Buchleseprobe: Kiyohara. Naraita - das Land des Wassers.
- Petra Schrader
- 16. Feb. 2023
- 4 Min. Lesezeit

Abeia saß reglos. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Bald würde es dämmern. Dann durfte sie nicht weiter hier sitzen, weil dann mehr Schlangen kamen. Aber sie hatte auch keinen Wagen gehört am Weg. Sie konnte nicht einfach woanders hingehen. Sie mußte zurück. Eigentlich war schon zu gefährlich, was sie hier tat. Abeia weinte lautlos. Als sie die sanften Schritte hörte, schrak sie zusammen. Kiyohara Noja kam bis zu der Baumgruppe und setzte sich einfach neben sie. Abeia presste ihre Hand kurz ins Gesicht, um die Tränen zu verstecken. Kiyohara Noja hatte zwei Servietten in der Hand, in der epai lagen, die typischen kleinen Brote der Edera. Ohne etwas zu sagen, gab er Abeia eine Serviette und nahm die andere. Setzte sich neben sie zum essen, als säße sie auf dem Sofa der Veranda. Abeia war erstarrt. Dann nahm sie die Serviette. Erstickt sagte sie: „Adaraisse. Es tut mir leid, sicher... bin ich zu weit weg.“ „Für mich nicht.“ Abeia hatte noch keine Ahnung davon, dass die Größe der Räume, die ein Keayake sichern konnte, je nach Ranghöhe und Erfahrung sehr unterschiedlich waren. Kiyohara stellte zwei kleine Glasflaschen vor die beiden. Er öffnete sie seelenruhig und trank einen Schluck. Abeia presste: „Es tut mir leid. Ich hoffe, es ist niemand... ärgerlich.“ Kiyohara wirkte, wie er immer wirkte. Ruhig, gelassen, freundlich. Leicht. Er lehnte sich an den Baum. Dann sagte er: „Vor einiger Zeit habe ich eine junge Frau aus einer Beza geholt. Das ist eine durchaus nicht einfache Strömung, es ist keine nihe, viel kürzer, aber teilweise sehr kraftvoll, mit einigen gefahrreichen Kernen und meist in sehr starker Dünung. Es kann eine rauhe Erfahrung für den Abgeborgenen werden, selbst wenn man sehr schnell bei ihm ist. Ich war zufällig dazugekommen, die zuständige Badewache des Strandes war schon im Wasser, aber ich bin mit hineingegangen, um die Frau so gut wie möglich zu begleiten. Wir hatten sie schnell wieder an Land. Am Wacheposten haben wir sie betreut, und sie hatte einige Abschürfungen, das ist ganz normal. Natürlich hat sie auch die Erfahrung selbst verarbeiten müssen. So saß ich eine Weile bei ihr und habe diese Abschürfungen versorgt. Habe sie untersucht aus der Sicht der Iya,. Und da sah ich, dass diese Frau noch mehr Wunden trug. Striemen. Sie waren nicht von der Rettung, sondern älter. Keine dieser Narben waren wirklich groß oder schrecklich oder gefährlich. Aber sie waren.. alt. Tief. Wir haben lange gesprochen. Dann habe ich sie zur Frauenschutzstelle der yihe gebracht. Verstehst du.“ Abeia sagte leise: „Ja.“ Kiyohara Noja stellte die Glasflasche ab. Dann sagte er ernst: „Es gibt auch Narben, die niemand sieht.“ Stille. Abeia saß reglos. Der sonst so leichte Denei wirkte verändert. Ernster. Er sagte: „Gerade als adlige Ränge sind wir in der Heze von vornherein angeleitet zur Demut. Das ist essentiell. Aber weißt du: Demut reißt keine Wunden. Demut macht nicht unsicher. Demut erzeugt keine Scham. Ich habe mal als sehr junger Ausbildungsrang einen Einsatz gehabt mit einem damaligen Ausbilder. Als adlige Ausbildungsränge hat man ja erstmal kaum Kontakt mit adligen Führungsrängen. Manchmal, ja, aber im Kern, im Alltag nicht. Junge adlige Ränge werden da auch nicht anders behandelt, was auch gut ist. Aber in diesem Fall... es kam zu einem schweren Einsatzverlauf. Und mein Ausbilder hat mir bestimmte Kommandos gegeben, was ich tun soll. Ich habe oft in meiner Ausbildung Grenzen bekommen, ich habe Fehler aufgezeigt bekommen, ich wurde reflektiert. Das ist ganz normal und wichtig. Aber in diesem Fall war es so: Dieser Ausbilder hatte von mir keine Ahnung. Und er hatte auch keine Ahnung von der Sache, die sich dort anbahnte. Das war ein Tasheya, und nicht mal ein Edera. Sicher ein geübter Iya. Sicher ein Mensch, der seine Fähigkeiten hat. Aber ich war ein Sohn der Noja. Ich sage es, wie es ist. Man muss als Führrang auch wissen, wann man jemanden von der Leine läßt. Wann man jemandem zuhört. Ich bin kein großer Redner, kein politischer Rang, ich trete nicht mit einer Größe auf. Was ich tue, tue ich leise. Er hat es gar nicht wahrgenommen. Aber das nicht wahrzunehmen ist sein Defizit, nicht meines. Ich habe diese Situation auf meine Weise gelöst. Doch was ich getan habe, das hat dieser Mann gar nicht verstanden. Ich glaube, er hat nicht mal bemerkt, dass ich überhaupt etwas getan habe. Als wir wieder zurück waren, hat er mich zusammengestaucht. Auf übelste Weise, vor allen Leuten. Bloßgestellt, angeschrien, niedergemacht. Ich hätte seinem Befehl nicht gehorcht. Was auch stimmt. Weil es so wie er sagte nicht gegangen wäre. Und wäre damit meine Karriere zuende gewesen: Ich hatte keine Wahl, das Schiff wäre uns zerbrochen, und ich wage zu sagen: ich kenne jemanden, der es aus eigener Kraft schwimmend an die Küste zurück geschafft hätte, im Gegensatz zu allen anderen acht See-Rängen und fünfzehn Zivilisten, die auf diesem Schiff waren. Ich kann nun nicht sagen, dass ich da einfach stand. Die Kraft, in der Iya zu wirken hat etwas zu tun mit Empfindsamkeit. Man muss sein Herz öffnen. Und wenn dann der ausbildende Rang, dem ich vertrauen sollte, in diese Empfindsamkeit hineinschlägt: Dann macht das eine Wunde.“ Stille. Abeia sagte leise: „Das kann ich mir gut vorstellen.“ Kiyohara Noja sagte ruhig: „Vielleicht trägst du mehr dieser Wunden als du zeigst.“ Abeia saß reglos. Dann sagte sie gepreßt: „Was sollte gut daran sein, dass ich Mychea Ryozan aus dem Weg gehe. Obwohl er sicher ein unglaublich wundervoller Mensch ist und alle Menschen dort nun zusammen sind: nur ich nicht. Wie sollen andere Menschen darauf schon reagieren. Könnte man es ihnen verdenken?“ Kiyohara Noja saß ruhig: „Ja.“ „Ja?“ „Ich bin ein Iya. Ich hole dauernd Menschen aus schwierigen bis bedrohlichen, manchmal verzweifelten Lagen: Häufig sind es Menschen, die keinen Respekt, kein Gespür, keine Demut haben für tiefe natürliche Rhythmen. Für die Wege, die Gott uns hinlegt. Die tief gutartig sind, klug, wundervoll und genau richtig. Aber das interessiert viele nicht. Und wer sich an diese natürlichen Rhythmen hält, oder wer das zumindest versucht: Der stört. Auf manche mag er sogar als Provokation wirken.“ Stille. Abeia saß reglos. Leise sagte sie: „So habe ich es noch nicht gesehen.“
www.petraschrader.de
freiwillige Spende für Nutzung dieses Textes
DE31 4504 0042 0400 5963 00 Commerzbank, Kontoinhaberin: Petra Schrader
paypal: petra.schrader@web.de
Textatelier Volmarstein - Königsgeschichten, sanfte Worte, Gebete, Ruhetexte, Poesie
Comments