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Buch-Leseprobe Teil 14: Geschichte von Naraita - eine Reise durch die Landen der Seele der Welt

  • Autorenbild: Petra Schrader
    Petra Schrader
  • 8. Feb. 2023
  • 25 Min. Lesezeit



Abeia blätterte langsam durch die Fotoseiten, die das zweite Kapitel einleitete. Intensive Farben. Rot-Gelb-Orangene Herbstblätter. Braune Schilflandschaften. Hellgrüne Bambushaine. Weiße Baumstämme. Schwarze Felsen. Riesige klare Seen. Weiße Strände. Grüne Weiten. Sie blätterte weiter.


Geographie und Geschichte: Denn beides kann man nur zusammen verstehen


Weite Naturlandschaften findet man auf allen Kontinenten der Erde. Wilde, leere und überfüllte. Überall aber ist die Landschaft auch der Geschichte geschuldet. Der fehlenden Möglichkeit zu siedeln. Der fehlenden Fruchtbarkeit. Der wirtschaftlichen und technischen Unterentwicklung. Der schweren Zugänglichkeit. Oder der Grenzkonflikte. Wer diese Luftbilder sieht und sich auskennt ahnt: Nirgendwo auf der Welt sind so vielfältige Vegetationszonen, so unterschiedlich nutzbarer Böden, so reiche Fauna und ein so abgestuft und vorgesandeter Meeresbereich zu finden: Mit allen Möglichkeiten. Großer Fischreichtum, riesige Korallenbänke, Wild, Nutzboden, Bodenschätze: Naraita hat klug gewählt. Denn so ist der Staat der zwei Inseln entstanden: Durch eine Wahl. Um 291 n.Chr. entschieden die von Kaiser Hakarao nach Japan verschleppten Fiyoa unter ihrem damaligen Sheya Gabemo Amaterai, das Angebot des Kaisers anzunehmen und aka asai zu segeln: Nach Süden. Dort, so sagte man, sei ein kleines Stück Land zu finden. Kaiser Hakarao wußte nicht viel über dieses Land, und auch Gabemo Amaterai wußte, dass der Kaiser seinen Stamm nicht dorthin sandte, damit sie dort siedeln konnten. Sondern um sie zu töten.



Ein kleiner Exkurs zu den Wurzeln der Fiyoa: Mesopotamien, diese wunderbare, archaische, vielleicht mystische Wiege zwischen den beiden großen Flüssen, Ort frühester Besiedelungen von Menschen, von blühenden kulturellen Entwicklungen und großen Königreichen, Ort auch von vielen Konflikten, Kriegen und verschiedensten ethnischen Besiedelungen, die immer wieder auch verfolgt werden. Die Fiyoa waren ein Volksstamm, dessen erste kulturelle Zeugnisse als bis 2000 Jahre vor Christi Geburt zurückverfolgbar gelten. Welche Zeugnisse das genau sind, ist für externe Historiker nicht bekannt, da die wenigen erhaltenen Schriftstücke und Archive heute im gabe atai, dem Archiv der Todai aufbewahrt werden, zu dem nicht-naraitische Wissenschaftler keinen Zugang bekommen. Dabei gibt es durchaus Historiker, die der Meinung sind, dass die Ur-Fiyoa der faszinierendste und dabei am schlechtesten untersuchte und archäologisch verstandene Stamm der Welt sind. Lange Zeit hat man sich auch nicht mit ihm beschäftigt, da er sehr klein war. Was war an dieser kleinen Stammesgruppe, die tausend Jahre vor Christi Geburt vielleicht nur 800 Menschen umfaßte, so faszinierend? Die tiefe Unterschiedlichkeit des Genoms, das bis heute faszinierend bleibt. Man kann nachweisen, dass die damalige und bis heute unangefochtene Führerfamilie der Amaterai schon damals in Mesopotamien verschiedene Familien um sich sammelte. Vermutlich waren dies eigene Stammesfamilien, die ebenfalls in Mesopotamien entstanden. Selbst für damalige Verhältnisse geographisch nicht weit entfernt voneinander nahmen sie ihren Ursprung und waren doch sehr unterschiedlich. Eine Unterschiedlichkeit, die genetisch so deutlich ist, dass es bis heute, 4000 Jahre danach, noch immer möglich ist, dass Nachkommen dieser Urfamilien – obgleich längst mit dem Genom der Kiye verbunden – dennoch untereinander immer wieder heiraten können, ohne dass sich Inzuchteffekte ergeben. Mehr noch: Immer noch gelten die Prägungen dieser Urfamilien nachweisbar und unterscheidbar und werden bis heute in Naraita genauso benannt wie damals bei den Fiyoa. Wissenschaftler sprechen von einem expressiv vitalen Genom, das sich durch die Verbindung mit anderen Genen immer wieder neu ausdrückt, aber im Kern nicht verschwindet. Überall auf der Welt sind solche Charakteristiken bekannt innerhalb von Staaten. Werden Eigenarten und Prägungen bewahrt. Ein Ostfriese und ein Katalane tragen sehr bei aller moderner Urbanität und Vernetzung Unterschiede, die nicht nur in der Erziehung liegen. Einzigartig aber war, dass die Familien, die unter den Amaterai zusammenfanden, alle in Mesopotamien entstanden und in ihrer eigenen, tiefen vitalen Identität nicht Kriege mit den Amaterai begannen wie alle anderen umliegenden Stämme und Länder, sondern sich diesem besonderen Stammesfürsten freiwillig unterwarfen und so einen gemeinsamen Stammesverbund bildeten. Das Amai, das bis heute in Naraita gesprochen wird, besaß ein ebenfalls bis heute verwendete eigene Spracheben für die adlige Ebene, das Keigo. Ein Hinweis auch darauf, dass die adligen Familien, wie sie genannt werden, von Anfang an an der Führung beteiligt wurden. Es kam also nicht zu einer Entmachtung und Auflösung der alten Familien, sondern diese wurden unter den Amaterai neu eingesetzt. Damit hatte der kleine Stamm sehr viele adlige Ränge. Soziologisch untypisch und eigentlich auch instabil: Zuviele Häuptlinge, zuwenige Indianer. Doch was hier geschah war etwas Anderes. Ein Wachstum begann. Und es begann – wie die Naraita bis heute glauben - schon zu Beginn in einer Vielfalt. Die Gnade einer gesegneten und berufenen Führkraft wuchs in tiefer Vielfalt, in einer solchen Kraft, dass es nicht eine einzelne Familie gab, die dies trug, sondern insgesamt zwölf. Mochte die Fiyoa auch noch ein sehr kleiner Stamm sein: Die Vitalität, die dort versammelt war, kann als einzigartig gelten. Und das Wachstum begann. Es begann langsam, tief und in seiner eigenen Gestalt. Die Menschen, die als nicht-adlig galten, wurden von den führenden Familien gut behandelt. Sie wurden versorgt, geschützt, nicht ausgebeutet, bekamen Zugang zur damaligen Medizin, bekamen Land zugesprochen. Dies hatte zur Folge, dass die Anzahl dieser Menschen wuchs. Noch immer aber handelte es sich um einen kleinen Stamm. Noch immer waren scheinbar mehr Führränge da, als gebraucht wurden. Doch die Amaterai ließ jeder Führungsfamilie ihre Stellung und Zeit, sich zu finden. Begannen, die verschiedensten Charismen zu erkennen und miteinander zu verbinden. Hundertfünfzig Jahre nach Christi Geburt ließen die Amaterai sich taufen. Sie brachten ihrem kleinen, vitalen Stamm das Christentum, und so gelten die Fiyoa heute als eine von drei christlichen Keimzellen der Urkirche.


Im zweiten Jahrhundert nach Christi Geburt wurde die Situation für die Fiyoa immer schwieriger. Das persische Großreich der Sassaniden expandierte. Und aus dem fernen Osten rückten die Truppen von Kaiser Hakarao immer näher. Beide waren für den kleinen Stamm der Fiyoa eine schwere Bedrohung, denn die Wasserebenen, in denen sie siedelten, waren nicht nur strategisch sehr günstig gelegen, sondern auch äußerst fruchtbar. Wer sich in die damaligen historischen Zusammenhänge einspürt könnte vielleicht folgendes sagen: Hätten die Sassaniden begriffen, wer die Fiyoa waren. Hätten sie sich vielleicht wie die anderen kleinen Stämme auch den Amaterai und ihren mittlerweile zur Führung gereiften Familien anvertraut. Vielleicht wäre dann ein Reich entstanden, das niemand geahnt hätte. Denn die berufene Führung der Fiyoa hätte dann plötzlich ein großes Volk gehabt. Eine Armee. Land. Sie hätten Hakarao stoppen können – und hätten das Geschenk der weisen und zugewandten Führung auch dem großen Volk der Sassaniden geschenkt. Wären mit diesen zusammengewachsen. Natürlich kam dies für die sassanidischen Herrscher nicht in Frage. Sie führten ein für damalige Verhältnisse riesiges Reich und hatten die Fiyoa nur deshalb nicht früher angegriffen, weil sie die die Grenzen ihres Reiches sichern mussten und noch mit Expansion in andere Richtungen beschäftigt waren. Dennoch galt ein Angriff auf die Fiyoa nur als Frage der Zeit. Die Sassaniden begriffen nicht das Geschenk, das ihnen angeboten war. Sie verstanden nicht, was es bedeutete, dass dieser kleine Stamm in seiner ganzen Geschichte noch keine Nachbarn erobert hatte – und von den durchaus sehr kriegerischen Stammesnachbarn nicht erobert worden war. Sie fragten sich nicht, was das bedeutete. Doch die Sassaniden vergaben nicht nur diese Chance – sondern sie entschieden, an den Fiyoa einen Völkermord zu begehen. Den Stamm auszulöschen. Die Sassaniden handelten dafür mit Abgesandten des heranrückenden Hakarao einen Deal aus: Hakarao würde seinen Feldzug stoppen – was er wahrscheinlich sowieso bald getan hätte, da auf der anderen Seite das Römische Reich begann -; für seinen Rückzug bekam er den „sektiererischen“ Stamm der Fiyoa, um die Männer hinzurichten und die Frauen und Kinder – zu dieser Zeit etwa 6000 Menschen – als Sklaven mit nach Japan zu nehmen. Der damalige Führer der Fiyoa wurde von seinen Familien Sheya genannt. Der Sheya des Jahres 192 hieß Gabemo Amaterai. Gabemo verstand, dass der kleine Stamm, den er führte, sich in einem Wachstum befand. Und dass er den Ort, den er als Heimat kannte, verlassen musste. Er war auf Dauer nicht zu sichern. Die Jahrhunderte der kommenden Christenverfolgung in Europa und Vorderasien mochte er vorausgeahnt haben. Und abgesehen von den territorial agressiven Nachbarn war die Bedrohung durch Hakaraos Armee final: So üblich es damals schien, dass sich eine so kleine Armee dann opferte, so wenig war damit erreicht. Frauen und Kinder würden den Soldaten ausgeliefert sein. Und eine von wie wir im historischen Rückblick sagen können drei großen Keimzellen des Christentums wäre ausgelöscht worden. Gabemo spürte, dass etwas Neues wuchs. Aber er wußte nicht was. Und er wußte nicht wo. In der Geschichte von Naraita wird überliefert, dass Gabemo drei Tage und Nächte wachte und betete. Drei Tage: Eine alte, vielleicht nicht wörtlich zu nehmende Frist. Doch es zeigt etwas Besonderes: Die tiefe Verwurzelung der Führungstradition der Sheya der Amaterai in ihrem jungen, sehr kraftvollen Glauben. Und dann traf Gabemo auf Hakarao. Hakarao sah, wie überliefert wurde, „die schönsten Frauen und die mutigsten und stärksten Krieger, der er je gesehen hatte“. Der japanische Kaiser und Feldherr spürte sehr wohl, wen er vor sich hatte. Er sah königliche, kriegerische Kraft in einer Form, wie er sie noch nicht angetroffen hatte. Und für einen solchen Feldherrn war der Anblick dieser Vitalität anziehend: Eine Trophäe. Er bot Gabemo Amaterai an, ihn und seine Männer am Leben zu lassen. Wenn die Fiyoa ihrerseits einwilligten, ihm in einer kaiserlichen Elitekompanie zu dienen. Gabemo tat, was niemand erwartet hatte, wohl auch Hakarao selbst nicht: Er willigte ein. Als Bedingung gab er vor, dass der gesamte Stamm zusammenblieb. Frauen und Kinder blieben bei ihren Männern, die Bürger bei ihren Führern. Weiterhin forderte Gabemo, dass die Frauen und Mädchen Hakarao nicht dienen würden, ihre Wohnstätte nicht verlassen würden und der Stamm innerhalb der Mauern der Kompanie seine Religion frei praktizieren durften. Hakarao willigte ein. Gabemo trat vor seinen Stamm. Und dann geschah das Unglaubliche: Die Fiyoa-Familien – selbst Führungsränge und nicht weniger groß, stolz und kampfbereit – folgten Gabemo, ohne zu wissen, weshalb er dies so entschieden hatte. Weshalb er seinen totgeweihten Stamm nicht zumindest in einen ehrenvollen Kampf, sondern in eine Zukunft der Unterdrückung, der Demütigung und der Armut führte. Und genau dies geschah. Hakarao versklavte die Männer der Fiyoa. Er hielt Wort und ließ die Frauen unangetastet. Doch die Männer wurden seine Trophäe, wurden vorgeführt, bekamen entwürdigende Uniformen und mussten bei Triumphzügen als Gefangene marschieren. In Japan bekam die Kompanie ein kleines Stück Land, das sie kaum ernähren konnte. Die Männer wurden eingesetzt in den gefährlichsten und schwierigsten Missionen, die die Japaner selbst nicht übernehmen wollten. Die Fiyoa durften ihr kleines Landgebiet nicht verlassen, auch nicht in Dürrezeiten, bei Überschwemmungen oder Überfällen durch die Landbevölkerung, die der Fiyoa zumeist feindlich gegenüberstand Sie lebten in ihrer eigenen Kompanie mit ihren Familien und wurden von der japanischen Bevölkerung ausgestoßen und verachtet. Die Fiyoa lebten in einer Zeit der Entbehrung und Armut. Scheinbar eine Geschichte des Scheiterns. Der große und geliebte Führer der Amaterai hatte seinen Stamm ins Elend geführt. Dennoch gab es keinerlei Aufbegehren gegen ihn. Der kleine Stamm wuchs noch enger zusammen. Die Identität reifte. Eigene kulturelle, religiöse und medizinische Wege entstanden: Auf dem Boden von Entbehrungen und Unterdrückung. Bildung spielte eine große Rolle. Die Familien pflegten ihre Prägungen. Brachten starke Ränge hervor. Und trotz der Armut und der Kargheit des Bodens wuchs der kleine Stamm heran. Dies war für damalige Verhältnisse absolut außergewöhnlich. Die Mütter- und Säuglingssterblichkeit der fiyoa schienen trotz der widrigen Umstände sehr gering. Der wachsende, sehr heterogene Völkerstamm tat dabei keineswegs das, was die Japaner erwartet hatten: Er entzweite sich nicht, es gab keine Konflikte oder Führungskämpfe, kein Einkippen größerer Teile in kriminelle Milieus. Der Platz und die Ressourcen schienen immer weniger zu werden: Doch es entstand keine Not. Die Fiyoa bewahrten ihre Kraft. Und langsam ging dem japanischen Kaiser auf, dass es ein Fehler gewesen war, so vitale, politisch und militärisch begabte, starke Ränge ins eigene Land gebracht zu haben. Der Hauptteil seiner Armee befand sich auf einem neuen Feldzug Richtung China. Und auf dem Kompanieland der Fiyoa lebten zwanzig Jahre nach ihrere Verschleppung nach Japan aus Gründen, die Hakarao nicht erklären konnte, mittlerweile 50.000 Menschen, davon sicher 6000 sehr kampffähige Männer. Die er in sein eigenes Land gebracht hatte: Mitten hinein. Die Fiyoa besaßen keine Waffen: Daher hatten sie eine eigene körperliche Kampfkunst entwickelt. Eine Kraft, die man ihnen nicht abnehmen konnte. Langsam verstand Hakarao, warum die Sassaniden die Fiyoa hatten loswerden wollten. Im Jahre 135 entschied Hakarao das zu tun, was die Sassaniden auch schon gewollt hatten: Die Fiyoa zu ermorden. Da es für die im Land zurückgebliebenen Truppen nicht so einfach möglich war, die 6000 starken Männer zu überwinden, war davon nach außen nicht die Rede. Sondern Hakarao ließ es wie das Gegenteil aussehen: Er gab den Fiyoa ein Stück Land. Fira asai


Die südlichen Inseln galten als Bermuda-Dreieck des Pazifik. Nicht erforscht, da die Forschungsreisen schlicht nicht zurückkehrten: Keine einzige. Niemand in Japan ahnte damals, dass das Land, das eka asai lag, mehr als fünfzehn mal größer war als ihr eigenes. Heute weiß man, dass die Ursache der heute noch genauso gefährlichen nautischen Bedingungen, unberechenbarer Strömungen, plötzlicher schweren Wetterumschwünge und unzähligen tückischen Untiefen und gefährlicher Korallenriffe in der einzigartigen Klimascheide des Landes liegt. Ein gemäßigtes Kontinentalklima mit einem sanften Übergang in einen leicht mediterranen Charakter auf der einen Insel, eine tropische Zone mit feuchtem Regenwaldklima auf der anderen Insel. Die drei Klimazonen haben eines gemeinsam: Sie stellen jede auf ihre Art die fruchtbarsten Zonen dar, die die Erde kennt. Immer wieder hatten die japanischen Kaiser zu dieser Zeit Verurteilte in Schiffe nach fira asai gesetzt. Politische Gegner. Strafgefangene. Ausgestoßene. Es war die Möglichkeit, ein Todesurteil zu vollstrecken, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Aber die Fiyoa waren nicht eine Gruppe Krimineller. Gabemo Amaterai besaß nicht nur ein mittlerweile angewachsenen, treuen Stamm von Bürgern. Sondern er hatte etwas, was es damals noch in wenigen Regierungen gab: Spezialisten. Hochbegabte Spezialkräfte. Militärexperten. Diplomaten. Taktiker. Infanteristen. Verwaltungsführer. Logistiker. Und: Seeleute. Die Fiyoa waren ursprünglich keine Seeleute, jedoch waren die körperlich kräftigsten von ihnen von den Japanern zu den härtesten Arbeiten versklavt worden, und viele davon betrafen die Arbeit auf See. So lernten viele der Ränge, die man heute exekutiv nennt, nicht nur den Umgang mit großen Booten – kleine Fischerboote hatte es natürlich auch auf Mesopotamiens Flüssen und Seen gegeben - sondern sehr schnell auch höhere Seefahrerkunst. Denn ihr Sheya wußte, dass diese Kunst sehr bald gebraucht werden würde. Heute gilt als gesichert, dass die Ränge, die man in Naraita später Dannao nennen würde, selbst auf die Lösung des Wegs nach Süden hinarbeiteten. Um ein erneutes Mal der Gefahr eines blutigen Völkermords zu entgehen. Und dann begannen die Ränge, die man später Denei nennen würde, eine lebensgefährliche Seereise vorzubereiten, für Frauen und Kinder, für Alte und Kranke, für Seeunerfahrene. Der Transport von 50.000 Menschen, den größten Teil davon Kinder, geschah in drei Etappen und gilt heute als Meisterstück der Organisation und Logistik der Antike. Der Führer der Fiyoa ließ die Schiffe gleichzeitig lossegeln – nur ein Drittel der Schiffe aber machte sich sofort auf den Weg in den Süden. Die anderen Konvoi-Teile warteten in ruhigeren Gewässern auf das Signal zur Weiterfahrt. Damit war sichergestellt, dass die japanischen Truppen nicht doch noch die zurückgebliebenen und jetzt um die exekutiven Führränge dezimierten Fiyoa angriffen. Und die gefährlichste Passage der Reise wurde nicht vom gesamten Konvoi gleichzeitig durchquert, damit die zurückbleibenden oder vorausfahrenden Schiffe den anderen zu Hilfe kommen konnten. Und damit beim Verlust eines Konvoiteils noch andere Teile überlebten. Denn es ging nicht nur um eine Völkerwanderung. Sondern es ging um den Erhalt eines noch jungen Volkes. Eines neuen Genoms. Einer Gruppe von Menschen, die politisch und geschichtlich noch ohne Einfluß waren, verarmt, gesellschaftlich isoliert, und die in dieser existenziellen Not einen Schmelztiegel fanden von eigenen Fähigkeiten, eigener Kultur, eigener Identität. Alle Schiffe kamen wohlbehalten dort an, wo auch heute noch die meisten Touristen bei ihrer Einreise mit dem Flugzeug landen: In Aiza. Und so wurde der Führer einer Kompanie zu einem Führer eines ganzen Volkes – besiedelte ein Land, ordnete eine Gesellschaft und gründete einen Staat. Giyekene Ifeya Amaterai wurde der erste Sheya und gab seinem Land den Namen, das es im hohen Sprachstil der Amai, im Keigo, bis heute trägt: Das „Land des Wassers“. Anayia.


„Amare ist eine Vokabel, die man nur verstehen kann, wenn man mal einen Amare-Ahorn gesehen hat, diesen unglaublichen, vielleicht einzigarten Baum, der in Blätter in unzähligen Farben trägt. Es gibt rote Ahorne und grüne und gelbe – aber der Amare-Ahorn trägt seine Blätter durch das Jahr in unglaublicher Vielfalt. Jeder Ahorn ist dabei wiederum einzigartig. Unzählige Rottöne, Gelb, Orange bis in ein dunkles, aber vitales Braun, das gesamte Spektrum von Grün, dazu kann es silbrig schimmern, violett oder mandelfarben. Und dafür steht auch der Geist, in dem die Fiyoa ihr neues Land entdecken durften. Die Vielfalt. Der Schutz. „Amare“ hat in den Geschichtsanalysen von Naraita eine wichtige Bedeutung – es bezeichnet eine ethische Grundlage, von der die Verfassung des jungen Staates geprägt wurde. Denn nur ein Jahr nach dem ersten Betreten der Insel trafen die Fiyoa im Norden ihres neuen Landes, das damals vor allem das Gebiet und den Umkreis der heutigen Aiza umfaßte, auf die indianischen Ureinwohner. Das alte Volk der Fiyoa traf auf ein ebenfalls sehr altes Volk – Ausgrabungen haben Besiedelungszeichen der Kiye und auch der Pena bis 3000 Jahre v. Chr. zurückverfolgt. Die Kiye wirkten nur auf den ersten Blick wie ein einfaches Volk von Indianern – ihre Gesellschaftsform war sehr differenziert, sie hatten in völliger Isolation von anderen Völkern eigene ethische und kulturelle Strukturen entwickelt. Sie kannte kein Expansionsstreben und keine Kriege. Sie waren vor allem Fischer und damit die eigentlichen und exzellenten Kenner der Wetter, der Gezeiten und des so herausfordernden Meeres um Naraita. Hatte die Seefahrerkunst von Japan noch unter anderem in verschiedenen Strategien bestanden, wie man sich afa asai nicht ungewollt zu sehr nähert, - diese Strategien gelten bis heute - waren nun hier indianische Seeleute, die in diesem Wasser lebten und überlebten. Das Schicksal dieser wunderbaren und sanften Inselgesellschaft allerdings schien zu Land besiegelt: Zwar besaßen auch die Kiye ihre eigene Kampfkunst; die Fiyoa aber waren nicht nur exzellent ausgebildete, erfahrene Soldaten, waren Verbannte, Verfolgte, die ein Land gefunden hatten, das sie sich nun nicht wieder abnehmen lassen würden, sondern sie hatten mittlerweile auch wieder Waffen konstruiert. Deutlich stärkere Waffen, als die Kiye trugen. Doch Giyekene Amaterai unterwarf die Kiye nicht. Die Fiyoa blieben sich treu: Das Land war groß genug. Nie hatten sie ein anderes Volk unterworfen. Und auch die Kiye griffen die Fiyoa nicht an, solange sie es noch konnten. Solange diese noch nicht mehr gewachsen waren. Ebensowenig zogen sich die Kiye in ihre schwer zugänglichen Ursprungsgebiete in der Aroka zurück: Sie schienen sich von den Fiyoa nicht bedroht zu fühlen. „Seeindianer“ hat man die Kiye in späterer Geschichtsschreibung genannt – tief mit der Natur und ihrem Land Verbundene, die gelernt hatten, dieses wunderbare Land mit seiner gefährlichen Natur, mit Wasser, mit Wetter, auch mit giftigen Tieren und Pflanzen, wie es sie nirgendwo anders so zahlreich gibt, zu respektieren, zu verstehen, zu nutzen und zu lieben. Giyekene Amaterai mochte gespürt haben, dass er die Kenntnisse und die Erfahrung, die uralten Künste der Kiye brauchte, um in diesem Land zu überleben. Und so bewies der erste Sheya der Fiyoa eine Weitsicht und ein Gespür für die Zukunft, wie man sie wohl bei keinem anderen Staatenführer der Geschichte finden kann – er verstand, dass Fiyoa und Kiye füreinander bestimmt waren. Dass dies nicht eine zufällige Reise gewesen war: Sondern eine Reise in eine Heimat. In die Zukunft eines gemeinsamen Volkes. Und dann kam es zur ersten und wichtigsten politischen Heirat von Naraita – Giyekene Amaterai verheiratete seinen ältesten Sohn mit der Tochter des Obersten Häuptlings der Awakai. Und legte so den Grundstein für ein Genom, das weltweit einzigartig war und bis heute bleibt: Mesopotamische Gene, aus unterschiedlichsten Linien in einem Volk vereint, wurden mit den Genen der Ureinwohner von Jea erneut vermengt. Nicht nur die adligen Ränge wurden über die Generationen langsam um die Gene der Kiye bereichert – die 50.000 Menschen, die Japan verlassen hatten, wuchsen nach zwei Generationen bereits auf 600.000 an. Das Land und die Gewässer waren fruchtbar. Konnten die Menschen ernähren. Und so entstand über die Generationen hinweg ein neues Volk in einem neuen Land: Als Giyekene Amaterai das Sheyanat an seinen Sohn abgab, bekam das Land der Fiyoa und Kiye den Namen, den es bis heute trägt und der ein Tribut ist an die große Familie, die es damals gründete und bis heute führt: Naraita. Das weiße Land.


Noch einmal gab es eine Begegnung mit den Fiyoa und den Ureinwohners des heutigen Naraita: 80 Jahre später wurde die südliche Insel kartiert und besiedelt. Der Staat wuchs. Und im Regenwald von Aiba trafen die militärischen Einheiten der Naraita auf die Pena. Ähnlich wie die Kiye waren auch die Pena in kleinen Dorfgemeinschaften organisiert. Die Pena waren keine Fischer, konnten keine Boote bauen, sondern lebten im Regenwald. Der Kontakt der Naraita mit den Pena verlief anders als der mit den Kiye. Und war doch gezeichnet von derselben typischen inneren Haltung: Amare. In friedlicher Kraft. Die Pena ließen die Ankommenden ein. Und die Ankommenden, obgleich militärisch klar überlegen, kamen in Offenheit. Zeigten ihre Überlegenheit nicht. Waren neugierig und gaben dem Kontakt der beiden Völkergruppen eine Chance. Aus diesen Kontakten folgte ein Staatenbündnis, wie es bis heute einzigartig ist: Die Pena wurden Bürger von Naraita. Und blieben dennoch völlig isoliert. Sie wünschten keine Aufnahme in die große Gesellschaft, die dort wuchs. Bis heute bleiben viele ihrer Stämme ohne Kontakt zur Zivilisation. Und stehen unter dem Protektorat der adligen Familien, die für sie ein besonderes Bürgerrecht entwickelt haben: Die Pena haben somit in ihrer gesamten Geschichte Jahren keinen Krieg erlebt hat, keine Eroberung, keine externen Epidemien, keine Ausbeutung. Weil die Naraita ihren Schutz übernommen hatten. Auch für sie ein Militär bereitstellten. Weil sie eine wichtige Grundhaltung in das Leben und das Wesen ihres Staates einwoben: Die Vielfalt des Amare-Ahorns. Die Fülle des Lebendigen. Auf den ersten Blick ist es ein einseitiges Bündnis: Die Pena werden geschützt. Und was geben sie? Was bekommen die Fiyoa von den Pena. Wer diese Frage stellt, hat Naraita nicht verstanden.


Die Römer, die Griechen, die Wikinger. Julius Cäsar. Alexander der Große. Dschingis Khan. So viele Geschichten, so viele weite Wege, Verwicklungen, Dramen. Unzählige Male wurden diese Gestalten verfilmt, große Dichter verewigten sie, bis heute findet man sie in Literatur, Kultur, Theater, Oper. Der Weg der Fiyoa zur Hochzeit mit der Kiye, zur Gründung des Staates Naraita ist außerhalb von Naraita wenig bekannt und schon gar nicht Gegenstand von Filmen oder Dramen. Warum nicht? Es gibt Historiker, die nennen Gabemo Amaterai den vielleicht größten Staatenführer der Geschichte. Die Naraita verehren ihn bis heute zutiefst. Aber außerhalb von Naraita gilt er als gescheitert. Auch heute noch wird er verurteilt und sogar geschmäht. Hat er doch seinen Stamm damals ohne Widerstand gefangennehmen lassen. Und wohin hat er sie geführt? In Armut. Das wäre Julius Cäsar nicht passiert. Gabemo Amaterai gilt als Besiegter, und die Anlandung der Fiyoa in Aiza als Fluchtpunkt von Vertriebenen. Noch heute gelten Darstellungen von der Vorführung der Fiyoa-Soldaten und Bilder von Triumphzügen als Kulturgut in ultrarechten japanischen Kreisen. Die japanische Regierung tut traditionell nichts, um dagegen vorzugehen. Immer wieder geraten japanische Fischer in Seenot, die sich naraitischen Gewässern mehr nähern als sie wollten. Diese Ereignisse werden in Teilen der japanischen Gesellschaft negativ rezipiert: Statt wahrzunehmen, dass die Iya, die Seestreitkräfte von Naraita in solchen Fällen diesen Menschen durchweg zu Hilfe kommt, sie teilweise aus dramatischen Situationen und mit Risiko für das eigene Leben abbirgt, wird das Geschehen einfach umgedreht: Naraita sei an der Seenot schuld. Das Land verweigert die Vertiefung der Trassen und biete daher ausländischen Schiffen, die von Strömungen und Stürmen erfaßt werden, durch die vorhandenen Untiefen und Riffe eine Gefahr, die mit heutiger Technik vermeidbar wäre. Tatsächlich gibt es einen leichten Weg, wie man dieser Gefahr aus dem Weg geht: Man darf sich Naraita einfach nicht nähern. Auch in internationalen Gewässern gibt es bereits Zonen, die erfahrene Seeleute meiden, obwohl sie noch nicht zu naraitischem Sperrgebiet zählen. Regelmäßig versuchen besonders japanische Seestreitkräfte doch, diese Gebiete zu durchqueren. Zwar gibt es hochwertiges Kartenmaterial, jedoch verändern sich durch die Mikrobeben und starken Strömungen die Boden- und Riffgegebenheiten immer wieder, dazu kommt ein sehr unberechenbares Wetter. So geraten auch moderne und schwere Kriegsschiffe regelmäßig in Schwierigkeiten und müssen Routen wieder abbrechen. Die naraitischen Seestreitkräfte verfolgen hier eine sehr konsequente Haltung: Sie verlassen ihre Gewässer niemals. Vor elf Jahren gab es einen schweren Zwischenfall: Ein japanisches Kriegsschiff trieb manövrierunfähig in internationalen Gewässern vor der naraitischen Mea. Drei weitere japanische Schiffe versuchten zu Hilfe zu kommen, zwei verunglückten ebenfalls. Daraufhin kamen Schiffe der chinesischen und der US-Marine sowie japanische Flugzeuge zusammen im Versuch, die Schiffe und Besatzungen zu sichern. Die USA schickten Aufklärungsflieger, es wurde eine Wetterstation stationiert, Krisenzentren eingerichtet. Auch Naraita wurde um die Entsendung von Schiffen gebeten. Mittlerweile waren vier Schiffsbesatzungen in den anhaltenden Stürmen gefangen. Nur vordergründig ging es dabei um eine schnelle Lösung für diese Schiffe. Vor allem ging es vor allem um ein massives Kräftemessen. Naraita gilt als nicht einnehmbar. Das galt in früheren Jahrhunderten, und es gilt bis in heutige moderne Zeiten. Es ist bekannt, dass der US-amerikanische Geheimdienst Pläne archiviert hat, wie jedes denkbare andere Land der Welt militärisch einzunehmen ist – auch eigene Bündnispartner. Naraita ist nicht einzunehmen. Zwar wären Angriffe über die Luft möglich. Aber die Luftverteidigung von Naraita gilt als sehr stark; die Raketen und Drohnenabwehrtechnologien als die weltbesten. Dazu kommt, dass der Anflug auf Naraita aufgrund häufiger Turbulenzen als sehr schwer gilt und in der zivilen Luftfahrt strengen Einschränkungen unterliegt. Selbst Staatsgäste müssen bei ihren Anflügen auf das Land sich von Piloten der naraitischen yuka lotsen lassen - was letztlich wohl bedeuten wird, dass diese das Steuer übernehmen. Unabhängig aber vom Szenario von Luftangriffen weiß jedes Militär: Wirklich erobern kann man ein Land nur durch Bodentruppen. Und diese müssen irgendwie anlanden. Genau das aber kann man in Naraita nicht. Größere Schiffe gelangen nicht durch die Strömungen, Mikrobebenwellen und die Riffe. Und sie gelangen auch wie man immer wieder sieht nicht mal in die Nähe der Staatsgrenze. Um den Raum davor ging es auch in diesem Unglück. Das japanische Militär wollte endlich Patrouillenfahrten vor naraitischem Staatsgebiet durchsetzen. So wird verständlich, wie Naraita reagierte: Gar nicht. Die Todai schwieg. Schiffe wurden nicht geschickt. Nach zehn Tagen ließen die Stürme nach. Vier Kriegsschiffe waren gesunken, die Besatzungen wurden von den anderen Schiffen aufgenommen. Und wieder geschah, was immer wieder in den Jahrhunderten geschah: Fremde Kriegsschiffe sinken vor der Mea. Für Japan, die damit ihre zwei größten Flaggschiffe verloren, eine ungeheuerliche Schmach. Ereignisse wie diese weisen auf die Ressentiments hin, die nach wie vor vorhanden sind. Tatsächlich gibt es bis heute keine diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und Naraita: Naraita hat die Japaner immer wieder eingeladen. Aber die Japaner kommen nicht. Und sie erlauben auch keine naraitische Botschaft auf ihrem Boden. Seit dem Untergang ihrer Kriegsschiffe gilt Naraita einmal mehr als Feindbild. Dabei mögen die Japaner unbewußt sehr wohl spüren, dass sie immer wieder die Aggressoren waren. Und dass nicht Naraita ihre Schiffe versenkt hat, sondern sie selbst. Daher ist auch der Tod Gabemos nichts, was in Asien gerne erzählt wird, denn auch hier ist die Rolle Japans kaum ehrenhaft. Dabei ist gut bekannt, wie Gabemo Amaterai starb. Im hohen Alter hatte er seinen ältesten Sohn längst als seinen Nachfolger ausersehen und ausgebildet. Zwei Jahre vor der großen Reise, zwei Jahre vor der Vollendung seines Lebenswerkes, vor der großen Chance, das Land zu sehen, das dies alles wert gewesen war und noch zu Lebzeiten zu schauen, zu begreifen, was dieser Weg bedeutete: Zwei Jahre davor wurden zwei Kinder der Fiyoa von japanischen Räubern entführt. Ein Junge, ein Mädchen. Keine politischen Größen, keine kriegerischen Helden, keine kaiserlichen Gegner: Ausgestoßene, gesetzeslose, herunterkommenen Barbaren, die mal einen der Vogelfreien töten wollten. Die japanischen Behörden interessierten sich nicht für das Schicksal der beiden Fiyoa-Kinder. Und den Fiyoa-Soldaten war es unter Todesstrafe verboten, ihr Kompaniegelände zu verlassen. Gabemo Amaterai sprach mit seinem Sohn, traf alle Vorkehrungen, legte dann einfache Gewänder an, verließ nachts das Gelände und tat das, was sein Lebenswerk war. Sein Wesen. Er gab seine Kraft für sein Volk. Er begab sich zu den Räubern. Die Räuber nahmen das Angebot an: Sie ließen die Kinder frei und nahmen ihn dafür gefangen. Zumindest außerhalb der Todai ist nicht bekannt, wie Gabemo Amaterai starb, aber eines gilt als gesichert: Er starb ohne Widerstand. Für zwei Kinder der Fiyoa. Die beiden Kinder, die entführt worden waren und getötet werden sollten, waren bürgerliche Kinder. Die zutiefst verwurzelte Liebe der Naraita zu den Hochajani, das über zwei Jahrtausende dem Land Frieden und Wohlstand schenkende Vertrauen der Bevölkerung zu dieser führenden Familie, ein Land ohne Revolten, ohne Kriege, ohne Machtkämpfe, nie wurde das Führungscharisma der Amaterai in Frage gestellt, und hier nahm diese Liebe ihren zeichenhaften Ursprung: Dass sich ein Sheya hingibt für zwei einfache Kinder seines Volkes.


Eine kleine Fußnote noch zum Schluss. Eine kleine? Vielleicht die zentrale. Man kann in Naraita nicht anlanden, haben wir gerade ausgeführt. Es stellt sich also die Frage: Wie haben die Fiyoa dies damals fertiggebracht? Die Geschichte der Staatsgründung von Naraita, die wir hier darstellen wird wie schon erwähnt nach außen wenig kommuniziert. Wir müssen uns daher auf die wenigen Quellen verlassen, die uns zugänglich sind. Vieles ist uns vermutlich einfach nicht bekannt. Und manches mag fehlen. Tatsächlich gibt es im Anzberger-Masch einen kleinen Absatz, dem möglicherweise eine viel größere Bedeutung zukommt als manchem Historikern klar ist. Dort wird erwähnt, dass es Quellen gibt, die die akai asai, die Reise nach Süden, noch unter einem etwas anderen Blickwinkel darstellen. Bevor die drei Schiffe mit den Fiyoa ablegten, war die Reise bereits geplant. Die seeverantwortlichen Ränge der Fiyoa, wahrscheinlich unter der Führung der Familie der Noja, haben sich zuerst dorthin begeben. Um eine sichere Route zu finden. Anzberger-Masch führt aus, dass diese kundschaftenden Ränge aber eigentlich keine Möglichkeit hatten, eine sichere Route zu finden. Sebst, wenn sie durch Zufall darauf gestoßen wären: Sie hatten dafür nicht die richtigen Schiffe. Wie wir heute wissen, gibt es diese Routen ja nur für sehr kleine und flache Schiffe. Es sei für Unkundige hinzugefügt: Ein flaches Schiff ist immer ein sehr instabiles Schiff, das sehr schwer zu führen ist und Wind und Wellen noch ganz anders ausgeliefert ist als ein schweres Schiff mit tiefem Rumpf. Derart flache und instabile Schiffe existierten in Japan gar nicht – warum hätte man sie auch bauen sollen. Doch selbst für derart konstruierte Schiffe gibt es nur sehr wenige ruhige Anlandepunkte in Naraita – und diese ruhigen Punkte sind nicht nur wohl fast unmöglich zufällig zu finden, sondern sie sind in der mea, dem in der Distanz liegenden Meeresgürtel um Naraita, auch noch in besonderer Weise gefährlich und eng. Diese Schiffahrtsstraßen muss man ganz genau kennen, um in ihnen nicht zu verunglücken. In der eda anase, einer alten Schrift, die aus der Edera stammt, wird erzählt, dass die Noja, die als Vorhut der Fiyoa zum erste Mal nach Naraita kamen empfangen wurden: Mitten in der mea erwartete sie ein kleines, flaches Fischerboot. Die Noja trafen dort auf Mageo Mai, dem damaligen Hohen Häuptling der Awakai. Niemand in Europa weiß, was dort wirklich geschah. Was zwischen diesen Rängen begann und warum sie sich dort trafen. Aber als die Noja zurückkehrten, wußten sie, wie sie 50.000 Menschen sicher nach Naraita bekommen konnten. Es gibt eine Theorie, nach der die Awakai mit ihren kleinen, flachen Fischerbooten herankamen und die Fiyoa in kleinen Gruppen durch die mea und durch die Passagen der yia vor Aiza an Land brachten. Eine Legende besagt, dass diese für beide Seiten lebensgefährliche Hineinbringen mehrere Wochen gedauert habe und dass die Noja nicht die Einzigen waren, die bei ihrer Rückkehr von diesem Treffen mit langen Vorbereitungen begannen: Auch Mageo Mai soll unmittelbar danach mit Vorbereitungen begonnen haben: Damit, die Firo des ganzes Landes zusammen zu holen. Wir wissen nicht, ob es so war. Haben die Awakai die Fiyoa ins Land gelassen? Ist es denkbar, dass sie in einer so groß angelegten, riskanten Aktion auch ihr eigenes Leben riskierten und völlig fremde Menschen in ihr Land geleiteten? Ist es denkbar, dass dafür nicht nur praktisch alle exekutive Führränge der Fiyoa eingesetzt wurden, sondern möglicherweise auch praktisch alle exekutiven Führränge der Kiye, die damit ihr Schicksal unauflösbar an das Schicksal der Fiyoa banden? Denn ein Verlust großer Teile der Firo der Kiye hätte das Aussterben dieses Volkes bedeuten können, da die Firo die einzigen sind, die in schweren Zeiten fischen können und so die Ernährung sicherstellen. Doch alleine hätten die Kiye die nächsten Jahrhunderte auch nicht überstanden: Spätestens mit der Entwicklung der Luftfahrt wäre die Zivilisation über sie gekommen. Mit aller furchtbaren Macht. Zwar ist bis heute auch der Luftweg nach Naraita von besonderer Schwierigkeit. Über der Aroka, dem zentralen Lebensgebiet der Kiye, gilt ein Luftweg sogar bis heute als nicht zugänglich. Dafür aber, in wie polarem Gegensatz, lag ein anderer Teil dieser beiden Inseln in großer Verwundbarkeit. Aiba. Hier wäre ein Zugang über die Luft ohne weiteres möglich gewesen. Die immensen Bodenschätze hätten früh Begehrlichkeiten geweckt. War die Verbindung zwischen Kiye und Pena schon damals so tief? Waren sie schon immer das, was sie auch heute sind: Ein gemeinsames Volk? Was immer die Firo der Kiye damals zu diesem immensen Schritt bewogen hat: Sie mochten die Enwicklungen der Zukunft vorausgeahnt haben. Spürten, dass sie eine weitere Kraft in ihrem Land brauchten - eine Kraft, die sie nicht selbst in sich trugen. Sicher ist: Die Noja führen heute die Edera und sind mit den Kiye in besonderer Weise verbunden. Auch genetisch. Die Iya ist heute eine Verbindung aus der Weisheitstradition der Kiye und der Führungkraft der Noja. Fast jeder naraitische Bürger trägt heute Kiye-Blut: Und mitten in der Aroka leben bis heute die reinen Stämme der Kiye weiter, halten ihre Tradition lebendig und schenken dem Land ihre Kraft. Haben die Kiye das getan, was die Sassaniden nicht konnten? Auch sie haben vielleicht etwas in den adligen Rängen der Fiyoa erkannt. Ähnlich wie die Sassaniden und auch Hakarao. Vielleicht aber waren sie die ersten, die es wirklich verstanden haben. Und sie haben gewählt: Zweitausend Jahre Frieden und Schutz. Und die Geschichte von Naraita hat vielleicht erst begonnen.

Eine zweite Fußnote sei erwähnt. Auch hier glauben wir, dass diese zentral ist. Viel aussagt über das, was Naraita war und ist. In vielen Festen und Ritualen innerhalb des Landes wird die Geschichte von Naraita regelmäßig gefeiert und ihrer Wurzeln gedacht. Doch etwas Anderes ist wie mancher glaubt viel wichtiger: Auch heute noch tragen die Menschen von Naraita und ihre adligen Familien diese besondere, gnadenreiche Vitalität. Ihre eigenen Prägungen. Die Amaterai zum Beispiel glauben fest daran, dass ihnen immer wieder ein Rang geschenkt wird, der zum Sheya berufen ist. Und sie warten geduldig, bis diese Berufung sich zeigt. In anderen Königshäusern gilt eine strikte Thronfolge, die sich am Geburtszeitpunkt festmacht. Doch die Hochajani glauben, dass sie nicht wählen können, wer von ihnen Sheya werden soll. Sie glauben aber, dass sie erkennen können, wenn einer der Ihren als Sheya berufen ist, und niemals in den gesamten Jahren ihrer Familiengeschichte gab es darüber Streit oder gar Spaltungen - etwas, was in anderen Machtfamilien praktisch automatisch zu erwarten ist. So kam es, dass Nimano Agia Amaterai, der letzte Sheya, bis in ein sehr hohes Alter von 89 Jahren das Sheyanat führte. Zwei Generationen lang hat er keinen Nachfolger benannt. Und es wären ausreichend Ränge da gewesen. Nimano war noch in diesem Alter kraftvoll und geistig völlig klar. Er wartete. Als Nimano 75 Jahre alt war, wurde sein Ur-Enkel Jojano Amaterai als in der Berufung stehend bekanntgegeben. Aber auch dies bedeutete nicht etwa einen automatischen Thronwechsel. Nun musste der damals 15jährige erst zeigen, ob er in seine Berufung hineinwachsen würde. Er ging einen der Prägung seiner Familie entsprechenden geistlichen und fachlichen Ausbildungsweg. Während dieser Zeit regierte der alte Sheya weiter, und niemand in der Todai zweifelte daran, dass er Jojano Amaterai nicht weihen lassen würde, wenn dieser sich als nicht geeignet erwies. Dies zeigt das tiefe Glaubensverständnis der Amaterai, die die Gnade ihrer Berufung nicht in etwas sehen, was sie selbst sicherstellen können: Es muss immer wieder geschenkt werden. Zwei Jahre nachdem Jojano Amaterai zum Sheya geweiht wurde, starb Nimano Agia im Alter von 91 Jahren. Und so wird Naraita heute von einem sehr jungen Sheya geführt, der zwar geweiht ist, aber sicher noch nicht sehr erfahren. Bei seiner Weihe war er 26 Jahre alt. Stürzt dies das Land in eine Regierungskrise? Rebellieren die Hohen Familien? Versuchen andere Ränge der Amaterai, den jungen Sheya vom Thron zu stoßen? Nein. Die Todai gibt die Kräfte hinzu, die dem jungen Sheya vielleicht noch fehlen. Stehen in Treue an seiner Seite: Weil sie um die Gnade einer wirklichen Berufung wissen. Immer wieder legen internationale Analysten Maßstäbe ihrer eigenen Gesellschaft an. Sie behaupten, dass der junge Sheya von der Shijoa und hier besonders von der Hohen Familie der Noja geschützt würde und diese daher die eigentliche Macht dieser Epoche trage, weil sie jederzeit diesen Sheya fallen lassen könne. Die New York Times hat in einem Artikel vor zwei Jahren der Familie der Noja unterstellt, ein tiefes Machtstreben zu besitzen, das sich auch an der Annahme der Shijoa-Signen zeige. Ohne dass wir diese Diskussion hier ausbreiten wollen, sei dazu ein Hinweis gegeben. Und wir geben diesen Hinweis in Erinnerung an das Schicksal von Gabemo Amaterai, der sein Leben für zwei bürgerliche Kinder der Fiyoa gab. Im März 2110 kam Kageyo Siye Noja, der damalige Führer der Noja, der Keto der Iya und der zweithöchste Rang der damaligen Shijoa auf einer privaten Reise zu einem Unglück hinzu. Ein kleines Dorf war von einem Erdrutsch bedroht. Die Einsatzkräfte waren bereits dabei, die Menschen zu retten. Ein kleines Kind war zurückgeblieben, ein damals fünfjähriges Mädchen. Die Kräfte kamen nicht mehr an das Kind heran. Es war dem Tode geweiht. Kageyo Noja hat sich in die Schlamm-Massen und Geröll-Lawinen hineinbegeben und ist zu dem Kind vorgedrungen. Hat es mit seinem ganzen Körper geschützt und sich dabei dem ausgeliefert, was nach jeglichem Menschenermessen sein Tod gewesen sein musste. Tatsächlich überlebte er. Aber er war so schwer verletzt, dass er alle führenden und exekutiven Aufgaben sofort niederlegen musste. So hat er sein ganzes Leben gegeben: Für ein einziges Kind. Und dieses Kind war nicht mal ein Kind der Edera, sondern ein Kind der Provinz der Awea. Heute ist die junge Frau die Inhaberin einer Backstube. Keine große Karriere. Keine geheimnisvolle Aufgabe. Einfach nur eine bürgerliche Frau. Sind nun die Noja die Helden von Naraita? Es braucht schon eine sehr aufmerksame Beobachtungsgabe und vielleicht auch ein bißchen Glück, um auf einen Artikel eines kanadischen Kulturmagazins des letzten Jahres aufmerksam zu werden. Dort wird von einer Gasttournee des kanadischen Staatsballets berichtet, die unter anderem zwei Wochen lang in Naraita gastierte. Nach einem Treffen und einer gemeinsamen Veranstaltung mit hohen Tänzern der Zaye gerieten die Teilnehmer des Treffens in ein Unwetter. Sie befanden sich auf der Rückfahrt durch ein entlegenes Gebiet auf Aiba – der Provinz der Ryozan. Wie schon erwähnt, ist Aiba für seine eigentlich gemäßigten Wetterverhältnisse bekannt und für seine ruhigen Wasserwege. An diesem Tag aber wurde die Gesellschaft von einem solchen Sturm überrascht. Der Busfahrer fuhr zwar einen naraitischen Bus, war aber der Fahrer des kanadischen Ballets, konnte die Phänomene nicht einordnen und traf einige falsche Entscheidungen, so dass der Bus in einen Abhang geriet. Der Bus lag stabil, hätte aber jederzeit kippen können. Dazu kam der aufgezogene Sturm. Die Tänzer des kanadischen Ballets beschreiben im nachhinein, wie schnell sie Hilfe bekamen, wie professionell die Akai und die Iya die Tänzer aus dem Bus bargen – aber sie beschreiben auch, was der Leiter der Zaye tat, der höchste Zaye-Tänzer des Landes. Wie ruhig und beruhigend er die Evakuierung vorbereitete. Eine Reihenfolge festlegte. Die Menschen betreute. Und wo er in dieser Reihenfolge stand: Ganz am Ende. Als allerletztes ließ er sich vom Hubschrauber der Iya hochziehen. Denn der Leiter der Zaye ist ein adliger Rang: Mychea Tabia Ryozan, ein Dannao der Ryozan, jener Familie, der unterstellt wurde, sie habe verweichlichte Männer. Er ist kein Feuerwehrmann, kein Seenotretter, kein Polizist, kein exekutiver Rang. Er ist ein Dannao, ein edukativer Rang. Aber auch 2000 Jahre nach der Fahrt aka asai sind die adligen Familien noch immer das, was sie schon damals waren: Führende. Vorausgehende auf dem Weg zur Hingabe.


 
 
 

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