Leseprobe Buch Teil 6: Geschichten aus der Todai - ein modernes Märchen
- Petra Schrader
- 16. Jan. 2023
- 34 Min. Lesezeit

Abeia ging sehr langsam. Die Abende waren jetzt heller. Eigentlich merkte man kaum, dass es Abend war. Jeden Tag wurde es wärmer. Abeia ging langsam auf das Tor zu. Die Tage veränderten sich. Wie wichtig die Zeit war. Weil sie Veränderungen möglich machte. Veränderung hieß: Etwas anders zu machen als sonst. Abeia sah auf ihren Schritt. Wieviele Schritte es gegeben hatte. Und jetzt kam ein weiterer.
Yeniya Roya hatte sich auf das niedrige Sofa gesetzt. Ihr Umhang faltete sich fast selbst durch das Sitzen. Abeia sah auf den Stoff: Weiß und gleichzeitig ganz leicht glänzend. Völlig ohne sichtbare Naht. Ein wunderschöner Schnitt. Abeia nahm ihre Tasse, trank einen Schluck und spürte, wie ruhig die Jona saß. Ihr Zeit gab. Abeia hatte noch längst nicht verstanden, was das bedeutet: Eine Familienführerin. Yeniya Roya war nicht gekommen und hatte gesagt: Ich will deine Mutter ersetzen. Viel später als Joa war sie vom Siezen zum Duzen übergegangen. Und hatte doch in den Monaten eine immer tiefere Nähe aufgebaut. Abeia etwas gegeben, was ihre Mutter ihr fast nie gegeben hatte: Halt. Abeia stellte die Tasse ab und begann sofort: „Ich möchte.. gerne etwas fragen. Es ist ein bißchen kompliziert.“ Yeniya Roya sah sie einfach an. „Das macht nichts.“ „Ich bin selbst gespannt, ob ich es erklären kann. Keyo Adena hat mich auf die Idee gebracht. Ich war mit ihm. in der Bank eigentlich nur im Aufzug, weil wir zum Wagen wollten. Und dann mußte er nochmal in eine.. Abteilung, um etwas abzuholen. Und dabei habe ich etwas sehr.. Erstaunliches festgestellt. Die Bankangestellten. Oder die, die in der Bank arbeiten. In den anderen Stockwerken. Das sind.. Tasheya, oder.“ Yeniya Roya nickte. „Größtenteils.“ „Sie wirkten.. ganz normal.“ Abeia drehte ihre Tasse. Plötzlich waren die Worte weg. Sie wartete. Wenn sie Zeit brauchte, mußte sie sich Zeit nehmen. Abeia hob den Blick und sagte dann: „Meine Angst war auf einmal weg. Zum ersten Mal weg. Es waren Nara, und sie waren.. so vertraut. Normal. Eigentlich waren sie so wie ich. Hier ist alles ja.. irgendwie kleiner. Eleganter. Aber da waren so viele Leute, das wirkte.. so normal.“ Sie legte die Hand auf den Tisch. „Ich stand da und habe sie.. beobachtet. Das hat mir so.. gutgetan. Es ist schwer zu beschreiben. Es ist so, als ob diese Menschen etwas können, was ich... noch lernen muß. Sie leben in einem System, dass das hier alles“, sie sah sich um, „integriert. Und trotzdem sind sie.. normal. Also, sie sind.. mehr so wie ich. So, wie ich es als normal empfinde. Und jetzt kommt meine Frage. Eine Frage, über die ich lange nachgedacht habe. Könnte ich in einer dieser Abteilungen irgendwo.. für einige Zeit arbeiten. Egal was. Ich putze auch Toiletten. Oder schleppe Mülltüten. Könnte ich irgendwie.. für kurze Zeit mit diesen Tasheya arbeiten. Ohne Amai zu können. Ohne, dass die Leute wissen, wer ich sozusagen bin. Und: ohne dass Joa und die anderen wissen, dass ich dort bin.“ Fertig. Abeia sah auf. Ihr Blick blieb offen. Yeniya Roya saß noch immer sehr ruhig. Sie lehnte sich etwas zurück und sah Abeia an. Abeia wich dem Blick nicht aus. Die Jona sagte ruhig: „Deine Frage enthält mehrere Teile. Kann ich dafür sorgen, dass du ohne Amai-Kenntnisse in der Bank von Berlin arbeiten kannst? Ja. Kann ich vor den Abteilungs-Tasheya verbergen, dass du ein weißes Zeichen trägst? Ja. Kann ich dich dort hinschicken, ohne Joa zu informieren? Ja. Wenn ich dich in eine Arbeitseinheit der Kamura bringe, wird Joa dies nicht bemerken, weil er ganz andere Dinge zu tun hat. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass Schüler Praktika im Ausland machen. Das ist ein fester Bestandteil ihrer Ausbildung, sowohl vor als auch nach dem 20 Lebensjahr. Du bist noch nicht im Netoyat geführt, deshalb wird es auch dort niemand bemerken. Jemand anders allerdings wird es bemerken.“ Abeia sah sie an. „Odenei Kamura.“ Yeniya Roya deutete ein Kopfschütteln an. „Die Verwaltung der Praktikumsplätze geht über die Neto der Kamura. Für Atajeo gilt dasselbe wie für Joa: Mit sowas hat er nichts zu tun. Aber die Keayake werden sehr genau sehen, wo du bist. Und wir müssen die Keayake auch vorher informieren, damit du in der Bank der Kamura ein entsprechendes Design aufgestellt bekommst.“ Abeia saß still. Yeniya Roya nahm ihre Tasse. Sie trank einen Schluck und setzte die Tasse wieder ab. Dann sagte sie ruhig: „Erzählst du mir, was du in der Bank möchtest?“ Abeia setzte sich innerlich aufrechter: Mit dieser Frage hatte sie gerechnet „Ich glaube, ich möchte etwas alleine lernen. Christopher hat gesagt, dass er glaubt, die Angst, die ich habe.. wegen des allem. Und vor den Denei und den Noja, das hätte vor allem.. mit einer inneren Angst zu tun. Dass ich innen nicht stabil bin, weil ich.. zuwenig Halt in mir habe. Weil ich noch nicht weiß, wer ich bin. Und ich glaube, dass mir das so gelingen kann: Wenn ich begreife, dass ich mit den Tasheya ganz normal arbeiten kann. Dass es keinen Grund gibt, dort Angst zu haben. Dass dieses System, dem ich mich nähere, nicht unberechenbar ist und nicht aggressiv. Als Joa immer dann mit mir gesprochen hat und mir alles erklärt hat, auch mit den Bildern und wir sind immer spazieren gegangen am See, das hat mir alles geholfen, das zu begreifen, aber.. in meiner Normalität. Deshalb war es so einfach. Aber mir würde jetzt glaube ich noch etwas anderes helfen: Die Normalität hier. Joa ist nicht Teil der Normalität, sondern er ist.. etwas Besonderes. Ich kann bei ihm diese Normalität nicht erfahren. Und auch bei den anderen nicht.“ Yeniya Roya sah sie ruhig an. Dann nickte sie, und Abeia erkannte die Wärme ihres Blickes, während die Jonaya sagte: „Ich verstehe, was du meinst. Aber diese beiden Normalitäten, die du jetzt nennst: Die haben keinen gemeinsamen Platz hier. Es gibt nur sehr wenige Orte auf der Welt, an denen es eine Schnittmenge gibt, und einer davon ist das Sternviertel. In der Bank aber befindest du dich auf formalem Gelände. Die nicht-adligen Ränge der Kamura wissen nicht, wer du bist. Und deshalb werden sie auch keine Rücksicht darauf nehmen.“ Abeia hielt dem Blick stand. Sie hatte das Gespräch sehr gut vorbereitet. „Wie.. machen andere Ayesha das. Wie.. kommen die in einer Bank zurecht.“ „Die meisten Ayesha sind natürlich nicht-adlig. Sie bekommen Einführungen und Kurse, aber da geht es vor allem um die Sprache und das Bewegen in zivilen Hierarchien. Zu den Kursen gehört auch das Grüßen und das Hochprotokoll vor adligen Rängen, aber das ist so ein bißchen wie ein 1.-Hilfe-Kurse. Sie lernen es einmal, und dann brauchen sie es eigentlich nie. Adlige Ayesha gibt es natürlich viel seltener, aber da sind die Näherungen und Einführungen dann aufwändiger. Junge Ayesha werden von der Neto mitgeführt, außerdem spielt die Zirae eine wichtige Rolle. Meistens sprechen sich Neto und Zirae ab, wer die inhaltlichen Einführungen und auch die Schulung im Protokoll übernimmt.“ „Kann ich.. das auch lernen, mit.. den zivilen Hierarchien? Wenn ich in der Bank wäre, dann.. bräuchte ich doch kein Hochprotokoll, oder?“ Die Jonaya sah aus dem Fenster. Abeia spürte, dass sie überlegte. Sie überlegte nur kurz: Die Zeit, in der sie einen Schluck aus ihrer Tasse trank. Abeia hatte noch keine Vorstellung davon, was eine Jonaya in dieser Zeit alles überlegen konnte. Yeniya Roya stellte die Tasse auf einen kleinen Tisch. Abeia saß völlig still. Yeniya sah sie an und sagte dann: „Es freut mich, dass du dich Nara weiter nähern möchtest. Und es ist richtig, dass in der Bank bis auf wenige Flächen kein adliges Protokoll notwendig ist. Aber du hast einen langen Weg vor dir. Wir wollten diesen Weg sehr sanft beginnen und sehr lange begleiten. Wenn du in die Bank gehst, ist dies eine Unterbrechung der Begleitung. Denn die Begleitung durch nicht-adlige Ränge birgt Risiken. Sie sind nicht unbedingt ein Weg, mit adligen Rängen vertrauter zu werden. Die meisten nicht-adligen Ränge in Nara haben zu den adligen Rängen mindestens die Distanz, die die deutschen Bürger zu ihrer Regierung haben. Tatsächlich muß man wohl sagen: Die Distanz ist eher noch erheblich größer. Ich fürchte daher, dass du von den Bankangestellten eher lernst, noch mehr Angst vor uns zu haben als weniger.“ Abeia sah die Jonaya an. „Aber ich muss keine Angst vor haben.“ „Nein.“ „Weil ich nämlich nicht bedroht bin. Ich bin nicht bedroht. Aber ich habe immer noch Angst. Und das kenne ich schon von früher. Das war schon immer so.“ Abeia legte ihre Hand offen. „Letzte Woche hat Jano gesagt, dass er gerne hätte, dass ich Himei Noja kennenlerne, nur ihn, nicht sofort alle, aber.. das konnte ich wieder nicht. Und wovon habe ich dann geträumt? Dass der Shijo zu mir ins Zimmer kommt und mich umbringt. Das ist doch der Witz. Wie kann ich hier stehen und mich standhaft weigern, sämtliche Denei der Noja kennenzulernen, die sowieso schon in Nara vor einem Monitor sitzen und auf mich aufpassen und mich genau kennen und sofort zu mir kommen könnten, wenn sie wollten. Die also heroisch geduldige Nachsicht mit mir zeigen und einfach so tun, als würde das mich beruhigen dürfen: Dass ich sie nicht kenne. Das ist doch wie bei Dreijährigen, die eine Decke über den Kopf tun und dann ist die Gefahr weg. Oh – wir wollen ja heute eigentlich Abeia Richter umbringen, aber geht im Moment nicht, weil: Sie will gar nicht mit uns sprechen.“ Yeniya sah sie an. Dann sagte sie sanft: „Du zürnst deiner Angst. Das solltest du nicht. Niemand hier tut das. Die Idee, die du mir jetzt vorstellst, sehe ich als einen Versuch, einen Kontakt auf deine Weise aufzunehmen, auf eine Weise, die dir keine Angst macht, und das ist eine sehr gute Idee. Trotzdem ist es richtig, dass ich auch Bedenken habe. Diese Bedenken beziehen sich darauf, dass dein Weg in dem Moment von uns wegführt. Du willst etwas alleine sehen. Dafür hast du dich entschieden, auch ein Stück alleine zu gehen. Beides ist nicht dasselbe. Und es macht die Entscheidung schwieriger. Wir möchten nicht Kontrolle ausüben deinen Weg, den du wählst. Niemand wird für dich wählen.. Ich bin nicht diejenige, die diese Entscheidung trifft. Sondern die Netoya. Ich schlage dir Folgendes vor: Ich werde mit Jano über deine Frage sprechen. Ich werde ihm erklären, was ich vom Hintergrund deiner Frage verstanden habe. Ich weiß nicht, ob er das selbst entscheidet, oder ob er in seiner Abteilung Rücksprache hält. Aber die Netoya wird das entscheiden und dir dann auch einen Arbeitsplatz besorgen.“
Es dauerte über eine halbe Stunde, bis die Tür wieder aufging. Geseja Amaterai kam herein, und Abeia stand sofort auf. Yeniya Roya war nicht zu sehen. Der Jonin schloß die Tür, und Abeia tat etwas, was sie noch vor zwei Wochen nicht im Traum gewagt hätte: Sie stöhnte. Dann setzte sie sich auf das Sofa, verschränkte ihre Arme und meinte: „Okay. Okay. Ich weiß. Meine Mutter würde einen Schock kriegen, wenn sie das erführe. Außerdem kann ich Japanisch weder hoch noch tief. Ich würde alle blamieren. Und ich würde das Schriftzeichen nicht erkennen und immer aufs Herrenklo gehen. Du brauchst es mir nicht auszureden. Ich geb ja schon freiwillig auf. Wo sind die Affen?“ Jano setzte sich auf das Sofa gegenüber und sagte grinsend: „Mit denen kann man wenigstens reden, was.“ Abeia verschränkte die Beine und schmollte: „Okay. Ich bin voll westlich. Ich sitze hier total unhöflich und werde mir gleich noch ein Kaugummi einwerfen. Ist das genug Beleidigung?“ Sie sah, dass Jano Amaterai gute Laune hatte. Sie hatte ihn noch nie ohne gute Laune erlebt. Sein Blick blitzte hell und amüsiert. „Aber das kannst du ja wohl noch besser, oder.“ „Ich bin in Berlin aufgewachsen. Was willst du sehen.“ „Das ist so krass, wie sehr du Ähnlichkeit mit Anari hast, wenn du schmollst. Ihr beide werdet ein gutes Team.“ „Wir werden kein Team. Weil ich zu doof bin. Die Angst geht nicht weg. Ich hab gewartet, sie geht nicht weg. Mein Verdacht ist mittlerweile, dass sie von alleine nicht weggeht.“ Jano sah sie an. Abeia atmete aus. „Darf ich in die Bank?“ „Sicher.“ Stille. Abeia schluckte. „Echt jetzt?“ „Warum nicht?“ „Hast du das.. mit Himei Noja besprochen?“ „Nein, das ist nicht nötig. Du bist eine erwachsene Frau. Natürlich wirst du begleitet und betreut durch die Netoya. Aber das heißt nicht, dass sie dich wie ein Kind behandeln. Die Netoya muss nicht mal wissen, dass du in der Bank bist. Allerdings jemand anders schon.“ Abeia räusperte sich. „Die Keayake.“ Jano nickte. „Weißt du, wenn du einen Schritt nach draußen machen möchtest. In diese Welt hinein, die du kennenlernen willst. Und so verstehe ich das mit der Bank. Dann möchte ich dir sagen: Die Keayake werden dich sicherlich umsorgender, vertrauenswürdiger und mit mehr Leichtigkeit empfangen als die Kamura. Die Kamura sind eine gute Familie, aber sie stehen dir erheblich weniger nah. Die Ränge, die hier in der Bank arbeiten, sind entspannte und in Deutschland gut verwurzelte Menschen. Aber das ist nicht vergleichbar mit der Beziehung, die die Keayake dir anbieten. Ich finde es richtig, dass du dich vorsichtig rantastest und ich würde es genauso machen. Aber zu den Kamura zu gehen, während du die Noja noch meidest: Das ist in meinen Augen keine sinnvolle Reihenfolge. Es ist einfach von der Schwierigkeit her höher. Alle Fehler, die du machen möchtest, alles, was du austestest, die normalen Fettnäpfchen, ohne die es einfach nicht geht und auch die Gefühlswellen, die gesunde, vitale Menschen durchleben: Alle dies findet bei den Noja einen viel sichereren, geborgeneren Raum als bei den Kamura. Die Noja sind protokollarisch völlig gelassen. Sie lieben dich: Sie sind Liebende. Und sie sind, wenn man sie mit Gefühlsaufwallungen verschiedenster Art konfrontiert, zutiefst unerschütterlich.“ Stille. Abeia spürte einen trockenen Mund. Sie wußte, dass Aryan Noja in der Botschaft war. Sie hatte selbst überlegt, ob sie ihn treffen sollte. Sie atmete aus und sagte: „Du meinst, ich soll vorher.. zu Aryan Noja.“ Jano antwortete: „Wenn du zu den Kamura gehst, brauchen die Keayake diese Information. Wir können mit ihm sprechen und ihn bitten, dafür ein Design aufzustellen. Es ist etwas, was er für dich tut. Es ist seine Kunst.“ Abeia hielt den Blick und verstand: Auch alles was die Keayake bisher getan hatten hatte Aryan Noja als Design aufgestellt. Und das war gut gewesen. Sie nickte. „Okay.“ Jano sah sie sehr ruhig an. Nahm sie wahr. „Gut. Machen wir es zusammen?“ „Wie.. denn..“ „Normalerweise würde ich mit dir zu ihm gehen, denn er trägt einen weit höheren Rang als ich, und außerdem möchte ich auch noch etwas von ihm. Aber da ist im Moment viel Betrieb. Deshalb würde ich jetzt drüben anrufen und fragen, ob er kurz Zeit hat, zu uns zu kommen, dann erzählen wir ihm von deinem Plan, und du kannst ihn in aller Ruhe mal angucken. Okay?“ Abeia sagte nur leicht gepreßt: „Ja. Gut. Was..“ Sie räusperte sich, aber es war zu spät: Der Satz war heraus. „Was ist, wenn ich einen Husten-Anfall bekomme..“ Jano sagte ruhig: „Das ist ganz in Ordnung. Du tust dann das, was du brauchst um dich wohler zu fühlen. Wenn du möchtest, dass er wieder geht wird er das sofort tun. Du musst ihm das auch nicht sagen. Er ist einer der aufmerksamsten und einfühlsamsten Ränge, die ich kenne. Außerdem ist er unser aller Leibarzt, und wenn du hustest, wird ihn das kaum aus der Ruhe bringen.“ „Oka..y.“ Jano nahm sein Handy, drückte eine Taste und begann zu sprechen. Abeia hielt sich fast am Sofa fest. Ihre Hände waren feucht geworden. Sie spürte, dass die Atmung schwerer wurde. Jano sah sie ruhig an: „Sollen wir mal ein bißchen im Protokoll denken? Wie möchtest du ihn begrüßen?“ Abeia preßte: „Er ist.. zweite Ebene oder.“ Atmung. Tiefer. Nicht verkrampfen. „So ist es. Er ist ein Rangführer, und zwar einer mit einem Shjioa- und einem Hize-Signum. Außerdem ist er ein Keto der Heze. Das heißt, wir stehen jetzt auf und gehen in den Gruß, ohne dass er ihn in entlassen muß. Gar nicht verkrampft. Einfach runtergehen.“ Trockener Mund. Sie hatte es so gewollt. Einige Zeit verging. Abeia sah aus dem Fenster in den wunderschönen Botschafts-Park. Der Blick in das Grün wirkte beruhigend. Jano störte sie nicht. Das Türklopfen hätte sie fast überhört. Jano erhob sich und nahm einen weiteren Stuhl. Abeia folgte sofort seinem Aufstehen. „Eka.“ Die Tür ging auf, und Abeia sah gar nicht mehr, was Jano tat. Ging in den tiefen Gruß und spürte eine beginnende Panikattacke. Die Hitze stieg einfach auf, und ihr Puls begann zu rasen. Mist. Mist. Aber ein Husten-Anfall war es nicht. Konzentrieren. Die Shijoa. Ein Aje-Signum: Er war stärker. Stärker auch als Jano. Die Stimme ihrer Mutter hallte in ihr. Der Blick von Christine Richter. Die die Angst nicht schüren wollte. Und es doch tat. Niemand konnte sie schützen. Abeia zwang die Angstgedanken herunter. Zwang sich, sich wieder aufzurichten und ruhig stehen zu bleiben. Hörte die ersten Sätze gar nicht: Kämpfte mit ihrer Atmung. Dann sah sie einen hochgewachsenen, sehr athletischen Mann, deutlich älter als Joa und Jano, in einer imposant wirkenden Tracht, mit einem unglaublich differenzierten und ruhigen Gesicht. Die Augen besaßen einen Blick, den man so schnell nicht vergaß: Wach. Warm. Ruhend. Eine unglaubliche Tiefe. Gerade noch rechtzeitig hörte Abeia wieder auf das, was Jano sagte: „Schritt für Schritt, dachten wir. Aryan Amea Noja, unser oberster Personenschützer, der Keto der Keayake und unser oberster Artz, der Leitende Deno der Edeno, Naoya Kirahe Amaterai.“ Bevor Abeia irgendeinen Ton herausbekam, sah sie das Unglaubliche: Der Denei gab ihr einfach die Hand. Ruhig und sehr freundlich. Kein Hochprotokoll von Nara erlaubte einen Händedruck. Doch mit tiefer Einfachheit und Selbstverständlichkeit nahm er die Hand, die Abeia ihm sofort gab. Aryan Noja neigte den Kopf und sagte mit sehr warmer Stimme: „Ich freue mich sehr, Frau Richter.“ Abeia spürte noch die Panikattacke. Ahnte irgendwie schon, dass auch der Denei sie spürte. Aryan Noja nahm die Hand zurück, und Abeia zuckte zusammen. Sie fühlte sich elend. Spürte, dass sie zitterte. Hatte gleichzeitig Angst und spürte eine tiefe Scham. Die Gedanken ballten sich. Rasten. Brachten Bilder. Abeia wich zurück, ohne es zu merken. Und dann tat Aryan Noja etwas, das Abeia nicht erwartet hatte: Er setzte sich. Er setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Sofa stand und sprach nicht. Doch das Bild des Sitzens wirkte auf Abeias Trance wie ein Durchschneiden. Das Stehen, das Grüßen, das Protokoll: Alles weg. Der Mann vor ihr war jetzt kleiner als sie. Er wirkte im Sitzen entspannt und undramatisch und irgendwie vertraut. Das Sofa hatte eher was von einem Wohnzimmer. Die Panikwelle wich. Sie lebte noch. Kein Hustenkrampf. Und kein Shijoa-Denei, der sie tötete. Sie lebte noch. Abeia zitterte noch leicht. Die Angst flaute deutlich ab. Sie war noch da. Aber Abeia konnte den Mann vor ihr ansehen. Nicht mehr wegsehen. Aryan Noja saß ganz ruhig. Kein Lächeln. Kein Humor: Der Blick blieb sehr ernst. Er wußte, dass sie litt. Er wußte, dass sie Angst hatte: Angst vor ihm. Abeia spürte, dass ihre Hände noch immer zitterten. „Es tut mir leid, dass ich so.. aufgeregt bin. Ich will das nicht. Es tut mir leid.“ Aryan Nojas Blick blieb absolut ruhig. Wirkte sanft, obwohl er gar nicht sanft aussah. „Ich freue mich sehr, dass ich zu Ihnen kommen durfte. Sie brauchen vor uns keine Angst zu haben. Lassen Sie sich in Ruhe Zeit, uns kennenzulernen. Sie bestimmen das Tempo.“ Abeia saß reglos. Irgendwo sehr tief in der Mitte ihrer Angst wurde es warm. Dann setzte sie sich auf das Sofa gegenüber.
(….)
„Okay. Ich kann das nicht.“ Die drei jungen Chemiker lachten auf: Abeia, weil sie mit dem Zupacken der Stäbchen das Fischstück über den Tisch geflutscht hatte, die gleichaltrige Arie, weil sie in dem Versuch, das Fischstück aufzuhalten, ihren Teller fast umgekippt hatte, und der drei Jahre ältere Keikon, weil er das Fischstück auf das Hemd bekommen hatte. Abeia preßte sich die Hand auf den Mund. „Oh es tut mir leid. Tut mir leid. Ist da ein Fleck?“ Die beiden jungen Tasheya lachten. Abeia legte das Stäbchen weg. „Ich kann das nicht. Ich kann es nicht.“ Arie beorderte das Fischstück wieder auf Abeias Teller und urteilte: „Du bist echt eine Katastrophe.“ Sie nahm Abeias Hand und führte sie um die Stäbchen. „Das ist Aal. Aal ist glatt.“ „Aalglatt.“ „Womit kriegen wir jetzt diesen Fleck wieder raus.“ „Duodenidperoxid?“ Der Fisch flutschte auf die linke Seite des Hemdes.
Abeia lernte alles gleichzeitig: Das Bedienen des Analyseprogramms, das Auftragen auf TT-Mikroskope, Nara-Etikette und Amai-Satzfetzen. „Egihani. Was ist egihani.“ „Das ist nichts.“ „Er hat über mich gesprochen.“ „Das ist ein Wort, das Respekt bezeugt und Bewunderung.“ „Na genauso klingt das.“ Abeia nahm die nächste Probe und sah einen Moment auf die lachende Gruppe der jungen Chemiker: Die Frage, ob sie in dieser Abteilung naraitische Etikette lernen konnte, war nicht eindeutig zu beantworten. Aber sehr lange hatte Abeia nicht mehr so viel Spaß gehabt.
Als Abeia aus dem Aufzug trat, lag der Gang etwas düsterer: Draußen begann ein Platzregen. Keikon trat aus dem Aufzug daneben. „Guten Morgen.“ „Guten Morgen.“ Abeia neigte ihren Kopf etwas länger. Keikon nahm ihr die Tasche ab. „Bist du mit dem Bus gekommen?“ „Ich hab hier geschlafen. War nur grad im Bad.“ Die beiden grinsten. Abeia ging hinter Keikon ins Büro. „Tare ade.“ „Tare ade.“- Vier Chemiker standen schon um die Abteilungsleiterin herum. Keikon setzte sich, und Abeia setzte sich neben ihn. Die Tasheya schaltete sofort auf Deutsch um: „Wir bekommen Gegenproben zum Aufstellen dieser Kristallstruktur. Ich werde jetzt zum Obakyo gehen, um genauere Anweisungen zu bekommen. Bis dahin alle Träger reinigen und die CTA-Programme starten. Keikon, kannst du Abeia bitte mit an deinen Träger nehmen.“ „Haine dekaite.“ „Vielen Dank.“ Sie stand auf, und die Chemiker verneigten sich kurz.
Abeia sah auf den Schirm. „Was ist denn das..“ Arie neigte sich von ihrem Rechner herüber. „Irgendein neuer Kristall, der sofort aufbereitet werden muß. Keine Ahnung.“ „Ich kann nix.“ „Doch. Mit Stäbchen..“ Ein an der Tür sitzender Chemiker, dessen Namen Abeia immer vergaß, hob kurz die Stimme: „Kyu-sha.“ Die Chemiker wandten sich sofort um und standen gleichzeitig auf. Abeia tat es ihnen nach. Die helle Stimme der jungen Frau klang sehr freundlich. „Guten Morgen. Bitte behalten Sie Platz. Wo finde ich Ihre Abteilungsleiterin?“ Keikon antwortete: „Otae-Tasheya Benin ist gerade auf dem Weg zum Obakyo. Darf ich Sie informieren, dass Sie sie gesucht haben.“ „Danke. Ich finde sie dort.“ Die Bakya verschwand. Oder war es eine Reika gewesen? Abeia hatte die Ärmelzeichen nicht lange genug gesehen. Aber sie wagte auch nicht zu fragen. Die Chemiker hatten sich wieder ihren Programmen zugewandt. Arie murmelte etwas auf Amai.
Abeia hatte gerade damit begonnen, einen Salat für das Abendessen vorzubereiten, als ihr Handy klingelte. Sie sah kurz auf die Meldung „unbekannter Teilnehmer“ und nahm dann ab. „Richter.“ „Keikon.“ Die Stimme des jungen Tasheya klang sehr ruhig. „Bist du zu Hause?“ „Eh.. ja..“ „Es gibt ein Problem. Wir müssen etwas besprechen. Arie ist hier und Heko auch. Kannst du vorbeikommen? Wir sind bei mir in der Wohnung. Ich mail dir die Adresse.“ Abeia hielt kurz inne. „Ein.. Problem? Wie, ein Problem?“ „Arie erklärt es uns gleich. Willst du dabei sein?“ Abeia hatte sich schnell entschieden. „Ich komme."
Kaum Zeit, die kleine Wohnung wahrzunehmen. Westlich eingerichtet. Nur ab und zu Andeutungen asiatischer Einflüsse: Küchengegenstände. Einzelne Bilder. Schiebeschränke. Abeia spürte sofort die Spannung, die in der Luft lag. Sie setzte sich wortlos neben Keikon. Unvermutete Vertrautheit. Kannte sie diese Tasheya wirklich erst seit sechs Wochen? Arie sah sie an. Auch Heko, der sehr schlanke und deutlich ältere Biochemiker, sah Abeia an. Diese mußte kurz schlucken. „Was ist passiert.“ Arie sagte: „Ist jemand zu dir gekommen?“ Kurze Stille. „Jemand?“ „Hat dich jemand angesprochen heute. Hat dich jemand angerufen. Irgendwas.“ „Nein. Wieso.“ Stille. Heko sagte etwas auf Amai. Keikon antwortete ruhig: „Nein.“ Wieder ein hochjapanischer Satz. Keikon machte eine kurze Handbewegung. „Wir sprechen so, dass sie es versteht.“ Heko sagte knapp: „Ich bin dafür, sie wegzuschicken. Wir reiten sie mit rein.“ „Sie ist schon mit drin. Sie hat an meinem Arbeitsplatz gesessen.“ Heko sah Abeia ruhig an: „Was wir hier tun ist gefährlich und illegal. Ich bin dagegen. Wenn du hierbleibst, bringen wir dich vielleicht auch in Gefahr.“ Abeia schluckte. „Und wenn ich gehe? Dann ist die Gefahr zuende?“ Keikon sagte ruhig: „Nein. Du mußt von der Gefahr wissen. Und du mußt wissen, was wir auch wissen, falls sie uns hochnehmen.“ Abeia sah sich um. Das klang nicht gut. Ihr Magen meldete sich. „Was ist passiert hier. Habt ihr Koks synthetisiert, und jetzt kommen gleich die Bullen oder was.“ Stille. Die Tasheya wechselten kurze Blicke. Abeia spürte, dass sie Außenseiterin war. Dann erklärte Arie mit gepreßter Stimme: „Es war ein Mann in dem Café, in dem ich immer esse. Er ist mir bis auf die Toilette gefolgt. Hat mich nicht aus dem Raum gelassen. Ich sollte ihm die Kontendaten geben der Bank, in der ich arbeite. Und die Paßwörter. Ich habe ihm gesagt, dass ich keine Paßwörter habe. Dann ist er wieder abgehauen.“ Abeia starrte sie an. „Ein... Mann?“ Keikon erklärte ruhig weiter: „Das war ein Übergriff. Wir wissen nicht, was er wollte. Vielleicht wollte er ein Konto leerräumen. Oder er hat gedacht, wir haben irgendwelche Kreditkartenpins für ihn. Aber wir müssen ihn melden. Und das ist ein Problem.“ Abeia sah Keikon an. „Ein Problem?“ Arie sagte etwas zittrig: „Sie werden Sie es mir nicht glauben. Sie werden mir nicht glauben, dass ich ihm die Paßwörter nicht gegeben habe. Das ist Geheimnisverrat. Sie werden uns verhaften.“ Heko nahm Arie an sich, und Keikon hielt Abeias entsetztem Blick ruhig entgegen: „Wir haben beschlossen, diesen Kontakt zu verschweigen. Natürlich dürfen wir das nicht.“ Abeia preßte: „Was.. müßten wir tun.“ „Wir müßten Otae-Tasheya Benin sofort Bescheid geben, und sie müßte es dem Sicherheitsleiter melden. Aber weil wir im Ausland arbeiten, und weil.. der Mann.. es könnte sein, dass sie entscheiden, dass das ein Verdacht auf Geheimnisverrat ist. Wir arbeiten in der Yare. Und dann wird das der Shijoa gemeldet.“ Abeia preßte: „Oh.. Gott.“ Keikon drückte kurz Abeias Hand. Seine Stimme klang jetzt ganz ruhig. „Paß auf.“ Er sah Abeia genau an. „Wir suchen uns jetzt ein Hotelzimmer. Und morgen gehen wir ganz normal zur Arbeit. Wenn dich morgen irgendwer fragt. In der Bank. Dann sagst du gar nichts. Du weißt gar nichts. Schon gar nicht von Arie. Klar.“ Abeia war weiß im Gesicht. „Können wir nicht sagen.. was ihr passiert ist. Wir sagen es einfach. Ich meine: Sie hat doch nichts getan. Sie kann doch nichts dafür, dass sie angesprochen wird. Sie hat doch nichts gesagt.“ „Abeia.“ Keikon hatte Angst. Er schwitzte. „Die Shijoa.. das ist etwas, das.. ist du nicht versteht. Das ist nicht das Personalbüro oder die Polizei oder so. Das sind.. adlige Ränge, in einer Spezialabteilung, der Shijo steht noch über dem Doya, die.. dürfen alles. Die machen kurzen Prozeß, die verhören uns nicht nur, die.. verhaften die ganze Familie. Freunde. Die nehmen alles auseinander. Du kannst dir nicht vorstellen, was die machen. Wir auch nicht.“ Abeia war weiß im Gesicht. Keikon atmete aus: „Wir sagen nichts. Okay?“ Abeia atmete schwer. „Aber was ist, wenn.. es doch rauskommt. Dann sieht es so aus, als hätten.. wir etwas verborgen.“ „Es darf nicht rauskommen. Auf keinen Fall.“
Als Abeia in den Aufzug trat, stand Arie bereits darin. Die beiden sagten fast nichts. Sie nahmen sich kurz in den Arm. Abeia sagte leise: „Wie hast du geschlafen?“ „Gar nicht.“ Abeia nickte. „Ward ihr in diesem Hotel?“ „Ja.“ Der Aufzug öffnete sich. Die beiden jungen Chemikerinnen gingen bis zum Labor. Als Abeia in die Tür trat, sah sie, dass Keikon grußverbeugt war. Sie erschrak fast. So sehr, dass sie einige Sekunden nicht begriff, welches Rangzeichen der Mann vor ihr trug. Arie war bereits in die Verbeugung gegangen. Abeia folgte ihr etwas ungeschickt. Der Mann war ein Bakyo. „Guten Morgen. Kommen Sie näher bitte.“ Abeia spürte, wie Arie vereiste. Abeia spürte eine große Kälte. Der Mann war nicht nur Bakyo. Er war der Leiter der Genea. Der höchste nicht-adlige Rang in Deutschland. Er war hochgewachsen, trug dunkle Haare und ein sehr ruhiges Gesicht. Auch seine Handbewegung war sehr ruhig. Er sah auf Abeia und dirigierte die beiden jungen Frauen neben Keikon. Dann sagte er: „Sie kommen spät.“ Arie erstarrte. „Ver..zeihung?“ Der Bakyo wies in das sonst leere Labor. „Offensichtlich hat Sie Ihre Benachrichtigung nicht erreicht. Waren Sie heute nacht nicht in Ihren Wohnungen?“ Arie krächzte: „Ich.. nicht.“ Keikon war weiß im Gesicht. „Ich auch nicht.“ Der Bakyo sah zu Abeia. „Sie verfügen nicht über ein Benachrichtigungssystem?“ Abeia setzte an, doch Keikon sagte sofort auf Deutsch: „Ayesha Richter spricht noch kein Amai. Sie ist hier, um erste Kontakte zu lernen.“ Der Bakyo sah sie an. Dann nickte er. Er lehnte sich an den gefliesten Tisch und sagte ruhig und auf Deutsch: „Wenn es hier ein Problem gibt, meine Damen und Herren. Dann möchte ich jetzt davon wissen. Jetzt.“ Entsetzte Stille. Abeias Herz raste. Arie atmete schwer. Niemand sagte etwas. Der Bakyo wartete. Dann sagte er unerwartet ruhig: „Ich habe Anweisung, Sie drei zum Odannao zu bringen. Ich weiß nicht warum. Aber damit ich Ihnen helfen kann. Damit ich Sie vor dem Odannao vertreten und für Sie sprechen kann: Dafür muß ich jetzt wissen, was hier los ist.“ Aries Hände begannen zu zittern. Keikon stand völlig reglos. Abeia atmete schwer. Wohin sollte das führen. Was hatte sie getan. Aber was hätte sie stattdessen tun können. Arie war schweißgebadet. Keikon sagte mit fester Stimme: „Wir wissen nicht, was hier geschieht, Obakyo. Wir wußten nicht, dass es ein Problem gibt bis gerade.“ Der Bakyo von Deutschland musterte die drei ruhig. Dann sagte er: „Folgen Sie mir.“
Der Aufzug setzte sich in Bewegung. Abeia spürte, wie der Blick des Bakyo auf ihr ruhte: „Wissen Sie, wie man vor einem Dannao grüßt?“ Abeias Stimme kratzte: „Ich.. hab es geübt.“ Ruhig. Ruhig. Sie mußte kein Signal drücken. “Der Odannao“. Das war Yoshia Manae. War er doch. „Bleiben Sie neben mir stehen. Ich korrigiere Sie, wenn es nötig ist. Stehen Sie auf keinen Fall vor uns auf. Sprechen Sie nur, wenn Sie von ihm angesprochen werden. Wenden Sie sich nicht von ihm ab.“ Abeia nickte verkrampft. Der Aufzug ging auf. Der Gang war hell und in einem ganz dezenten dunkelbraun-besch gehalten. Auch hier wieder offene Türen. Der Bakyo und fremde Gangwachen sprachen Amai. Abeia wurde schwindelig. Ein paar Sekunden gingen ihr verloren. Dann stand sie in einem großen, fast kühlen Raum, der mit hell marmoriertem Bambus-Tatami ausgelegt war. In der Mitte stand ein wunderschöner dunkelbrauner niedriger Tisch mit weißen Sofasitzen drumherum. Bevor Abeia sich genauer umsehen konnte, folgte sie den Tasheya und dem Bakyo schnell in den tiefen Gruß. Dann hörte sie die vertraute Stimme: „Ki shei. Nehmen Sie Platz.“ Abeia wagte den Blick nicht zu heben. Yoshia Manae stand an seinem Schreibtisch und sah jetzt auf Abeia. Niemals zuvor hatte Abeia sich so voll von brennendem Scham gefühlt. Der Dannao ließ sich nichts anmerken. Nicht mal sein Blick blieb länger auf ihr haften. Er deutete mit einer Handbewegung auf die Sitze und kam zum Tisch. Arie stolperte fast. Der Bakyo setzte sie neben sie. Auch Abeia setzte sich. Der Bakyo verneigte sich noch mal kurz und schien die Tasheya auf Amai vorzustellen. Abeia hörte nur ihren Namen. Ihr war übel. Zuletzt sagte der Bakyo auf Deutsch: „Sie spricht kein Amai und hat keine Routine im Umgang mit adligen Protokollen. Darf ich betonen, dass...“ „Danke.“ Yoshia Manaes Stimme war sehr ruhig. „Ist schon in Ordnung.“ Er sah zu den dreien. Keikon saß völlig reglos mit bleicher Miene. Aries Hände zitterten noch immer. Abeia schwitzte unsichtbar. Jedenfalls hoffte sie, dass es unsichtbar war. Yoshia Manae begann ruhig: „Ihre Abteilung hat vor 24 Stunden einen Gegenprüfungsauftrag zur Rekonstruktion einer Kristallstruktur bekommen. Wir haben Anzeichen dafür, dass eine nicht befugte Person versucht hat, sich Zugang zu diesen Daten zu verschaffen. Es wurde versucht, eine erste Paßwortidentifikation zu konstruieren, in dem die niedrig-ebenigen Paßwörter von nicht-leitenden Teammitgliedern in Erfahrung gebracht werden sollten. Was wissen Sie darüber. Tasheya Keikon.“ Schwere Stille. Keikon preßte: „Die Rekonstruktion der Struktur begann gestern gegen neun Uhr. Wir haben sie nicht fertiggestellt. Unsere Abteilungsleiterin wurde zwischenzeitlich abgezogen. Das Projekt wurde bis dahin unterbrochen.“ Yoshia Manaes Blick ruhte auf dem reglosen Tasheya. „Ist das alles, was Sie wissen?“ „Das ist alles.“ „Hat eine nicht-signen befugte Person mit Ihnen Kontakt aufgenommen oder wurden Sie aufgefordert, Daten zu übermitteln.“ „Nein.“ „Tasheya Kayena.“ Arie versuchte zu sprechen, doch ihre Stimme versagte. Yoshia Manaes Blick war sehr ruhig. „Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Beantworten Sie nur meine Frage. Hat jemand mit Ihnen Kontakt aufgenommen?“ Arie schüttelte den Kopf. Fast reglos. Yoshia Manae sah sie an. „Ist gut. Sie haben Angst, und Angst ist kein guter Gesprächspartner. Ich mache das hier nicht, weil ich Sie ängstigen möchte, sondern weil ich daran arbeite, Sie zu schützen. Und dazu brauche ich eine Antwort. Möchten Sie noch einmal nachdenken über diese Frage.“ Arie verbeugte sich zitternd. „Kya shikare dekaranaro.“ Sie schüttelte den Kopf. Wieder und wieder. Abeia preßte beim Anblick der ängstlichen Arie ihre Kiefer aufeinander. Yoshia Manae sah zum Bakyo und sagte: „Ich danke Ihnen. Sie können gehen.“ Der Bakyo stand auf, verbeugte sich wieder und sagte etwas auf Amai. Yoshia Manae saß sehr ruhig: „Das liegt nicht mehr in meiner Hand, Tane. Die Heze haben Satellitenaufnahmen davon, wie ein Agent der Nunming-Gegenspionage einzelne Mitglieder dieses Laborteams in ihren Wohnungen aufgesucht hat. Die Shijoa hat die Linienführung übernommen. Es ist ein Rang der Shijoa in Berlin, er hat uns schon vorgeladen, wir fahren jetzt unmittelbar in die Botschaft.“ Abeias Herz blieb fast stehen. Die beiden Tasheya schienen vor Schreck zu erstarren. Auch der Bakyo schluckte. „Mir.. war nicht klar, dass es sich um einen Verdacht dieser Größenordnung handelt. Darf ich die Ayesha weiter begleiten.“ „Ich begleite sie.“ Der Bakyo verbeugte sich. „Verzeihen Sie. Okayanae deranua shimae. Sie kam über die Neto, die..“ „Ich informiere die Neto der Ajani.“ Der Bakyo verbeugte sich wieder und verließ den Raum. Yoshia Manae sah zu Abeia und wies auf eine Seitentür. „Würden Sie einen Moment draußen warten bitte.“ Abeia regte sich erst nicht. Dann verstand sie. Sie stand sofort auf und ging auf die Tür zu. Sie öffnete sie, ging in den Raum nebenan und schloß die Tür wieder. Der Raum war kleiner. Kein Tisch. Eine Computeranlage und eine Liege. Abeia begann zu zittern. Was das ein Verhörraum? Durch die Tür hörte sie Yoshia Manaes ruhige Stimme. Arie schluchzte. Abeia bekam einen Schweißausbruch. „Oh Gott. Was macht der... mit ihr..“ Die Tür der anderen Seite ging ohne Klopfen auf. „Du wirst lachen.“ Keyo Adena Adjadan kam herein und hielt inne, als er Abeia sah. „Ja hallo.“ Abeia wußte nicht, wie sie aussah. Ihre Hände zitterten stärker. „H.. allo..“ Keyo Adena sah sie kurz an. Dann schloß er die Tür und kam näher. „Was ist los.“ Erst jetzt spürte Abeia, dass sie schweißgebadet war. Ihre Stimme klang zittrig. „Er.. tut ihr etwas. Vielleicht foltert er sie. Er..“ „Bitte was?“ „Was ist wenn er sie tötet. Oh Gott. Oh Gott....“ Keyo hatte sie gefaßt. Ganz ruhig legte er ihr eine Hand auf die Stirn. Fast drückend. Den Blick aufnehmend. „Abeia.“ Abeia weinte. Sie wollte nicht. Das Gesicht war so vertraut. Der Blick. Warm. Ruhig. Das Gesicht war ihr so vertraut. Sie kannte es. Von früher. Früher: Sternviertel. Grillfeste. Ausflüge. Abende. Früher. Als der Alptraum noch nicht begonnen hatte. Als ihre Welt noch nicht auf den Kopf gestellt war. Keyo unterbrach ihr Denken. „Ruhig. Was ist passiert.“ Abeia zitterte: „Jetzt ist es passiert. Alles ist.. passiert..“ Die Tür ging auf, und Yoshia Manae kam herein. Abeia sah die Blockung des Grußes nicht. Dachte auch gar nicht daran, dass sie hätte grüßen müssen. Hatte alles vergessen. Keyo sah den Dannao der Kamura an. Yoshia ging zum Computer-Tisch, lehnte sich an ihn und sah Abeia genau an. Diese zwang sich, nicht wegzugucken. Und dann sagte der Dannao ganz ruhig: „Es tut mir leid, Frau Richter. Ich kann im Moment nicht viel tun. Ich bin sicher, dass Sie damit nichts zu tun haben, aber Sie sind dabei gewesen. In dieser Gruppe. Hier geht es tatsächlich um den Tatbestand eines Hochverratsverdachtes, das ist keine Kleinigkeit. Ich war gezwungen, die Shijoa zu informieren, da wußte ich allerdings noch nicht, dass Sie ein Mitglied dieser Gruppe sind. Dies werde ich jetzt nachmelden, und dann werde ich die Netoya informieren und Ihre Zirae, als deren Vertreter Keyo ja bereits hier ist. Beide Stellen werden Sie unterstützen, ich werde jetzt mit Ihnen nicht über den Vorfall sprechen und auch an Sie sowieso keine Untersuchungsfragen stellen. Nehmen Sie sich erstmal ein bißchen Zeit. Es passiert nichts Schlimmes. Das verspreche ich Ihnen. Niemandem.“ Yoshia Manae wirkte anders als sonst. Tief ernst. Ruhig. Aber schwer ernst. Abeia war weiß im Gesicht geworden. Innerlich spürte sie eine große Kälte: Sie setzte an, doch Keyo Adjadan legte ihr ruhig eine Hand auf den Rücken: „Naeko ata zei anaita. Ist gut. Nichts sagen.“ „Aber..“ „Dieses Gespräch findet eigentlich gar nicht statt, du hast noch keinen Vertreter, hier läuft gar nichts.“ Abeia war erstarrt. Keyo Adjadan nahm sie fast mit sich: Schob sie Richtung Tür. „Wir warten drüben. Komm mit.“
Plötzlich war Jano da. Abeia erkannte ihn erst gar nicht: Sie hatte ihn noch niemals in Tracht gesehen. Er wirkte wie ein anderer Mensch: Größer. Geerdeter. Adliger. Keyo begann den Gruß, Abeia folgte ihm wie aus der Erstarrung aufgeschreckt, doch Jano hatte ihn schon geblockt. Er sprach mit Keyo Amai. Dann verließ Keyo den Raum. Abeia war kalt. Sie fror. Sie fror vor Angst. Jano setzte sich mit ihr in die Sitzecke vor das Fenster. Keine Stühle. Trotzdem: Überall Weichheit. Wunderbarer Teppich. Indirekt reflektierendes Kerzenlicht. Abeia spürte eine scharfe Übelkeit. Jano wirkte völlig ruhig. Abeia hatte ihn jetzt oft getroffen. Ihn jedesmal humorvoller erlebt: Spielerischer. Leichter. Chaotischer. Jetzt war er ganz ruhig. „Okay. Ich bin da. Passiert nichts.“ Abeia spürte, dass sie weinen wollte: Es ging nicht. Gedanken rasten vor ihren Augen. Bilder. In einem Shijoa-Verfahren wurde genadelt. Naraita besaß die Todesstrafe. Sie wußte überhaupt nicht, was ihr bevorstand. Der Druck im Brustkorb wuchs. Sie bekam keine Luft. Jano nahm ihr beiden Handgelenke. Sprach sehr ruhig: „Ist nichts. Ist nichts. Nichts passiert. Niemand macht dir einen Vorwurf. Wir machen es jetzt so: Du erzählst mir, was passiert ist. Ganz von Anfang. Alles, was passiert ist. Okay?“ Abeia nickte. Auch Jano nickte „Gut.“
Brauchte sie lange? Oder waren es nur ein paar Minuten? Das Zeitgefühl war gebrochen. Irgendetwas passierte. Angst und Beruhigung mischten sich. Bekamen eine Richtung. Das Sprechen wurde immer einfacher: Jano hörte auf eine Weise zu, die Abeia noch niemals erlebt hatte. Die ihr Raum ließ und sie hielt. Die ein Vertrauen wachsen ließ: Mitten in der intensivsten Angst. Irgendwann hatte Abeia alles erzählt. Der Raum war zur Ruhe gekommen. Sie nicht. Aber sie war doch: ruhiger. Jano nickte. Abeias Stimme war leise: „War das dann.. ein Hochverrat?“ Jano saß sehr ruhig. War ganz sanft. „Wir müssen jetzt vor allem untersuchen, ob der Nunming von dir wußte. Ob er wußte, wer du warst. Im Moment glaubt das niemand, aber wir können es noch nicht ausschließen. Dafür brauchen wir ein paar etwas raffiniertere Verhöre, dafür gibt es in gleich mehreren Hochabteilungen Spezialisten, und die sind auch schon von der Leine.“ Stille. Die Angst war nicht mehr so erdrückend. Abeia saß reglos. „Jetzt.. komme ich vor die Shijoa, oder.“ „Formal ist jetzt ein Untersuchungsverfahren eröffnet worden, in dem ein Shijoa-Rang einen Anfangsverdacht abklärt. Das gilt erstmal für die Tasheya aus deiner Abteilung, aber wir können dich nicht einfach deshalb völlig rausnehmen, weil du zu unserer Familie gehörst. Gerade deshalb nicht. Das ist ein sehr wichtiges Prinzip in Naraita und hat etwas mit Verfassungstreue zu tun. Wir sind keine Diktatur, unsere Familie muß sich Gesetzen genauso beugen wie jeder andere. Aber es ist nicht von Bedeutung. Niemand macht dir einen Vorwurf. Okay? Himei weiß schon Bescheid, und er hat uns sämtliche biblischen Plagen angedroht für den Fall, dass wir dich nicht sehr gut betreuen.“ Jano lächelte ruhig: „Wir machen das ganz in Ruhe. Joa und Aryan sind zwischengelandet kurz, Aryan wird das Verfahren führen, aber erstmal wird Joa das Gespräch beginnen. Das heißt, dass du jetzt erstmal mit Joa sprechen wirst. Und hinterher auch noch mit Aryan. Und sonst mit niemandem. Du mußt nicht nach Naraita, und du mußt auch nicht mit Himei Noja sprechen. Okay?“ Abeia schwindelte. „Es war.. mein Fehler. Ich habe einen Fehler gemacht. Es ist meine Schuld.“
Als Abeia mit Jano in das große Audienzzimmer des Sheya in der Berliner Botschaft kam, nahm Abeia die Umgebung kaum wahr. Sah Farben nicht, bemerkte die sanfte Beleuchtung und die wunderbaren Rosenholzdüfte nicht: Obwohl sie dennoch wirkten. Seltsam linde Ruhe legte sich auf ihre Erstarrung. Das Gespräch lief bereits. Joa saß an einer tiefen, weißen Bodenplatte. Yoshia Manae saß neben Keikon. Die anderen waren nicht zu sehen: Arie war nicht da. An der Wand stand ein Keayake, den Abeia nicht kannte. Etwas weiter entfernt stand ein Mann in schwarzer Tracht. Er trug das Zeichen eines Projektführers. Abeia ging mit Jano in einen Gruß, der nicht geblockt wurde. Aber das Gespräch wurde auch nicht unterbrochen. Amai. Abeia spürte, wie Jano sich erhob und tat es ihm nach. Noch immer sprach Keikon. Jano setzte Abeia neben Keikon und setzte sich auf die andere Seite neben sie. Abeia mied den Blick des Sheya. War noch immer zu erstarrt. Sie verstand das Amai nicht. Keikon sprach gepreßt und doch: Ohne Stocken. „Wir haben die Ayesha zu Hause angerufen, weil wir dachten, dass der Mann.. vielleicht auch sie kontaktieren würde. Wir haben ihr nicht gesagt, dass.. der Mann ein Zentralasiate war und dass er.. nach den Kristalldaten gefragt hat. Wir wollten nicht, dass sie in ein Verfahren mit hineingezogen wird, wenn es dazu kommt. Aber wir wollten sie trotzdem warnen, deshalb haben wir behauptet, dass er nach Paßwörtern und PIN-Nummer gefragt habe. Wir haben uns ein Hotelzimmer genommen, jeder ein anderes, sie sollte auch eines nehmen. Sie wollte.. die Information weitergeben. Wir haben sie gebeten, dies nicht zu tun. Wir hatten Angst, dass uns niemand glaubt. Wir hatten Angst..“, seine Stimme brach, „dass genau das passiert, was.. jetzt passiert ist.“ Abeia brachte es noch immer nicht über sich, den Sheya anzusehen. Seine Stimme klang unerwartet völlig ruhig. Ernst, aber ruhig. „Sie hatten sehr viel Angst vor uns. Akzeptiert. Akzeptiert, dass der Weg zu uns weit ist und die Schwelle hoch. Akzeptiert, dass Sie Angst haben vor einen Shijoa-Verfahren. Akzeptiert, dass Sie uns nicht gut genug kennen und sich schützen wollten, das verstehe ich tatsächlich alles. Aber was ich nicht verstehe: Warum haben Sie vor uns mehr Angst als vor dem Nunming? Was glauben Sie denn, was der mit Ihnen gemacht hätte hinterher? Der hat Ihre Kollegin im Café doch nur deshalb laufen lassen, damit sie ihn zu Ihnen führt. Was sie auch getan hat. Alle Schäfchen zusammen, perfekt. Ist Ihnen mittlerweile klar, dass der vorhatte, noch mal zurückzukommen? Soll ich Ihnen mal aufzählen, mit was der alles bewaffnet war? Glauben Sie denn wirklich, wir behandeln Sie schlechter als der?“ „Ich..“ „Wenn Sie Schutz brauchen vor einem so hochrangigen und aggressiven Aktivisten eines gegnerischen Geheimdienstes, dann müssen Sie zu uns kommen. Ob Sie das wollen oder nicht. Wir sind die Einzigen, die Ihnen helfen können. Und wir sind genau dafür da. Für Sie. Verstehen Sie das.“ „Ich..“ „Es geht um Schutz. Sie waren in Gefahr. Jemand mußte Ihnen helfen. Und zwar bevor der Nunming Ihr kleines Kaffeekränzchen stürmen konnte. Der hätte Sie alle zusammen gehabt. Er ist erst Sekunden bevor er das Haus betreten hat, in dem Sie sich alle befanden, identifiziert worden. Wir hatten einen Rang in der Szene, der sehr entschlossen und sehr schnell reagiert hat, und darüber sind wir sehr froh.“ Wieder entsetzte Stille. Abeia spürte einen schweren Schwindel, obwohl sie nicht verstand, was gesagt wurde. Sie zwang sich, den Blick zu heben. Joa anzusehen. Der Blick, der sie traf, war tief ruhig. Dann sagte er etwas auf Amai. Die Naraita erhoben sich. Der Keayake, der an der Wand gestanden hatte, öffnete eine Tür und führte die beiden in den Nebenraum. Die Tür schloß sich. Erst jetzt sah Abeia, dass jemand in schwarzer Tracht neben der zweiten Tür stand. Aryan Noja. Abeia erstarrte. Jano begann zu sprechen: Wieder Amai. Abeia war kalt vor Angst. Sie wußte nicht, was die Männer sprachen. Hörte nur den Klang der Stimmen: Hörte die Ruhe und den Ernst. Abeia konnte den Blick kaum halten. Die Angst war zu stark. Sie zwang sich dazu. Joa Blick blieb völlig ruhig. Dann sagte er auf Deutsch: „Abeia. Wir konnten dieses Gespräch nur auf Amai führen. Es ist in anderen Sprachen nicht genau genug zu übersetzen. Aber ich möchte jetzt erstmal, dass du dich beruhigst. Wir haben jetzt über einen Fehler gesprochen. Fehler passieren. Du bist eine Ayesha, du bist noch in der Näherung, du kennst unser System noch zuwenig. Fehler werden verantwortet, aber sie bedeuten keine Katastrophe. Du mußt keine Angst vor uns haben. Egal, was passiert. Egal, welchen Fehler du machst. Du kannst immer zu mir kommen und sagen: Ich glaube, hier ist was schief gelaufen. Das ist sehr wichtig. Fehler brauchen Begleitung und Hilfe.“ Abeia preßte erstickt: „Es tut mir leid. Es.. tut mir leid...“ Joa saß völlig ruhig. „Die Noja haben dir heute sehr geholfen. Weil sie bei dir waren. Sie haben auf dich geschaut. Das ist das besondere Geschenk. Und das gilt auch für die Shijoa der Noja. Wachen heißt dann: Einen Blick zu haben. Drüberzugucken. Über Angreifer, über Sicherheitslücken, über Blutbilder oder über Handlungen. Über eigene Handlungen. Um Grenzen zu behüten. Um sicherzustellen, dass man seine Fehler in Ruhe und behütet machen kann. Aryan führt jetzt eine Shijoa-Untersuchung über deine Arbeitskollegen und auch über dich. Das heißt: Er guckt sich an, was dort passiert ist. Er spricht jetzt mit dir, und da passiert nichts Schlimmes. Wir beide bleiben bei dir. Okay?“ Abeia nickte. Sie spürte, wie ihr Kopf schmerzte. Als Aryan Noja sich an die Sitzplatte setzte, wurde ihr fast wieder schwindelig. Der Denei wirkte tief ruhig. Und dann sagte er etwas, das Abeia überhaupt nicht erwartet hatte: „Ich weiß, was das für Sie bedeutet. Das ist sehr schwer. Wir machen es so: Wenn Sie eine Pause brauchen, dann gehen Sie raus. Okay? Sie können jederzeit rausgehen. Sie sind hier nicht vor einem Gericht und nicht zu irgendetwas gezwungen. Sie haben eine Not gehabt; ich möchte Ihnen helfen, diese Not genauer zu verstehen und vielleicht sogar das Mißverständnis etwas aufzulösen. Denn jede Not wächst auf einem Irrtum. Wenn das im Moment noch zu schwer für Sie ist: Ich habe keine Eile. Wir müssen es auch nicht heute machen. Da ist die Tür: Sie ist offen. Sie sind völlig frei zu gehen.“ Stille. Sofort fiel etwas von Abeia ab. Die Aussicht auf einen Ausweg ließ den Schwindel sofort abklingen. Abeia atmete aus. Sie nickte bleich. Aryan Noja nickte ebenfalls. Dann fuhr er ruhig fort: „Sie haben Angst vor Shijoa-Verfahren. Das ist nicht einfach abzutun. Aber Dewa-Verfahren kann man schnell bekommen. Ich hatte schon siebzehn. Wenn Sie mich noch einholen wollen: Geben Sie Gas.“ Abeia stand völlig reglos. „Sie..bzehn?“ „Dabei wird es kaum bleiben. Der Sheya ist tugendhaft. Bei ihm waren es nur drei, und alle vor dem 18. Lebensjahr.“ Abeia stand reglos. „Tat..sächlich?“ „Also ich sehe in diesem Raum hier niemanden, der nicht schon ein Dewa-Verfahren hatte.“ Abeias Brust wurde freier. „Ach... so...“ „Wovor haben Sie Angst. Sagen Sie es mir.“ „Ich..“ Abeia stand erstarrt. „Ich habe Angst.. ich weiß nicht. Dass ich bestraft werde.“ Aryan Noja sah sie ruhig an. „Das möchte ich wenn möglich mal gerne genauer klären. Ist ein persönliches Anliegen von mir. Wie meinen Sie das genau.“ „Wie..?“ „Welche Strafe. Glauben Sie, ich tue Ihnen ein Leid an?“ Schwere Stille. Abeia sah Aryan Noja an. Dann sagte sie leise: „Vielleicht, wenn Sie.. müssen.“ „Wenn ich muss? Wenn jemand Ihnen ein Leid antun möchte, dann muss er vor allem eines: An mir vorbei.“ Schwere Stille. Abeia sah den Denei an. Hielt jetzt den Blickkontakt. Der Satz wirkte. Er hatte nicht überheblich geklungen. Oder voreilig ausgesprochen. Abeia atmete aus: „Aber wenn ich einen Fehler gemacht habe.“ „Natürlich machen Sie Fehler. Das müssen Sie auch, es ist völlig normal. Wenn wir Fehler machen, dann brauchen wir in der Regel nicht weniger Schutz, sondern mehr. Frau Richter: Sie haben große Angst vor uns. Von Anfang an. Sagen Sie mir, was Sie befürchten. Im schlimmsten Fall. Ich sitze hier, Sie können es mir sagen.“ Schwerste Stille. Dann hörte Abeia sich sagen: „Ich habe Angst, dass.. es gibt ja auch eine Todesstrafe, oder. Dass es vielleicht entschieden wird irgendwo oder von ihrem Vater, und dann.. müssen Sie das tun.“ Stille. Und dann sagte Aryan Noja: „Sie glauben, dass ich Sie töten würde?“ Der Satz wirkte sofort. Abeia sah Aryan Nojas Blick und spürte wie ein Stich im Herzen. Einen warmen Stich. Sie sagte rauh: „Vielleicht.. wenn Sie müssen. Wenn es Ihnen jemand.. sagt.“ Aryan Noja sagte: „Dass ich Sie töten muss, Frau Richter. Das ist völlige Fiktion. Das hat mit der Realität rein gar nichts zu tun. In Naraita wird keine Todesstrafe vollstreckt. Und selbst wenn dies doch so wäre würde mein Vater niemals eine solche Vollstreckung anordnen. Und selbst wenn er dies doch täte, was für mich nicht denkbar ist: Dann würde ich diese Strafe definitiv nicht akzeptieren, schon gar nicht gegen ein Mitglied der Hochajani. Weder würde ich akzeptieren, dass ich einen Hochajani töten sollte, noch würde ich akzeptieren, dass jemand anders dies versucht. Und wer dies auch wäre: Er hätte sich dann mit mir auseinanderzusetzen. Ob diese Vollstreckung dabei willkürlich oder rechtmäßig abgeleitet ist wäre mir dabei einfach mal komplett egal. Ich bin ein loyaler Rang des Verfassungsschutzes, aber keine juristische oder politische Kraft irgendeiner Art unseres Landes, kein Rangträger, keine Einzelperson und kein noch so hohes Signum jeglicher, Ihrer oder meiner Familie wird Hand an Sie legen, wenn ich noch lebe.“ Abeia saß reglos. Dann begann sie zu weinen.
Irgendwann wurde sie ruhiger. Der Druck war von ihr abgefallen. Wärme. Erst jetzt merkte sie, dass Jano sie an sich genommen hatte. Das Gehalten-Werden tat so gut. Abeia drückte sich an ihn. Irgendwann sah sie wieder zu Aryan Noja. Setzte sich aufrechter. Die Energie war weggeflossen: Von selbst. Aryan Nojas Stimme war so ruhig wie der Frieden, den sie spürte. „Sehen Sie, wie wichtig das ist, was hier geschieht. Dieses Verfahren. Wir beide mussten unbedingt mal zusammen sprechen, das war ganz überfällig. Aber nicht über das, was heute geschehen ist. Was heute geschehen ist hängt in erheblichem Maße damit zusammen, dass wir uns noch nicht gut genug kennen. Daher bringt es uns zusammen, und wir können über etwas ganz Grundsätzliches sprechen. Das ist, was die Shijoa uns schenkt.“ Abeia saß reglos. Aryan Noja sah sie an. Noch immer Stille. Dann sagte der Keto der Keayake: „Sie haben heute erfahren, dass eine Gefahr für Ihren Leib bestanden hat. Es ist ganz natürlich, dass Sie das erschreckt. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Ob ich dies als Arzt tue oder als Keayake oder als Shijoa spielt keine Rolle. Ein Shijoa-Verfahren ist eine Hilfe. Um das zu verstehen, müssen Sie es erleben. Mein Vater hat mich geschickt, um Ihnen zu helfen. Mein Vater hat noch niemals einen Menschen getötet oder töten lassen, und ganz sicher wird er nicht mit Ihnen damit anfangen. Unter keinen Umständen.“ Stille. Abeia preßte: „Aber ist das nicht die Strafe für einen Hochverrat?“ „Nein.“ Wieder Stille. „Nein?“ „Nein.“ „Ich.... dachte.“ Abeia rang erleichtert mit den Händen: „Ich... weiß es nicht, ich bin völlig durcheinander, ich.. verstehe gar nicht, was passiert ist..“ Aryan Noja sagte ganz ruhig: „Sollen wir es zusammen herausfinden?“ Abeia nickte. Der Denei nickte ebenfalls. „Ein bißchen ordnen alles. Wäre das eine Idee.“ „Ja.“ „Okay. Hören Sie einfach mal zu, wie es für Sie klingt. Wie wir das machen hier. Lernen Sie es kennen. Es ist das, was es ist und nicht das, was Sie fürchten. Ich eröffne über Sie ein Dewa-Untersuchungsverfahren der Shijoa. Die Linie wird zur Schließung vorzulegen sein. Die Einlassung der Zeugen ist dokumentiert, der Ablauf ist dokumentiert. Beide Linien sind bekannt und werden hier nicht wiederholt. Eine Ableitung und Prüfung ergibt sich in wekya asa akarei nach Paragraph 24 etidie neda eines auszubildenden Ranges der höchsten Familie. Der Rang steht nicht in Signumskraft. Der zu beurteilende Verdachtssachverhalt lautet auf Hochverrat und Verletzung der Würde des Familiensignums der Amaterai. Möchten Sie mir erzählen, was passiert ist? Auf Deutsch.“ Stille. Abeia sah den Blick. Der Blick half ihr. Langsam begann sie, auf Deutsch zu sprechen. Erst stockte sie. Dann wurden die Sätze schneller. Der Raum lag still. Sie sprach, und Aryan Noja hörte ihr konzentriert zu. Es tat gut zu sprechen. Und etwas wurde Abeia langsam bewusster: Sie hatte einen Fehler gemacht. Als sie zuende erzählt hatte, wußte sie es. Der Raum lag still. Aryan Noja nickte. „Ich danke Ihnen.“ Abeia atmete aus. Dann sagte sie leise: „Es tut mir leid.“ „Was tut Ihnen leid.“ „Ich habe einen Fehler gemacht.“ „Erklären Sie mir, was der Fehler war? Es interessiert mich.“ Wieder Ausatmen. „Ich hatte gar nicht wahrgenommen, dass... der Mann gefährlich sein könnte. Ich hatte Keikon einfach geglaubt, dass... Sie uns nicht glauben. Wie.. hätten wir es beweisen sollen. Dass niemand etwas gesagt hat. Oder wie wußte ich das überhaupt.“ Aryan Noja sagte ruhig: „Schauen Sie auf sich. Sie brauchen sich nicht für die anderen Ränge zu verantworten oder über sie zu spekulieren. Ich möchte Ihnen eine zentrale Frage stellen. Sind Sie bis zu dem Moment, in dem Sie zum Dannao der Kamura gebracht wurden, auf die Idee gekommen, dass der Mann, von dem Ihre Kollegen Ihnen erzählt haben, ein Agent eines Geheimdienstes sein könnte, der Naraita schaden will?“ Abeia preßte: „Nein. Nein, ich.. eben nicht. Nein.“ Aryan Noja nickte. „Haben Sie selbst dem Mann eine Information weitergegeben?“ „Nein! Ich.. hatte ihn gar nicht getroffen.“ „Schauen Sie sich die Antwort noch mal an. Ist sie richtig?“ Abeia stand reglos. „Ja.“ „Ja. So ist es. Sehen Sie, dass Sie auch noch mal hingesehen haben? Sie haben ein Urteil gefällt. Sie selbst. Das können Sie nämlich. Ich habe Ihnen nur dabei geholfen. Außerdem weiß ich, dass Sie den Mann nicht getroffen haben. Und darüber bin ich froh. Ena ate atarai ewete. Wir sehen keine Schatten auf dem höchsten Familiensignum, das uns geschenkt wurde. Ich empfehle dem Shijonat, die Untersuchung zu schließen. Lehnen Sie sich mal etwas zurück. Und jetzt sage ich Ihnen, was ich glaube: Sie sind nicht auf die Idee gekommen, dass der Mann ein Kejang und damit eine Gefahr für Sie ist. Das war eine Fehleinschätzung. Fehleinschätzungen sind in Ordnung. Das ist die Basis. Das muß man verstehen, sonst wird die Angst so groß, dass keine Klarheit wächst. Fehler sind in Ordnung. Das, was Sie nicht können, übernehmen wir für Sie. Wir haben über Sie gewacht, so sind wir auf diesen Mann aufmerksam geworden, und wir sind sehr wohl auf die Idee gekommen, dass dies ein Kejang sein könnte. Sehr lange haben wir ehrlich gesagt nicht gebraucht, um das zu vermuten. Das aber ist unser Fach und nicht Ihres. Wir haben das gemacht. Nicht Sie. Es ist gut.“ Abeia saß völlig reglos. War wie gefangen. Die Ausstrahlung von Aryan Noja war völlig anders als die von Jano oder Joa. Viel tiefer. Sanfter. Ruhiger. Größer. Er hatte sie völlig auf sich zentriert. Sie atmete wieder freier. Spürte, wie sie sich entspannte. Fand keine Worte. Und brauchte auch keine.
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