperliche Übung wie eine Morgengymnastik quasi. Abends gibt es eine Andacht, und einmal in der Woche gibt es eine taneia.“ „Was.. ist das?“ „Eine taneia ist eine gemeinsame Unternehmung, an der alle Ränge der Gemeinschaft teilnehmen. Damit das geht, findet sie meist hier oder zumindest in der nahen Umgebung statt, weil in der Gemeinschaft hier ja alle drei name-Signen der Keayake leben. Also einer davon muss immer sozusagen in Reichweite der Todai sein.“ „Unternehmung?“ „Ist ganz unterschiedlich. Manchmal sind es gemeinsame Spaziergänge oder auch Gespräche, manchmal wird etwas zusammen gebaut, was für die Gemeinschaft wichtig ist, oder es sind Rituale dran je nach Jahreszeit und Entwicklung, zum Beispiel eine Hitae, die ansteht oder Vorbereitungen auf eine Weihe. Es gibt auch viele schöne Keye-Rituale, die die Gemeinschaft ausdrücken und... ja pflegen. Was gemacht wird, legt der Abt fest. Letzte Woche hatten wir drüben zum Beispiel ein großes gemeinsames Kochen und Backen. Das ist natürlich für die Kinder super, aber für alle irgendwie. Und Muria macht mit seiner Gemeinschaft häufig ade-taneia, da singen alle zusammen. Wenn man am See entlanggeht hört man das schon von weitem, das ist toll. Mein Vater geht regelmäßig mit allen in den Kräutergarten, das ist auch wirklich toll. Gemeinsame Gartenarbeit, jeder nach seinen Möglichkeiten, und aber auch der Kontakt mit diesen wunderbaren Kräutern, das ist schon an sich heilsam.“ „Wie schön.“ Abeia sagte leise: „Das sieht so wunderbar aus. Ich wußte nicht, dass es so etwas gibt. Es ist.. so geborgen. Und so.. wunderschön. Hier.. bist du aufgewachsen, oder.“ „Ja. Ich habe ja natürlich mit meinen Eltern zusammen gelebt in der Wohnung. Mit 20 bin ich dann viro-Novize bei Dak geworden. Das scheint irgendwie naheliegend, weil es halt.. nahe liegt. Aber das ist es nicht. Es war wirklich ein Weg, das herauszufinden, und ich war auch erst an vielen anderen Punkten und Umwegen. Ich habe das Noviziat noch nicht beendet, aber es fühlt sich richtig an, wo ich bin.“ Abeia sah auf den Hof. Spürte die tiefe Berührung. Wie konnte sie sich so vertraut fühlen an einem Ort, den sie kaum kannte. Gefüllt mit Menschen, vor denen sie eigentlich Angst gehabt hatte. Leise sagte sie: „Ja, es.. fühlt sich richtig an.“
In Stille zu essen war für Abeia etwas vollkommen Neues. Doch sie mochte es sofort. Die Ränge saßen ruhig und genossen das Essen. Der Tisch wirkte friedlich. Der leichte Wind war zu hören, das Rauschen der Wellen, das Zwitschern der Vögel. Plötzlich schien die Zeit wie angehalten. Abeia sah etwas, was ihr Herz so berührte wie nichts Anderes, seit sie nach Naraita gekommen war. Während des Frühstücks hatte sich das kleine Mädchen von Nejae Yamatais Schoß gelöst und war mit für ihre Größe erstaunlich sicheren, weichen und schnellen Schritten Richtung Rasen gelaufen, auf dem zwei Schmetterlinge umeinander her flogen. Das Mädchen wirkte zart, schön und wie von innen strahlend, fröhlich und völlig offen. Ohne auf ihre Mutter weiter zu achten, war sie von den Schmetterlingen so fasziniert, dass sie laut vor Freude quiecksend dorthin lief. Dann sah Abeia, wie die goldene Hündin vor das kleine Mädchen trat. Abeia verstand sofort, was die Hündin tat: Das kleine Kind sollte nicht zu weit vom Rudel weglaufen. Die Hündin stupste das Kind sanft an und schaute dabei so liebevoll, dass Abeia ganz eng im Hals wurde. Das Mädchen quiekte wieder begeistert und umarmte die Hündin. Die Hündin schmuste mit dem Kind und dann traute Abeia ihren Augen nicht: Ganz sanft nahm die große Tae die Tracht der Kleinen mit dem Maul auf, hob das Mädchen mühelos hoch und trug es wie einen Welpen wieder zum Tisch. Sie schien ganz genau zu wissen, wo die Tracht war und wo die Haut des Mädchens begann. Noch niemals hatte Abeia ein Tier so liebevoll und zart gesehen. Es sah völlig natürlich aus, und das Mädchen wehrte sich nicht. Laut lachend setzte sie sich auf den Boden neben ihrer Mutter, die sie wieder annahm. Die Hündin setzte sich neben das Mädchen und bewachte sie. Abeia schluckte.
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