Leseprobe Buch Teil 4: Naraita - Geschichten aus der Todai (ein modernes Märchen)
- Petra Schrader
- 16. Jan. 2023
- 16 Min. Lesezeit

Genau vier Wochen später stand Abeia vor dem kleinen Bootsverleih am Dianasee. Der Sommer war gekommen und fast schon wieder gegangen: Spätsommer. Noch war die Stadt warm. Die Sonne war nicht mehr heiß. Die Farben wirkten weicher. Die Luft sanfter. Und der Abend war sehr still. Abeia war lange spazierengegangen. Schweigend. Die Stimmung in ihr war gewachsen. Hatte sich entwickelt. Und hatte sich verändert. Abeia ging auf den Bootsverleih zu. Der See lag wie ein glatter Spiegel.
Abeia kannte den Dianasee. Er war der einzige See in Berlin, vor dem sie keine Angst hatte. Was aber niemand wissen konnte. Warum war es ausgerechnet dieser See, den Geseja Amaterai sich ausgesucht hatte? Solche Dinge waren Zufall. Der See war flach. Er war groß, aber dafür bekannt, dass er an keiner Stelle tiefer als einen Meter fünfzig war. Die größten Bereiche waren so flach, dass man ihn kaum mit Booten befahren konnte. Deshalb gab es kaum Boote oder sonstige Freizeitsportler auf dem Dianasee: Das Restaurant am nördlichen Ende verlieh kleine Flachboote mit sehr schwachen Motoren: Die Anwohner des Sees wollten keinen Lärm. Henriette und Abeia hatten diese Boote oft im Sommer genutzt und waren stundenlang am Ufer entlanggefahren. Um alleine zu sein. Um zu sprechen. Und weil Henriette die Einzige war, die von Abeias Wasserangst wußte.
Langsam kamen die Häuser näher. Der Außenbordmotor tuckerte fast leise. Abeia sah die Fronten der Häuser ab. An keinem war etwas zu sehen, das an den elegant-grazilen Stil erinnerte, den sie von der Front der Berliner Botschaft kannte. Von damals. Als sie mit Henriette noch vor den Toren der Botschaft von Naraita gestanden und versucht hatte, durch die Holme einen Blick auf den wunderschönen Brunnen hinter dem Eingangstor zu erhaschen. Die Holme standen so, dass man nicht mehr durchsehen konnte, wenn man näher kam. Und den Brunnen nur erahnte, wenn man weiter weg stand. Ein Symbol: Naraita war unerreichbar. Plötzlich fiel Abeia alles wieder ein. Plötzlich fiel ihr die Welt vor dem 12. Mai wieder ein. Eine Welt, in der Träume auch in Erfüllung gingen. Eine Welt, in der Henriette und sie endlich nach Naraita gekommen waren.
„Verdammt.“ Das konnte doch nicht sein. Nicht einmal, wenn sie etwas alleine machte. Warum ging dann sofort alles schief. Abeia beugte sich über den Außenbordmotor und sah, wie die Seepflanzen sich darin verfangen hatten. Minutenlang kämpfte sie gegen die grünen Stränge. Einem Mann mußte man das wahrscheinlich nicht erklären. Dass man mit dem Motor nicht zu nah an die Seerosen fahren durfte. Einem Mann wäre das nicht passiert. Abeia fluchte wieder. Der Motor sprang nicht wieder an. Sie nahm ihr Handy. Kein Empfang.
Das Boot trieb nicht. Keine Strömung. Kein Wind. Abeia schaukelte einfach das Boot – vergeblich. Wieder und wieder versuchte sie, den Motor zu starten. Kein Paddel. Warum hatte das verdammte Boot kein Paddel. Sie sah sich um. Das Ufer war schon sehr nah. Andere Boote waren nicht zu sehen. Abeia blieb im Boot sitzen und atmete tief durch. Es war nicht gefährlich. Kein Grund Angst zu bekommen. Das Wasser war flach. Der Bootsbesitzer würde sie vermissen. Wieder sah Abeia auf das nahe Ufer. 200 Meter? Vielleicht noch nicht mal. Die Ufer waren bewachsen. Keine Wanderwege. Überall Villen. Fast ein Privatsee. Abeia atmete tief aus. Sie durfte keinen Fehler machen. Aber der See war flach. Sie konnte keinen Fehler machen. Außerdem hatte sie ein Notsignal am Handy und eines am Handgelenk. Keyo Adena hatte ihr erklärt, dass es auch funktionierte, wenn das deutsche Handynetz keinen Empfang hatte. Aber was genau würde passieren, wenn sie dieses Signal aktivierte? Das hatte sie dummerweise vergessen zu fragen. Abeia hatte noch nie einen Keayake gesehen. Eines der Häuser vor ihr gehörte Geseja Amaterai, dem nächsten Verwandten ihres Vaters. Und Abeia wußte, dass er sich im Moment in diesem Haus aufhielt. Christopher und Christine hatten ihn besucht. Gestern abend. Und sie hatten gesagt, dass er für längere Zeit hier sei. Also war er da. Vielleicht würde man ihn informieren, und dann würde Abeia ihn auf diese Weise kennenlernen: Dass sie mit seerosenverstopftem Außenborder mitten auf einem flachen Binnensee trieb und offensichtlich nicht mal geprüft hatte, ob ein Paddel an Bord war. Abeia tauchte ihre Hand ins Wasser. Warm. Bei tagelangen 30 Grad Außentemperatur nicht anders zu erwarten. Keine Strömung. Die Seerosen lagen ruhig. Sie sah noch einmal zum Ufer. Dann faßte sie mit einer Hand an das Boot und ließ sich vorsichtig ins Wasser gleiten. Die Seerosen umfingen sie mit ekligem Glitschen. Braunes Wasser wallte auf. Abeia verzog das Gesicht. Das Wasser ging ihr nicht mal bis zur Hüfte. Sie versuchte, das Handy hochzuhalten, damit es nicht nass wurde, doch sie brauchte beide Hände, um die Pflanzen beiseite zu schieben. Schweren Herzens schaltete sie das Handy aus und ließ es ins Boot zurückgleiten. Dann sah sie auf ihr Armband. Der kleine Button für das Notsignal der Keayake, auf das sie nur drücken musste, war dort eingewebt. Aber jetzt musste sie mit den Händen ins Wasser. Was, wenn der Transmitter dadurch beschädigt wurde? Oder aktiviert, obwohl sie es nicht wollte? Abeia stand reglos. Sah lange auf den Transmitter. Würden die Keayake ihr ein Signal geben, das nicht nass werden durfte? Abeia wußte es nicht. Sie nahm das Armband vom rechten Arm ab und legte es links an. Dann schob sie es so weit hoch an ihren Arm, wie es ging. Tatsächlich dehnte sich das Band sanft und hielt auch am Oberarm. Dand begann sie vorsichtig, sich Schritt für Schritt Richtung Ufer zu bewegen. Der Boden war schlammig. Jeden Schritt belastete sie ganz vorsichtig. Aber das Wasser blieb flach. Sie arbeitete sich durch die Seerosen. Immer wieder musste sie welche beiseite schieben. Als sie an Land trat, war ihre Hose über und über mit Schlamm und Wasser bedeckt. Abeia zog das Gesicht. „Oh toll.“ Als sie auf den grasbewachsenen Sand trat, sah sie außer Atem an sich herab: Die Schuhe waren mit Wasser und Schlamm gefüllt. Sie zog sie aus. Dann sah sie sich um. Das Ufer gehörte zu einem Garten. Das Haus davor war um die Terrasse bunt angemalt. Vor einer Glastür standen afrikanische Skulpturen. Wenigstens nicht die Wohnung von Geseja Amaterai. Abeia begriff, dass sie auf Privatgelände gelandet war. Weit und breit keine Begrenzung: Das Gelände schien zum Haus zu gehören. Hoffentlich kam kein Hund. „Hallo?“ Abeia rief und drehte sich um. „Entschuldigung! Hallo?“ Im selben Moment sah sie den Affen. Erst glaube sie an eine Täuschung. Einen kleinen Hund vielleicht. Doch der freudig-quietschend Herankommende war eindeutig ein Affe. Klein, braunes Fell, eine weiße Zeichnung im Gesicht, die Nase schwarz: Kein Schimpanse. Kein Orang-Utan. Mehr Affen kannte Abeia nicht. Der Affe tanzte um Abeia herum, quietschte freundlich und nahm dann ihre Hand. „He.“ Abeia mußte unwillkürlich lachen. „Also. Wo ist denn so.. dein Herrchen.“ Der Affe beschnupperte Abeia sorgfältig. Dann machte er einen Satz und saß bei ihr auf der Schulter. „He!“ Abeia wollte ihn abschütteln, doch der Affe gab einen original schmuse-suchenden Laut von sich und drückte seinen Kopf schief an Abeias Kopf. Abeia mußte lachen. „Okay.“ Sie streichelte ihn. „Du bist ja auch wirklich ein Süßer.“ Ein Quietschen von der Terrasse kündigte Verstärkung an: Ein zweiter Affe bog um die Ecke. Einen Moment später hing er bei Abeia auf der linken Schulter. „Das kann doch wohl nicht wahr sein.“ Als der dritte Affe kam, fand Abeia die Sache nicht mehr so lustig. Die drei störten sich nicht an dem Schlamm, der ihre Hose noch bedeckte. Sie begannen, Abeias Kleidung zu untersuchen und mit kleinen, geübten Fingern daran herumzusuchen. Abeia schimpfte, versuchte, die Affen loszuwerden, doch diese schmiegten sich immer wieder an sie. Plötzlich sah Abeia, dass sich doch Leute auf dem Grundstück befanden: Die Terrasse war leer. Die beiden Männer hingen an der Mauer. Der etwas Ältere war schlank, dunkelhaarig, trug eine weiß-blaues Kopftuch um die Haare und war so braungebrannt, dass Abeia ihn im ersten Moment für einen Afrikaner hielt. Ein jüngerer Mann mit dunklen Haaren und deutlich schmalerem Körperbau saß neben ihm und schien das Seil zu sichern, an dem er befestigt war. Der jüngere Mann wirkte weicher. Eleganter: Gutaussehend. Als Abeia sah, wie die beiden ihren Kampf mit den Affen lachenden Blickes beobachteten, stemmte sie ihre Hände in die Hüften und meinte: „He! Wie lange wollen Sie da eigentlich noch zugucken?!“ Der ältere Mann hing in der Verknotung aus Seilen und war dabei, seine Balustrade bunt zu malen. Sein Alter war schwer zu schätzen. Eigentlich war er irgendwie jung. Mit einem schalkig-gewinnenden Lächeln sagte er auf Englisch: „Die Affen mögen Sie.“ Abeia atmete aus und antwortete ebenfalls auf Englisch: „Glauben Sie.“ „Ja. Ich bin erstaunt. Normalerweise sind sie sehr scheu.“ „Oh.“ Abeia hatte mehr Adrenalin in sich als sie dachte. Der Schreck über das Bootsmißgeschick kanalisierte sich in Ärger. „Vielleicht mögen sie Schlamm. Leider bin ich gerade gestrandet. Wie Sie vielleicht zufällig beobachtet haben.“ Der jüngere Mann stabilisierte den Gurt des Älteren. Auch er wirkte unbekümmert. „Wir haben Sie im Auge behalten. Allerdings haben Sie nicht um Hilfe gerufen.“ Er hatte ebenfalls Englisch gesprochen: Fließend und weich. Ein besonderer Akzent, der darauf hingewiesen hätte, aus welchem Land er kam, war nicht herauszuhören. „Warum hätte ich auch rufen sollen.“ Der Ältere meinte: „Die Stimme trägt auf dem Wasser sehr weit. Und Sie haben nicht mit den Armen gewunken. Das ist das internationale Zeichen für Hilfe.“ Abeia hatte sich damit abgefunden, dass der erste Affe auf ihrem Kopf saß. „Auch in Afrika, nehme ich an. Halten Sie auch Zebras?“ „Zebras sind sehr scheue Tiere, die nur in Herden leben und sehr große Reviere haben.“ „Und Schimpansen nicht.“ „Das sind keine Schimpansen. Rothandgibbons. Sehr sozial, sehr intelligent, hören aufs Wort.“ „Auf mein Wort nicht.“ „Auf meins auch nicht.“ Der Jüngere zog sich nach hinten.. „Die entscheiden sehr genau, wen sie mögen. Mich sehen sie eher kritisch. Aber von Ihnen sind sie begeistert. Das war so klar. Das sind übrigens alles männliche Affen.“ Abeia spürte über ihren Ärger eine seltsames Amusement. Die Männer war schwer zu beschreiben. Schwer einzuordnen. Und sie waren ihr sofort sympathisch. Abeia versuchte, einen der Affen davon abzuhalten, ihr die Socken auszuziehen. „Ach so.“ Der ältere Mann grinste. „Er hat Recht, da können Sie sich was drauf einbilden. Ehrlich jetzt. Dass alle drei jemanden gleich so mögen, habe ich selten erlebt.“ Die beiden Männer bewegten sich gleichzeitig, der Ältere machte mit seinen Gurten eine Drehung und hing so kopfüber, dass er mit dem Pinsel an die Regenrinne kam. Abeia spürte, wie eingespielt die beiden waren. Sich nahestanden. Freunde? Brüder? Sie mußte grinsen, weil sie den einen jetzt kopfüber sah: „Sie wollen mir aber nicht wirklich helfen, Ihre Affen von mir runterzubekommen, oder.“ „Setzen Sie den Schwarzen auf den Boden. Dann holt er die anderen auch herunter.“ Abeia versuchte herauszubekommen, welcher der schwarze Affe war. Sie nahm ihn und wollte ihn vor sich setzen. Dabei sah sie den schmusenden Blick und musste plötzlich lachen. „Okay.“ Sie nahm ihn auf den Arm, und die beiden anderen blieben an ihr gehängt. Die beiden Männer lachten. Abeia stemmte eine Hand wieder in die Hüfte. „Was ich eher als Affen bräuchte, wäre ein Handtuch. Und ein Telefon. Wenn Sie keins haben. Ich nehm auch Trommeln.“ „Haben Sie schon mal getrommelt?“ „Nein.“ „Ich kanns empfehlen. Mir tuts gut.“ Er drehte sich wieder. „Gehen Sie rein. Das Bad ist links. Im Schrank sind T-Shirts und akashes. Die werden wie Röcke gebunden. Suchen Sie sich eins aus.“ „Vielen Dank. Ich denke, es reicht, wenn ich telefoniere.“ „Duschen Sie sich die Beine ab. Sie können von innen abschließen. Aber an der Uferseite sind im Schlamm viele Terrazoen.“ Der Mann drehte sich wieder. „Die nesseln. Geben Sie den Affen Ihre Schuhe, die säubern die.“ Abeia prustete fast. „Wie bitte?“ „Die haben das schon gesehen, dass Sie da Nesseln haben. Die pflegen Sie. Machen sie mit mir auch, wenn ich in solchen Seen schwimme.“ Abeia konnte es nicht fassen. Dann spürte sie, dass ihr Bein zu jucken begann. „Oh Mist.“ Sie zog den Schlamm ab und spürte das Jucken sofort am Finger. Der Mann tauchte den Pinsel in die Farbe. „Nicht anfassen. Abspülen. Links rein.“ Abeia atmete aus. Dann ging sie in die Wohnung.
Als Abeia wieder auf die Veranda trat, hatte sich die Haut beruhigt. Die Seifenlotion, die in der Dusche gestanden hatte, wirkte angenehm kühlend und duftete so intensiv nach Kastanie, wie Abeia es noch niemals erlebt hatte. Leider war die Lotion in ein wunderbares Steingefäß gefüllt gewesen, auf dem kein Hersteller stand. Die Affen hatten genau das getan, was der Mann vorausgesagt hatte: Konzentriert und sanft hatten sie die nesselnden Fasern einzeln aus den vorher abgewaschenen Schuhen geklaubt: Die Schuhe waren noch nass, aber sauber. Dafür saßen zwei Affen jetzt zufrieden quietschend auf Abeias Schultern, während der dritte sich wie ein kleines Baby auf dem Arm tragen ließ. Die Affen waren nicht schwer. Abeia setzte das dritte sanft auf den Tisch, doch mit einem Protest-Quietschen schmiegte dieser sich wieder an sie. Der ältere Mann stand jetzt am Verandatisch, der sich an das hinter offenen Terrassentüren afrikanisch eingerichtete Wohnzimmer anschloß und mischte ein Getränk mit Sahne, Eiswürfeln und viel Obst. Der jüngere Mann saß auf der Kissenbank und schnürte seine Schuhe auf. Jetzt sah Abeia, dass er hochgewachsener war, als er auf dem Dach gewirkt hatte. Und doch schmal wirkte. Selbst die Hände waren schmal. Er besaß eine angenehme Sanftheit. Und er sah in einer schwer beschreibbaren Weise attraktiv aus. In einer anderen Weise als der ältere Mann. Der ja gar nicht alt war. Trotzdem besaßen beide auch Ähnlichkeiten. Der Blick war derselbe. Das schalkige Blinzeln. Gute Laune? Vergnügtheit. Abeia atmete aus. „Vielen.. Dank. Ich habe.. die Nesseln aus meiner Kleidung nicht auswaschen können. Aber ich werde diese hier zu Hause waschen und Ihnen dann so schnell wie möglich zurückbringen.“ Erst jetzt sah sie, dass der ältere Mann kein Farbiger war. Die Haut war etwas dunkler und sehr sonnengebräunt. Eigentlich sah er aus wie eine Mischung aus australischem Outback-Cowboy und Nepal-Rucksacktourist. Das Haarband verdeckte ein Piercing. Wieder war das Gesicht Abeia sofort sympathisch. Frei? Chaotisch. Offen und sehr direkt. Der Mann hatte drei große Gläser gefüllt. „Sie können die akashe behalten. Steht Ihnen sehr gut.“ Abeia machte einen zweiten Versuch, den Affen abzusetzen. Dann sagte sie ehrlich: „Ihre Wohnung.. sieht toll aus. Die Bilder sind irre gut.“ „Danke.“ „Sind das Ihre?“ „Von sehr lieben Freunden.“ „Oh. Aus.. Afrika?“ „Südostasiatischer Regenwald. Die Stämme in afrikanischen Regenwäldern zeichnen mit Pflanzenfarben, deshalb gibt es viele Rottöne. Das hier sind mineralische Farben, die sind heller.“ Abeia hob den Affen vor sich. „Ach so.. sind. die Affen auch daher?“ „Ja. Ich hätte sie auch nicht mitgenommen, aber sie wollten unbedingt.“ „Sie haben sie .. adoptiert.“ Der andere Mann machte eine Geste, mit der er andeutete, dass es eher umgekehrt war. Abeia musste lächeln. Sie nahm das Glas. Die drei tranken. Erst jetzt spürte sie, wie durstig sie war. Der erste Affe nahm sich fix einen Strohhalm und tauchte ihn in das Glas. „He.“ Abeia mußte lachen. „Paß mal auf.“ Der Affe sah sie schief an. Abeia trank einen Schluck und stellte das Glas dann dem Affen hin. „Okay. Du hast mich auch abgesucht.“ Der Mann gab einen Laut von sich und machte eine Handbewegung. Sofort waren die drei Affen bei ihm. Er blieb mit seinem Glas hinter der offenen Anrichte stehen und steckte einen Strohhalm in sein Glas. Abeia fühlte sich seltsam wohl. Niemals wäre sie alleine in ein Haus gegangen, zu dem zwei fremde Männer Zutritt hatten. Niemals hätte sie sich ihnen überhaupt genähert. Hatte Männer immer im Blick. Paßte auf. Die normale Sorge schien völlig verschwunden. War sie zu leichtsinnig? Die Sorge kam nicht. Irgendwas war anders. Sie spürte, dass die Männer ihr nichts tun würden. Weil sie anders waren als andere Männer. Sie hielten eine angenehme Distanz. Besaßen etwas, was andere Männer nicht besaßen. Eine Art von Gesundheit. Von fehlender Entgrenzung. Von Entspannung. Jeder auf seine Art. Offen. Sanft. Und leicht. Sie griffen nicht nach ihr. Abeia spürte sehr genau, dass sie den beiden trauen konnte. Sie mußte fast lächeln. Dann sah sie, dass ihr Tretboot genau vor dem Ufer des Grundstücks lag. Daneben war ein kleines Holzboot vertäut, das vorher nicht zu sehen gewesen war. Sie hustete überrascht. „Wie.. kommt das Boot hierher?“ Der Ältere meinte: „Wir habens Ihnen wieder flott gemacht.“ „Ist es... beschädigt?“ „Nein.“ Abeia trank noch einen Schluck. Die Joghurt-Schorle war köstlich. Dann atmete sie aus. „Ich habe mich noch nicht bedankt.“ „Wofür.“ „Immerhin sind Sie die Insel, an der ich gestrandet bin.“ „Wo wollten Sie denn hin.“ Abeia atmete aus. „Ist n bißchen kompliziert.“ Der ältere Mann legte den Kopf etwas schief: „Findest du, dass sie kompliziert wirkt?“ Der jüngere Mann bewegte den Kopf in die andere Richtung. „Von hier aus nicht.“ Die beiden grinsten. Abeia spürte wieder ein leichtes Amusement. „Das können Sie doch von da gar nicht sehen.“ Der jüngere Mann hatte die Füße auf die Bank gelegt. „Ich habe meinen Ausschnitt hochgerechnet.“ Der ältere Mann setzte sich auf einen Gartenstuhl. Es stand noch ein dritter Stuhl da. Abeia setzte sich nicht, und der Mann forderte sie auch nicht dazu auf. Sie lehnte am Terrassenfenster im Schatten. Abeia erklärte: „Ich war auf der Suche nach einem Haus. Wollte jemanden.. besuchen.“ Der jüngere Mann nahm seinen Strohhalm: „Männlich?“ „Sie sind ja ganz schön neugierig.“ „Das stimmt.“ Die drei grinsten. Abeia konnte sich dieses Gefühl nicht erklären. „Gibt es im Regenwald keine Etikette?“ „Deutlich weniger“, erklärte der Ältere. Der Jüngere erklärte: „Deshalb ist er da so gerne.“ „In Etikette habe ich einen Ausbildungsauftrag.“ „Gucken Sie sich mal dieses Ohrpiercing an. Was sagen Sie als Frau dazu?“ Abeia spürte eine faszinierende Leichtigkeit zwischen den beiden. Eine andere als sie kannte. Von sich kannte und von anderen. Aber es war nicht zu erklären, worin der Unterschied lag. Abeia stellte das Glas ab. „Ist das wirklich... ein Ohrpiercing?“ „Das sind Gerakelen. Steindiamanten. Man bekommt sie geschenkt.“ „Ja“, sagte der Jüngere, „sie bedeuten etwas. Nur was, weiß er nicht.“ „Bestimmt eine Auszeichnung für große, tapfere Krieger.“ „Du würde ich auch hoffen an deiner Stelle.“ „Du willst sagen du weißt was sie bedeuten.“ „Ich weiß es.“ „Das würde ich auch hoffen an deiner Stelle.“ Die beiden grinsten. Auch Abeia musste lächeln: „Gibt’s auch irgendeinen Ort, an dem Sie noch nicht waren?“ „Einige.“ Der Ältere schickte die Affen mit einer Handbewegung in die gegenüberliegende Sitzecke. Abeia sah fassungslos, wie schnell die Affen gehorchten. Dann schloß sich die Terrassentür mit einem lautlosen Zischen automatisch. Abeia zuckte fast zusammen. Sah auf die jetzt geschlossene Tür. Der Weg nach hinten war versperrt. Und vorne an der Veranda saßen die beiden Männer. Der jüngere Mann nahm ein Trockentuch, wickelte es zusammen und warf es gegen den Sensor. Die Tür glitt wieder auf, und Abeia konnte die Haustür wieder sehen. Sie atmete aus. Der ältere Mann knickte seine Knie ein und stützte sich am Tisch gemütlich ab. Plötzlich schien sich die Atmosphäre verändert zu haben. Oder hatte sich nur etwas in Abeia verändert? Die Angst war zurück. Plötzlich erschienen ihr die Männer fremder. Was geschah hier. Wo war sie. Wie hatte sie sich einfach in der Nähe der Männer halten können, ohne jemandem Bescheid zu geben, wo sie war. Ihr Handy lag im Boot. Und jetzt trug sie einen Rock. Einen langen, weiten und weichen. Abeia spürte, wie sich ihr ganzer Körper verkrampfte. Sie trug das Transmitterarmband seit der Dusche wieder am Handgelenk. Ihr Blick richtete sich darauf. Der ältere Mann griff ruhig in seine Tasche und holte ein Handy heraus. Erntriegelte es, schien einen Öffnungscode einzugeben und legte es dann auf den Tisch. „Ihr Handy liegt in der Küche in einem Tuch, es ist nass geworden. Nehmen Sie meines, falls Sie möchten.“ Stille. Abeia spürte, wie ihr Herz plötzlich raste. Sie blieb ganz ruhig stehen. „Warum sollte ich.“ Ihre Angst stieg. Dann stellte der jüngere Mann sein Glas ab und sagte: „Keine Sorge. Die Keayake sind längst hier. Mehr oder weniger überall. Als Sie ins Wasser gegangen sind, standen die sofort auf der Matte. Bei Wasser sind die fix, der erste hatte schon seine Schuhe aus. Das interessiert die nicht, wie tief das Wasser ist, die haben manchmal komische Dinge im Kopf, die gibt’s hier gar nicht. Wir haben sie gestoppt, aber natürlich hören die auf uns nicht. Zum Glück ist Regiedo dabei, unser aller Lehrmeister des sanften Nicht-Überreagierens. Er hat alle zurückgewiesen, aber er hat die ganze Zeit sehr genau geschaut, wie es Ihnen geht.“ Abeia war erstarrt. Sie schloß kurz die Augen. Dann atmete sie aus. Und plötzlich sprach der Mann ein ganz sanftes, wie melodisches Deutsch: „Es freut mich, dass wir uns kennenlernen. Das ist Geseja, allerdings nennen ihn alle Jano. ich bin Joa. Hier drinnen sind wir für uns, aber wenn du Keayake sehen willst, brauchst du einfach auf den Gang vorne zu gehen. Das Team, das bei dir ist, ist mittlerweile auch hier. Der Mann, der es im Moment führt, heißt Rao Noja und ist nicht nur ein Keayake, sondern auch ein Rang der Iya. Als du im Wasser warst, hat er sehr, sehr genau auf dich geschaut. Er stand auch schon im Wasser, nicht auf deiner Höhe, aber er kann sehr schnell sein, wenn er will. Allerdings ist das ein sehr ruhiger See, und niemand von uns weiß das so gut wie er.“ Abeia war erstarrt. Sah auf die beiden Männer. Der Sheya lächelte. War für ein wunderbares Lächeln von einem Mann, der alles hatte: Jung sein. Tiefe. Leichtigkeit. Offenheit. Ernst. Er half ihr. Genau wie der ältere Mann. Aber anders. Die beiden Männer waren unterschiedlich. Der Sheya sagte ganz sanft: „So sind wir immer. Wenn wir anders sind, tun wir nur so. Er ist übrigens der Chaot. Ich bin der Normale.“ „Er ist furchtbar.“ „Er ist Lehrer.“ „Er ist Sheya. Wasn wohl schlimmer.“ „Also, das ist ja leicht zu beantworten.“ Beide sprachen jetzt Deutsch. Abeia stotterte: „Sie...“ Der Sheya lächelte: „Sollen wir uns duzen?“ Abeia stotterte weiter: „Sie sind.. das geht nicht, ich.“ Er lächelte einfach. „Sag einfach: Das war ja nicht mein Plan, dass ich gleich zwei von euch auf einmal kennenlernen muss. Einer lastet meine Nerven vollkommen aus. Also macht schnickschnackschnuck, wer abhauen muß.“ Jano Amaterai lehnte sich zurück. „Woher kennst du Schnickschnack-schnuck.“ „Ich hab 8000 Deka.“ „Angeber.“ Die beiden lachten. Abeia konnte es nicht fassen. Jano nahm wieder seinen Strohhalm. „Guck dir das an. So ist das bei uns. Schlimmer wirds nicht.“ Abeia atmete wieder schwer aus. „Schwer zu glauben.“ Sie sah zum Sheya. Sah länger. Er ließ sie. Sie atmete wieder aus. „Wie.. kann das denn sein, dass Sie... hier sind?“ Der Sheya sagte: „Wollte mir Janos neue Bude angucken.“ Abeia starrte ihn an. Der Sheya lächelte leicht: „Ein guter Freund hat uns geraten, uns die Stadt anzuschauen, in der du aufgewachsen bist. Um die Atmosphäre kennenzulernen. Um uns einzuspüren. Ich finds schön hier. Der See ist wunderbar. Ab und zu brauche ich so ein Wochenende, und heute abend werden wir grillen. Ich gebe zu: Jemand anders hat eingekauft. Aber nur, weil die mir nicht zutrauen, dass ich die richtigen Saucen aussuche.“ Die Männer grinsten. Sagen Sie ihr, wenn sie möchte, komme ich zu ihr. Sie wählt wo. Abeia atmete tief aus. So hatte sie sich den Sheya niemals vorgestellt. Nicht so leicht. Nicht so jung. „Können Sie denn.. einfach so nach Deutschland kommen, ohne, dass.. ich weiß nicht. Der Bundeskanzler kommt oder so.“ Joa sagte ruhig: „So wichtig bin ich nicht.“ Abeia stand reglos. Der Satz klang seltsam. Er klang unerwartet und doch irgendwie innerlich wohltuend. Sie atmete aus. „Vielleicht wäre.. er anderer Meinung.“ „Das sind Politiker. Das ist ein eigener Beruf. Nicht meiner. Grillst du mit?“ Jetzt musste Abeia irgendwie lächeln. „Klar. Ich.. könnte nochmal über die Saucen gucken.“ Die beiden Männer grinsten. Jano langte nach hinten und nahm ein Stück Kokosnuß. Dann veränderte sich seine Stimme. „Abeia. Das ist ein wunderschöner Name. Was hat sie dir erzählt, wo der herkommt?“ Stille. Abeia strich sich durch die Haare. Dann sagte sie: „Er ist spanisch.“ Jano nickte. Er zerteilte die Kokosnuss. Dann sagte er leise: „Es ist berührend. Ich frage mich, woher sie ihn kannte.“ „Wieso.“ „Abeia ist ein Name der Kiye. Aus dem Dialekt der Awakai, glaube ich.“ Stille. Abeia stand verwirrt. „Vielleicht... gibt’s den da auch.“ „Möglich.“ Jano nahm das geteilte Kokosnussstück. Wieder Stille. Abeia sagte: „Was... bedeutet das Wort denn in diesem Dialekt.“ Jano meinte: „Keine Ahnung.“ Er sah zum Sheya, doch dieser schüttelte den Kopf. Jano sagte: „Da müssten wir einen Noja fragen, ich kann gleich mal schauen, ob Rao hier drinnen ist oder weiter draußen im Raum steht. Er ist noch kein Firo, aber wenn es hier jemand weiß, dann er.“ Abeia atmete aus. „Was.. ist ein Firo?“ „Das ist jemand, der andere durch die Aroka führen darf.“ „Oh. Ist das.. der Regenwald?“ „Nein. Die Aiba ist ein ruhiger See. Die Aroka ist das Bermudadreieck.“ Jano hielt ihr ein Stück hin. „Kokosnuss?“
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