Buch-Leseprobe Teil 10: Naraita - Geschichten aus der Todai, ein modernes Märchen.
- Petra Schrader
- 16. Jan. 2023
- 22 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Jan. 2023

Die beiden standen an der Brücke am Tegeler Hafen. Nah beieinander. Sofort wieder nah. Henriette und Abeia waren immer in den Tegeler Hafen gekommen, wenn sie alleine sein wollten. Wenn etwas Wichtiges zu besprechen war. In Sicherheit: Keine Eltern. Keine Schule. Und später: Keine Presse. Henriette war als adliger Rang in Deutschland immer von der Presse gejagt worden: Schon in der gemeinsamen Klasse am Hochbegabten-Internat, an dem die Beiden als Tagesgäste zur Schule gegangen waren: Mitten in Reinickendorf. Henriette sah auf den See, und Abeia hatte sich die ersten Sätze zurechtgelegt. Wollte gerade beginnen. Damit beginnen, etwas zu erzählen. Im selben Moment sagte Henriette: „Es tut mir leid, dass ich mich die ganze Zeit nicht gemeldet habe. Es war.. ich hatte keinen Blick mehr dafür. Es war alles weg, ich war.. im Streß. Jetzt kommt das langsam wieder zurück. Es ordnet sich irgendwie..“ Abeia hatte perplex innegehalten. Überlegte einen irrealen Moment, ob es ihre eigene Stimme war, die sie gehört hatte. Doch Henriette spürte die Reaktion von Abeia nicht. Sie war noch zu konzentriert auf das, was sie selbst sagte. Was nicht einfach war. Sie legte ihre Hand an das Geländer und sagte: „Ich bin raus.“ Abeia hielt wieder inne. „Raus?“ „Von allem. Vom Kolleg. Von Lothar. Von meinen Eltern. Ich bin aus der Erbfolge raus und aus der Familienfolge. Ich habe nicht mal meine Möbel mitgenommen. Der Kontakt ist abgebrochen. Am Ende habe ich noch Hausverbot bekommen. Das war gut.“ Abeia stand reglos. Dann nahm sie Henriette an sich. Die beiden drückten sich aneinander. Sprachen nicht. Irgendwann sagte Abeia: „Davon... habe ich gar nichts mitbekommen. Es tut mir leid, ich..“ „Niemand hat etwas mitbekommen. Ich bin nach Dänemark gegangen, in eine Studentenbude in Afjö. Ein Jahr. Dann bin ich wieder zurückgekommen und habe jetzt eine Wohnung in Treptow. Vor drei Wochen bin ich wieder ausgegangen. Es ist weg.“ „Es ist weg?“ „Die Presse. Sie wollen mich nicht mehr. Ich war nicht mehr in den Schlagzeilen, und jetzt bin ich uninteressant. Jetzt bin ich weg. Lothar ist jetzt mit Theresa von Dänemark zusammen. Ich habe sie gestern gesehen am Potsdamer Platz. Bei den Filmfestspielen. Ich stand hinten und habe mir die ganzen Kameras angesehen. Das war wie... eine Angstprobe. Die Fotografen haben mich gesehen, aber es ist niemand gekommen. Da wußte ich, dass ich es geschafft habe.“ Abeia spürte, wie gelöst Henriette war. Ruhig. Die beiden blieben nah aneinander stehen und sahen auf den See. Abeia schwieg. Irgendwann sagte sie leise: „So schlimm war es.“ „Ich bin so frei jetzt. Es ist ein unglaubliches Gefühl. Keine Presse mehr. Kein Adel mehr. Keine Fassade. Keine Fotografen. Ich kann mich anziehen wie ich will. Ich kann in einen Supermarkt gehen, einfach.. an die Kasse. Und niemand guckt.“ Abeia stand reglos. Henriette preßte: „Bitte sei mir nicht böse, dass ich mich nicht gemeldet habe. Dass ich dir nicht gesagt habe wo ich bin.“ Die Stimme wurde leiser. „Ich wollte nicht. Ich bin.. krank geworden. Und damit wollte ich einen eigenen Weg finden.“ Abeia atmete aus. „Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass ich.. das gar nicht gemerkt habe.“ „Deiner Mutter geht’s doch gut, oder.“ „Es geht ihr wieder gut, ja. Was heißt das, du bist krank geworden.“ „Ich habe irre Magenschmerzen bekommen. Erst dachte ich, das wäre ein Magengeschwür, aber es war irgendwie eine Entzündung. Gibt es wohl nur ganz selten. Ich hatte das immer wieder, und ich dachte, ich kratze ab. Man darf dann keine Schmerzmittel nehmen, es ist die Hölle. Kaum war ich von zu Hause raus, war es weg. Wenn ich unter Stress bin, dann kommt es wieder. Ich muß es immer überprüfen lassen, weil es.. entarten kann. Aber wenn ich nicht im Stress bin, dann ist nichts. Dann ist es ruhig.“ Abeia atmete noch mal aus. Henriette sah sie an. Gelöst. „Jetzt verdiene ich mein eigenes Geld. Cool, oder. Ich jobbe in einer Buchhandlung und gebe Modern Dance-Kurse, und ich habe ein 12 Quadratmeter-Zimmer. Ohne Balkon. Und es geht mir so gut.“ Abeia sah sie an: „Aber du hast.. den Abschluß gemacht, oder.“ „Nein.“ Stille. Henriette sah auf den See. „Wie geht es dir?“ Abeia sah auf den See. Dann sagte sie: „Stefan ist weg. Und meine Mutter auch.“ Stille. Henriette sah sie an. „Was heißt das.“ Abeias Blick war etwas in die Weite verloren. „Ich hatte seit sieben Monaten keinen einzigen Asthma-Anfall mehr.“ Henriette sah sie an. „Du siehst gut aus.“ Beide lächelten. Henriette sagte leise: „Sag mir, dass du es durchgezogen hast. Dass du.. nach Aiza zurückgegangen bist. Dass du das Stipendium bekommen hast. Ich habe mich die ganze Zeit damit über Wasser gehalten, dass du.. es kriegst.“ Das Stipendium der Agyia Aiza war der Lebenstraum der beiden Mädchen gewesen. Abeia sah sie an. „Ich habe das Kolleg geschmissen. Einen Tag vor der Abschlußprüfung.“ Stille. Die beiden jungen Frauen sahen sich an. Dann lachten sie.
Wenn man etwas tat, was man noch nie getan hatte: War das eine Veränderung? War man weitergekommen. Oder war man zu etwas zurückgekehrt. War man jemand anders geworden: Oder mehr man selbst. Abeia hielt die schwere Klinke der wunderbar schweren Holztür noch in der Hand. Stand nur Sekundenbruchteile. Dann verließ sie das Zimmer, in dem sie schlief, wenn sie in der Botschaft in Deutschland waren.
Vielleicht war es Zufall. Oder das Leben half ihr einfach. Es gab Keayake, die sie bereits gut kannte und Keayake, die ihr noch fremd waren. Manche Entscheidungen hingen auch an Dienstplänen der Personenschützer. Diesmal hatte sie Glück: Im Keayake-Büro stand Dak Noja. Es ging nicht anders – Abeia fühlte sofort eine Welle von Wärme. Angstfreiheit. Vom ersten Augenblick hatte sie Dak Noja nicht nur gemocht: Sondern sich vor ihm sofort entspannt. Abeia ging in einen Gruß. Dak Nojas Lächeln war intensiv. Ungestellt. Warm. „Guten Abend, Frau Richter.“ „Etirate assai adanadete.“ „Kommen Sie zu mir.“ Dieser Satz war keine Übersetzungsungenauigkeit. Er war original. „Ich möchte nicht stören. Ich wollte nur fragen.. ob der Odenei vielleicht noch hier ist.“ „Er ist noch auf der Shijata. Möchten Sie mit ihm sprechen?“ Abeia guckte auf die Uhr: 22 Uhr. Sie errötete. „Ich hatte.. gar nicht gesehen, wie spät es ist. Es ist.. auch nicht so wichtig. Ich wollte.. ihn nur etwas fragen, aber..“ Sie atmete aus. Wie tief Wärme wirkte. Wie sie Unsicherheit in Leichtigkeit verwandelte. Abeia dachte nicht mehr nach: „Aber vielleicht kann ich das auch Sie fragen.“ Dak Noja wies in die Sitzecke. „Selbstverständlich.“ Abeia räusperte sich: „Danke, ich.. nein. Nur etwas ganz Schnelles. Es ist nämlich“, sie hob die Hand, „nicht wegen mir. Also.. ich würde gerne etwas fragen und weiß aber gar nicht, ob ich das.. fragen darf. Also ob.. sowas geht. Könnte ich.. Ihnen vielleicht die Frage sagen, und wenn sie.. total daneben ist, dann.. war es nur ein Test, und ich habs sozusagen gar nicht gefragt?“ Kein Keigo. Keine durchdachte Formulierung. Echtheit. Offenheit. Nähe. Man konnte vor Dak Noja keine Angst haben. Es funktionierte einfach nicht. Man konnte es versuchen, aber man kam nicht weit: Es war, als ob die Angst sich in seiner Nähe auflöste. Angst und Dak Noja konnten nicht an einem Ort sein. Der Leitende Zyra der Keayake hatte sich vor den Tisch gelehnt. Tiefe Wärme im Blick. „Start von Test.“ Abeia mußte fast lächeln. In der Wärme dankbar lächeln. Dann sagte sie: „Ich habe vorgestern.. meine beste Freundin wiedergetroffen. Wir haben uns so lange nicht gesehen, und.. ich wollte ihr von Naraita erzählen, ihr schon, weil sie.. es sozusagen am besten verstehen kann. Aber das habe ich dann doch nicht, weil es.. nicht paßte. Weil sie so froh war, von allem weg zu sein. Von ihrer Familie. Henriette von Hohenbreek. Wir sind ja zusammen auf die Schule gegangen, und sie ist.. auch sehr wichtig für mich.“ Dak Noja nickte. „Ich kenne sie.“ Abeia hielt inne: „Sie kennen sie?“ Dak Noja nickte ruhig: „Wir haben uns Ihre Kontaktpersonen sehr schnell angesehen.“ Stille. So ein Satz paßte nicht zu allem anderen. Nicht zum liebevollen Großvater. Oder doch? Abeia nickte. „K.. lar.“ Die Wärme blieb. Vielleicht war es einfach so: Sie hatte diesen Großvater noch lange nicht verstanden. Verwechselte. Fürchtete zu Unrecht. Unterschätzte. Und doch. Abeia suchte nach Worten. „Also.. sie hat sich von allem getrennt, von ihrer Familie, von ihrer Erbfolge und ihrem Ex-Freund, weil sie alles nicht mehr ausgehalten hat und auch nicht die Presse vor allem und ist in eine kleine Wohnung in Treptow gezogen... es ging ihr sehr gut. Wir haben stundenlang wieder gesprochen und es war wie früher. Aber jetzt...“ Abeia atmete noch mal aus. Es war nicht so einfach wie es sich vorher noch angefühlt hatte, als sie alleine gewesen war. „Sie hat mit mir telefoniert, und.. war ganz verändert. Ich kenne sie schon so lange. Sie war.. panisch. Und sie hat gesagt, dass wir uns nicht sehen können. Wir wollten... am Wochenende wegfahren, und dann wollte ich ihr auch von Naraita erzählen. Aber jetzt wollte sie gar nicht mehr mit mir telefonieren. Da ist irgendwas passiert. Und zwar etwas, was.. sonst nicht passiert. Auch früher nicht. Ich weiß, wie sie klingt, wenn sie.. Ärger mit ihrer Familie hat. Oder wenn es ihr schlecht geht. Aber so klang sie noch nie. Ich glaube, dass sie Hilfe braucht, aber ihr Handy ist ausgestellt. Ich.. habe Angst um sie und ich kann das gar nicht genauer begründen.“ Abeia atmete schon wieder aus. „Ich.. habe gedacht, dass ich vielleicht den Odenei fragen kann, ob er.. mit mir zu ihr fährt und dann.. sozusagen nachgucken kann. Denn wenn sie was erzählt, vielleicht wird sie ja bedroht oder so, dann.. kann ich ja auch nichts tun. Und dann habe ich natürlich gedacht, dass ich das überhaupt nicht machen kann, und dass das.. eine Schnapsidee ist. Und dabei hatte ich noch nicht mal auf die Uhr geguckt. Okay.“ Abeia versuchte, nicht auszuatmen. „Test fertig.“ Dak Nojas Blick war voller Wärme. Und voller Ernst. „Sie sorgen sich.“ „Es ist.. bestimmt absolut deplaziert, was ich sage. Die Art der Ansprache und auch.. der Inhalt.“ „Wenn Sie sich sorgen, kommen Sie zu mir. Ich freue mich. Wir sprechen dann über das, was Sie sorgt. Das, was Sie hier vortragen, ist eine Bitte. Eine persönliche Bitte für eine Freundin von Ihnen. Das ist keine Familienpolitik, keine Abteilungslinie, das hat etwas damit zu tun, dass sich eine Beziehung aufbaut. Dass Aryan Ihrer Familie nahesteht. Und Sie seiner. Wir helfen uns auch gegenseitig. Natürlich tun wir das. Wir kommen und bitten einander. Denjenigen, der uns nahesteht. Das ist doch ganz normal.“ Abeia atmete aus. Stand still und nickte dann: „Ich weiß nicht, ob.. ich das so fragen darf. Und kann. Aber.. Sie glauben auch nicht, dass.. jemand aus meiner Familie dann.. darüber sauer wäre, dass ich Sie gefragt habe, oder.“ Dak Nojas Blick trug eine so tiefe Wärme. Wie gut es tat, von diesen Augen gesehen zu werden. Abeia hatte noch viel zu wenig Ahnung davon, was das hieß: Ein Firo. „Sie können jederzeit zu mir kommen. Ich bin sehr gerne für Sie da. Ich bin sicher, dass Ihre Familie nicht mißbilligt, dass Sie dies tun. Wäre es aber doch so, würde das für mich nichts ändern. Ich würde mich dennoch freuen. Kommen Sie einfach. Niemand sollte Sie hindern. Niemand kann Sie hindern. Und im übrigen darf Sie auch niemand hindern.“ Abeia atmete aus. Hatte plötzlich einen Schleier im Blick. Dak Noja gab einige Befehle in ihre Tastatur ein. Dann sagte sie ruhig: „Ich gucke jetzt mal, was ich an Daten hier finde. Und dann suchen wir uns noch ein paar junge, kräftige Freiwillige und fahren mal bei Ihrer Freundin vorbei. Da haben wir ja schon welche.“ Abeia fuhr fast herum und ging sofort in den Gruß. Aryan Noja schien zu lächeln. „Ich bin nicht kräftig.“ Rao Noja grinste: „Ich bin nicht jung.“ Auch Dak Noja hatte vor Aryan gegrüßt. Sah schon wieder kurz auf ihren Monitor. Lächelte, wie Großväter immer lächelten. „Aber ihr seid groß. Das verwechseln die meisten Leute.“ Die beiden grinsten. Abeia hatte Aryan Noja noch niemals grinsen gesehen. Sie setzte an, doch Aryan Noja lehnte sich gegen die Tür und sagte: „Bei Dak, Frau Richter, haben wir folgende Sachlage: Er ist der Chef. Alle machen, was er sagt. Jeder von uns. Wissen Sie, wie ich Karriere gemacht habe? Ich habe einfach immer getan, was er gesagt hat. Wußten Sie, dass er jeden Angestellten der Todai persönlich kennt? Ist kein Scherz. Haben Sie eine Ahnung, wieviele das sind? Wenn irgendwas ist: Die tun immer, was er sagt. Er ist der Chef der Todai.“ „Hör auf so zu reden, bevor dich ein Shijoa-Rang hört. Zieh dich um. Wir fahren weg. Ich bekomme kein Bild.“ „Da haben Sies: Vier Sätze, drei Kommandos.“ Die beiden grinsten wieder. Abeia war völlig perplex.
Ein ziviler Wagen. Nicht mal groß. Keine weiteren Wagen. Kein aktivierter Transmitter-Funk. Der Signalmonitor war aus. Die Atmosphäre war verändert. Niemand erklärte sie ihr. Vielleicht war sie nicht zu erklären. Und vielleicht sah sie nur wieder etwas, was sie bisher nicht kannte: Feierabend. Die Naraita-Ränge waren nicht nur nicht im Dienst. Sie schienen sich auch außerhalb ihrer normalen Protokollstrukturen zu befinden. Aryan Noja ließ Abeia in den Wagen einsteigen. Schloß die Tür und setzte sich hinters Steuer. Rao Noja saß neben ihm. Abeia hatte noch nie erlebt, dass ein Denei selbst fuhr. Auch die übrige Atmosphäre war verändert. Völlig entspannt. Gelöst. Und Abeia spürte genau, wie tief vertraut die beiden Keayake waren. Abeia suchte noch immer nach Worten. Glaubte, Aryan Noja noch nicht genug erklärt zu haben. Entschuldigt. Gebeten. „Also.. es ist so, wie ich es nicht so ganz erklären kann...“ Aryan Noja fuhr den Wagen vom Botschaftsgelände. Wirkte völlig entspannt. „Ich würde sagen, wir gehen zum besten Döner-Türken von Berlin, der ist nämlich da in der Nähe. Da nehmen wir Ihre Freundin mit, und wer bei diesem Krautsalat nicht anfängt zu reden, dem geht’s gut.“ Dak Noja guckte tief. „So machst du sowas also.“ „Habe ich in einem Anamnesebuch gelesen.“ „Du liest zuviel.“ Aryan Noja sah zu Abeia: „Dak ist der Autor der heze-weit besten abteilungsübergreifenden Handreichung über Gefährdungsanamnesen und Schutzplangespräche. In seiner neuen Auflage wird ein ganzes Kapitel nur dem Krautsalat gewidmet sein.“ Irgendwie lachten die Führränge. Offensichtlich genossen sie den Abend. Abeia lehnte sich zurück. War noch immer konfus. Und trotzdem fühlte sie sich irgendwie leichter.
Als Aryan Noja den Wagen vor einem Altbau hielt, hatte Abeia sich fast verkrampft aufgerichtet. „Vielleicht.. gehe ich erstmal alleine hoch, weil.. ich ihr ja noch gar nichts von.. allem erzählt habe, und wenn die hört, wer Sie sind, da trifft die glatt der Schlag.“ Aryan Noja hatte einen Monitor angeschaltet. Einen anderen, als Abeia sonst kannte. Er erklärte: „Erstmal gucken wir uns hier ein bißchen um. Der Himmel ist zu bewölkt, daher bekamen wir in der Botschaft kein Bild. 3. Stock?“ Woher wußte er das jetzt wieder. „Jj..a. Die Fenster mit den roten Vorhängen.“ Abeia sah auf Bilder, die an ein Radarbild erinnerten. Wärmebildkamera? Ultraschall? Seltsame Farben. Plötzlich schien Bewegung in die beiden Naraita, die vorne saßen zu kommen. Ohne, dass die Bewegung zu sehen war. Zu eingespielt waren die beiden und zu schnell. Dann war Rao Noja aus dem Wagen. Abeia setzte an, doch Aryan Noja telefonierte bereits. Sprach in Kommandos, die Abeia nicht verstand. Während er noch auflegte, wechselte er die Bilder. Schien sich auf die Umgebung zu konzentrieren. Abeia spürte eine kalte Welle von Angst. „Ist.. ist etwas mit ihr?“ Aryan Nojas Blick ruhte auf dem Monitor. Und auf der Straße. Sein Blick war überall. Abeia preßte: „Da ist etwas passiert, oder?“ Aryan Noja sagte ruhig: „Lassen Sie uns ein paar Minuten Zeit. Rao wird jetzt die Wohnung sichern, wir bekommen gleich noch Kräfte nach, und dann wissen wir mehr.“ Abeia preßte: „Was ist mit ihr. Ist sie da drin? Wird sie bedroht?“ „Es ist eine Person in der Wohnung. Von hier aus kann ich nur sehen, dass sie auf dem Boden eines Zimmers liegt, das wie eine Küche wirkt und einen sehr geringen Kohlendioxidausstoß hat. Das bedeutet, dass sie sehr flach und langsam atmet.“ Abeia war in heller Aufregung. „Warum sind wir dann hier, warum..“ Sie reagierte panisch. Sie dachte nicht mehr nach. Öffnete ihre Tür. Sie war verriegelt. Dak nahm ruhig und fest ihre Hand. Tief ruhig sagte er: „Wir bleiben im Moment hier im Wagen.“ Abeia hob die Stimme: „Aber wir müssen ihr helfen, was ist, wenn sie nicht atmet, wenn..“ Aryan Noja sprach ebenfalls ruhig: „Das kann sehr gut eine Falle sein, Frau Richter. Jemand kann Ihre Freundin als Geisel genommen haben, um Sie hierhin zu locken. Sie bleiben genau hier. Hier im Wagen und hier bei uns. Das ist der Grund, weshalb wir als Team mitgekommen sind: Genau falls so etwas passiert. Damit wir uns dann aufteilen können.“ Abeia war außer sich: „So ein Unsinn! Mich sucht hier doch keiner, ich bin überhaupt nicht.. das können Sie doch nicht machen, Sie können sie doch da nicht sterben lassen, nur weil ich...“ Aryan Nojas Stimme war völlig ruhig. „Rao geht jetzt hoch und wird die Erstversorgung übernehmen. Das kann er, er ist ein Iya, er kann Atemwege noch in ganz anderen Situationen sichern und versorgen. Im Moment ist keine weitere Person in der Wohnung, das sehen wir hier. Aber es kann sehr gut sein, dass gleich Leute hier auftauchen. In diesem Fall gehen wir nicht hoch zu ihm, sondern dann fahren wir weg. Dieser Wagen ist ein sicherer Raum. Sie werden ihn nicht verlassen. Auch von uns tauchen hier gleich weitere Leute auf. Dann haben wir mehr Räume und können die Dinge anders aufstellen. Und dann gehe ich auch zu Ihrer Freundin und gucke, was sie braucht und wie wir weiter vorgehen. Wir werden ihr helfen - dafür sind wir hier. Aber Sie bleiben bei uns - in dem Raum, den wir für Sie sichern.“ Die Ruhe des Denei war jetzt zwingend. Bot der Panik einen Halt und gleichzeitig eine Grenze. Halt und Grenze. Abeia spürte, dass ihr der Schweiß ausgebrochen war. Ihr Herz raste. Und in diesem Moment spürte sie, wie wichtig Henriette für sie war. Wie nah sie ihr war. Wieviel sie schon verloren hatte. Sie zitterte. Dak hatte jetzt ihre beiden Arme genommen und hielt sie fest. Halt. Wärme. Ruhe. Aryan Noja sah auf den Monitor und sagte ruhig: „Es ist gut. Er ist jetzt bei ihr. Da sieht man, wie er sie lagert. Sie hat also einen ausreichenden eigenen Kreislauf.“ „Oh Gott. Oh Gott...“ Aryan Noja wechselte wieder die Monitorbilder. Abeia begann zu weinen. „Bitte... können wir nicht hochgehen, bitte.. helfen Sie ihr. Ich.. wenn sie jetzt stirbt, nur weil ich hier sitze und...“ Dak Noja sprach sanft: „Rao kümmert sich um sie. Im Moment würden wir auch nichts Anderes tun als er jetzt tut.“ „Aber.. könnten.. wir nicht alle hochgehen, dann.. bin ich ja auch nicht alleine, und wir sind bei ihr..“ Aryan Noja sagte ruhig: „Nein, das können wir nicht. Es tut mir leid.“ Der Satz nahm ihre Angst auf. Gab ihr Raum. Aber gab ihr auch Halt. Halt und Grenze. Abeia saß stiller. Mit Sägepapier im Hals. Aber die Panik überrollte sie nicht.
Getai Yamatai war im Führungsdienst der Keayake-Zentrale. Er stand vor dem aktiven Monitor und gab über den Transponder kurze Anweisungen. Yaero Noja, Atea im Frühdienst, war herangekommen. Er sah auf den aktiven Monitor, nahm die Informationen auf, machte aber keine Anstalten, sich einzumischen. Getai stand ruhig und für die Situation, die dokumentiert war, seltsam unalarmiert. Yaero blickte auf das Satellitenbild und sah, dass Rao Noja in die Wohnung gegangen war. Yaero hielt inne. Rao leitete Abeia Richters Personenschutz, wenn sie in Berlin war. Grundsätzlich blieb der höchste Deckrang beim Schutzrang. War offensichtlich, dass die Frontkraft den Vorraum nicht halten konnte, wurde er nicht eröffnet. Yaero sah auf die Markierung: „Wer ist denn E1?“ Getai gab ein Kommando über die Tastatur. „Aryan.“ Yaero hob die Brauen. Dann sagte er: „Ach so.“ Getai nickte.
Irgendwann war es vorbei. Die Reise. Der Flug. Das Gehen. Die Gänge. Irgendwann war Jinai da. Nahm sie einfach in die Arme. Das Zeitgefühl war Abeia verlorengegangen. Sie hatte den Flug gar nicht realisiert. Hatte immer nur bei Henriette gesessen. Das immer gleiche Geräusch der Beatmungshübe. Der Flug war nicht lang gewesen. Jinais Wärme war ruhiger als sonst. Intensiver. Oder kam es ihr nur so vor? Plötzlich spürte Abeia, wie erschöpft sie war. Sie preßte nur: „Es.. geht ihr wohl besser... aber es ging ihr sehr schlecht. Er hat sie.. schon in Berlin behandelt, eine Stunde, und dann war sie stabiler wohl.. und dann.. sind wir zusammen zurückgeflogen, wir hatten sie mitgenommen.. hierhin.... Er operiert sie jetzt. Nachher kann ich zu ihr, er hat gesagt, ich soll lieber schlafen, aber ich will wieder zu ihr.“ Jinai nickte. Setzte sich mit ihr auf das Bett. Hewenea hatte einen neuen Duftstein auf den Nachttisch gestellt. Der Duft wirkte beruhigend. Oder irgendetwas anderes wirkte beruhigend. Jinai lehnte Abeia an sich. Abeia drückte sich an ihn „Weißt du, dass wir.. so ähnlich sind. Und jetzt auch. Jetzt hat sie ihre Familie verlassen. Soviel hat sich verändert. Für sie auch.“ „Ich verstehe.“ Jinai strich Abeia sanft über den Rücken. „Wenn Aryan sie operiert, dann hat sie das, was möglich ist. Was irgendwie möglich ist.“ „Ja, das.. ich bin froh, dass... sie hierhin durfte." Abeia preßte: „Ich.. bin total durchgedreht. Als ich da nicht aus dem Wagen durfte.“ „Das war auch eine sehr schwere Situation.“ Abeia begann leise zu weinen. „Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Aber.. ich glaube ich habe ihn beleidigt. Bestimmt habe ich das. Oh Gott. Was habe ich nur gesagt. Irgendwas mit Unsinn..“ Jinai nahm die weinende Abeia an sich. „Hey. Mach dir mal keinen Kopf. Das ist überhaupt nicht schlimm.“ „Ich muß.. das Jano sagen. Dass ich.. einen Keto beleidigt habe. Dass er.. mir hilft, mich zu entschuldigen.“ Damit hatte Abeia formal Recht – sie hatte sehr viel gelernt in den wenigen Monaten ihrer Ausbildung. Jinai blieb sanft: „Brauchst du nicht. Nicht bei Aryan. Und nicht in so einer Situation. Du warst schwer unter Stress.“ „Das ist keine Entschuldigung.“ „Natürlich ist es das.“ „Ich muß mich.. bei ihm entschuldigen.. mit Hilfe. Das ist..“ „Nicht bei Aryan.“ „Aber Jano hat gesagt..“ „Abeia.“ Jinai guckte plötzlich so ruhig, wie Abeia ihn noch niemals erlebt hatte. „Die Führränge sind doch keine Ungeheuer. So viele Regeln es im Adel gibt, jeder Rang weiß doch, was große Aufregung ist. Und wann Regeln plötzlich nicht mehr so zugänglich sind. Trau Aryan mal zu, das auseinanderhalten zu können.“
Der Raum war etwas abgedunkelt. Abeias Augen brannten. Vor Müdigkeit. Vor Erleichterung. Henriette sah gut aus. Sie hatte wieder Farbe im Gesicht. Wirkte entspannt. Der Tubus war durchsichtig. Er war kaum zu sehen. Abeia glaubte, dass sie am Bett nur lehnte. Dass sie nicht schlief. Irgendwann schreckte sie hoch. Aryan Noja hatte sie sanft aufgerichtet. Abeia zuckte fast zusammen. Kam aus dem Schlaf. Aryan Noja setzte sich an das Bett und sagte ruhig: „Ich habe Ihnen drüben ein Bett aufstellen lassen. Im Zimmer nebenan. Gehen Sie schlafen. Okay?“ Abeia fuhr sich durch die Haare. Versuchte, sich zu orientieren. Die Uhr über dem Zimmer zeigte 23 Uhr nachts. Abeia wußte nicht mehr, welche innere Zeit sie hatte. Wieviel Zeitverschiebung. Draußen war es tiefe Nacht. Abeia sah zu Henriette. Aryan Noja hatte seine Hand unter Henriettes Nacken gelegt und nickte: „Es geht ihr gut. Sie schläft jetzt ganz tief. Die passen sehr gut auf hier, ich gehe jetzt auch schlafen, und wenn etwas ist, ist sofort jemand hier. Sollte es ihr schlechter gehen, werden die mich informieren. Sie können in die Geya zurückgehen, Sie können auch hier drüben schlafen. Aber es bringt ihr nichts, wenn Sie hier sitzen. Sie ist nicht mehr in kritischem Zustand. Gut?“ Abeia atmete aus. Spürte die warme Erleichterung. „Ja... ich. Ja. Danke.“ Sie hielt sich am Bett fest. Spürte die alte vertraute Welle der Angst. Der Selbstbeschämung. „Es.. es tut mir so leid, dass ich.. ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Das habe ich noch gar nicht überlegt, was ich sagen soll. Ich.. habe.. mich in Berlin unmöglich benommen. Im Auto, ich habe...“ Aryan Noja war völlig ruhig. „Es ist alles in Ordnung.“ „Es tut mir so leid.“ „Es ist nichts passiert. Sie waren in großer Angst.“ Abeia spürte einen Tränenschleier. „Wie konnte ich nur so mit Ihnen reden. Ich.. war so in Panik. Das ist nicht zu verzeihen.“ „Es braucht nicht verziehen zu werden, es ist keine Schuld. Sie hatten Angst. Sehr starke Angst. Ich war bei Ihnen und habe aufgepaßt.“
Zwei Tage später war das Krankenzimmer von Henriette sonnendurchflutet. Die Jalousien an den großen Fenstern waren halb heruntergelassen. Filterten das Licht. Aryan Noja bekam ein Tablett gedeckt. Schnelle, lautlose Handgriffe. Eine Infusion wurde ausgewechselt. Der Denei zeigte auf die Bettseite: „Setzen Sie sich so, dass sie Sie sieht.“ Abeia nahm Henriettes Hand, doch Aryan Noja schüttelte den Kopf: „Noch nicht. Nur der Blick, noch nicht anfassen. Es kann sein, dass sie sich erinnert, sich in der Szene befindet, in der sie angegriffen wurde, und dann wird sie die Berührung erschrecken. Etwas weiter weg. Genau. Und nicht viel sagen. Lassen Sie mich das führen, das ist nicht einfach. Ich kann sie erst extubieren, wenn sie voll orientiert ist. Und sie wird erstmal Angst haben. Nach dem Aufwachen kommt ein ganz kurzer Moment, in dem sie noch nicht denkt. Den muss ich nutzen, um den Kontakt zu bekommen. Wenn die Gedanken kommen, wird sie nicht mehr zuhören. Fertig?“ Abeia räusperte sich: „Ja. Wird.. wird sie jetzt so schnell wach?“ „Ja.“ „O..kay.“ Aryan Noja nahm die Spritze vom Tablett und setzte sie auf den Zugang. Dann begann er langsam zu spritzen. Abeia sah, dass eine Schwester weiter hinten stand. Außerhalb von Henriettes Sichtfeld. Der Denei spritzte weiter. Henriette stöhnte. Der Denei stellte den Sauerstoffanteil der Tubusluft höher. Henriette öffnete unorientiert die Augen. Stöhnte wieder. Bewegte die Hand. Aryan Noja sagte noch nichts. Saß ganz still. Sah Henriette genau an. Abeia sah, dass seine Hand an ihrer Seite lag. Aber er berührte sie nicht. Die 20jährige bewegte ihre Beine. Dann guckte sie Aryan Noja an. Dieser nickte nur. Sagte nichts. Dann fuhr Henriette mit ihrer Hand zum Tubus. Hustete. Die Augen begannen zu flirren. Aber der Blick war noch immer auf Aryan Noja gerichtet. Jetzt begann der Denei ganz ruhig auf Deutsch zu sprechen: „Alles klar. Alles in Ordnung. Sie sind im Krankenhaus und Sie haben einen Schlauch im Hals. Bleiben Sie angelehnt, dann spüren Sie den Schlauch nicht. Ganz zurücklehnen. Nicht bewegen. Gut. Ist gut. Sie können atmen. Atmen Sie mal ein. Und lang aus. Genau. Alles klar. Es ist alles in Ordnung. Sie waren in Narkose, wir haben Sie gerade wieder wach gemacht. Sie haben einen Beatmungsschlauch im Hals, den ziehe ich Ihnen gleich. Wenn Sie mir dabei helfen können. Wenn Sie ganz orientiert sind. Sie können jetzt noch nicht sprechen.“ Henriettes Blick irrte hin und her. Sie sah Abeia. Diese sah Aryan Nojas Nicken und nahm Henriettes Hand: „Ich bin hier. Wir sind im Krankenhaus. Es geht dir wieder gut.“ Henriette versuchte zu sprechen. Wimmerte. Aryan Noja nickte sehr ruhig: „Es ist niemand hier. Der Mann, der Sie überfallen hat, ist gestern in Dänemark verhaftet worden. Weit weg von hier. Niemand hier bedroht Sie. Sie waren zwei Tage in Narkose. Alles verstanden?“ Henriette würgte, doch Aryan Noja saß jetzt ganz ruhig neben ihr. „Ich helfe Ihnen. Lehnen Sie sich zurück. Einfach angelehnt bleiben, dann spüren Sie den Tubus nicht.“ Henriette sah wieder zu Abeia. Dann zu Aryan Noja. Dieser nickte. „Okay. Ich erkläre Ihnen, was wir jetzt machen. Der Mann, der Sie überfallen hat, hat Sie mit einem Reizgas angegriffen. Können Sie sich daran erinnern?“ Henriette nickte. Aryan Noja sprach ruhig. Fast langsam. „Das Gas hat Ihre Atemwege verletzt. Toxisch gereizt. Wir haben Sie behandelt und mit einem therapeutischen Gaszusatz beatmet. Dafür haben Sie einen besonderen Atemschlauch bekommen. Den ziehe ich Ihnen jetzt, aber Sie müssen mir dabei helfen. Machen wir das?“ Henriette nickte wieder. Aryan Noja nickte ebenfalls. „Gut. Immer, wenn ich „jetzt“ sage, dann husten Sie. Ganz fest. Aus der Lunge heraus. Richtig tief. Und ich ziehe den Tubus ein Stück höher. Sie haben Schläuche in beiden Bronchien. Das Rausziehen ist nicht angenehm, aber es tut nicht weh. Okay?“ Henriette nickte. Aryan Noja setzte sich höher. Diskonnektierte den Sauerstoffschlauch, legte einen Absauger neben sich und löste die Fixierung. Dann nahm er das Tubusende und sagte: „Dann los. Tief husten. Jetzt.“ Henriette hustete, und Aryan Noja zog den Tubus ein paar Zentimeter heraus. Henriette würgte. Wimmerte kurz. Aryan hielt sie. „Okay. Sehr gut. Wenn Sie eine Pause brauchen, heben Sie einfach die Hand. Dann warte ich. Weiter?“ Henriette nickte. Aryan hielt den Tubus unter Spannung. „Und jetzt.“ Wieder Husten. Henriette verkrampfte sich. Würgte wieder. Aryan Noja saß ganz ruhig. Hielt seine Hand warm an ihrem Nacken. „Sehr gut. Kurz Pause. Ausatmen. Das war der rechte Bronchus. Jetzt kommt der linke. Den machen wir in einem Rutsch. Dann ziehe ich Ihnen den Tubus ganz raus. Noch mal ausatmen.. so ist gut. Kopf nach hinten legen und etwas den Hals rund machen. So ist gut. Und jetzt.“ Husten. Henriette würgte laut. Aryan Noja machte eine weiche und schnelle Handbewegung. Dann war der Tubus aus dem Mund gezogen. Henriette begann wild zu husten. Die Krankenschwester stand jetzt am Kopfende. Aryan Noja nahm den Absauger und half Henriette. Die Schwester machte wieder schnelle Handgriffe. Half Henriette, sich aufzusetzen. Räumte die Tabletts weg. Aryan Noja hatte ein Stethoskop auf Henriettes Brustkorb gesetzt und kultierte mehrere Stellen aus. Dann nickte er: „Sehr gut. Tut Ihnen das Atmen weh?“ Henriette war schweißgebadet. Sie atmete aus und sagte mit krächzender Stimme: „Nein.“ Aryan Noja nahm ein Wasserglas an und gab es Henriette. „Vorsichtig trinken. Auch das Schlucken kann noch wehtun.“ Henriette nahm das Glas und trank. Die Schwester nahm das Glas an. Dann sah Henriette zu Abeia. Die beiden umarmten sich.
Henriette fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. Sah sich um. Dann sagte sie noch immer krächzend: „Ich muß.. hier weg, ich darf nicht hier bleiben. Er... er hat noch Leute hier, ich weiß das, er hat... er findet mich hier..“ Abeia konnte nicht anders. Sie preßte: „Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt. Warum hast du nicht gesagt, dass er dich bedroht. Wer er ist. Warum hast du nicht...“ Henriette kämpfte gegen das Zittern ihrer Hände: „Ich konnte.. dich da nicht mit reinziehen..“ Sie bekam einen Tränenschleier. „Hat er dich gesehen? Weiß er, dass du in meiner Wohnung warst? Warst du da? Warst du..“ „Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich bin zu dir gefahren, aber.. ich habe noch jemanden gefragt. Ihn, also..“ Abeia rang mit den Händen. Sie mußte jetzt Worte finden. Es half nichts. „Als du angerufen hast, war ich in der Botschaft von Naraita. Ich habe.. sie haben mir geholfen, ich..“ Es war viel schwieriger als sie gedacht hatte. Die Worte kamen nicht. Henriette guckte ungläubig: „Wo warst du?“ Abeia atmete schwer aus. „Henriette, ich.. muß dir etwas erklären. Und dann.. alles. Ich wollte sowieso, als wir uns getroffen haben, da wollte ich es schon. Aber es ging dann nicht irgendwie.“ Henriette begriff. Sie begriff falsch. Irrte. Und fuhr hoch. Spannte sich an. Sah Aryan Noja an und preßte: „Sie sind sein Bruder. Was wollen Sie von ihr. Sie hat damit nichts zu tun. Lassen Sie sie, sagen Sie Lars, ich..“ Der Denei sagte ganz ruhig: „Stop. Ganz falsche Richtung. Sie sind in Naraita. Mein Name ist Aryan Amea Noja, ich arbeite in der Führung des Personenschutzes des Sheya von Naraita und der Eria, der Klinik der Todai. Wir haben Sie in Berlin in Ihrer Wohnung gefunden, erstversorgt, in eine Narkose versetzt, Sie in die Botschaft unseres Landes gebracht, dort weiter untersucht und festgestellt, dass Ihr Lungenepithel und das Nierengewebe durch das Reizgas erheblich geschädigt waren. Das sind schwere Wunden. Wir besitzen besondere Antidote und auch Erfahrung mit der Behandlung von Schäden durch Reizgaswaffen und schätzen unsere Kompetenz hier größer ein als die der uns bekannten Kliniken in Deutschland. Deshalb haben wir Sie nach Naraita geflogen und hier behandelt. Sie sind jetzt in der Klinik der Todai in Aiza und in keinster Weise mehr in Gefahr. Ihr Körper hat sich erholt, das Gas ist abgebaut, die Organschäden heilen aus, und Sie sind absolut außerhalb der Reichweite Ihrer Angreifer. Die deutsche Polizei hat ein Ermittlungsverfahren eröffnet und dann der dänischen Polizei übergeben, die hat Lars Bjaka Anseton gestern verhaftet. Leider wird er wohl morgen wieder auf freiem Fuß sein. Wie Sie wahrscheinlich mittlerweile wissen, gehört der Mann, den Sie in Dänemark kennengelernt haben, zur polnischen Mafia und hat sehr gute Kontakte zur dänischen Justiz. Was das für ein weiteres Strafverfahren bedeutet, muß man sehen. Aber Sie sind hier völlig sicher vor ihm und auch vor der polnischen Mafia.“ Henriette war erstarrt. Reagierte überhaupt nicht. Sah sich um und saß jetzt ganz erstarrt. Abeia brach der Schweiß aus. Sie preßte: „Es tut mir leid, dass das.. so wie ein Schock kommt. Ich habe schon gedacht, wenn ich dir sage, wo wir sind, da.. flippst du aus. Aber.. es ist nicht so einfach zu erklären..“ Henriette sah zum Fenster. Zu den Monitoren. Dann preßte sie: „Wir sind... in Aiza?“ „Ja.“ Vielleicht war es besser, Henriette noch nicht zu sagen, dass sie sich in der Todai befand. Abeia rang nach Worten. „Ich.. wohne jetzt hier. Das.. habe ich dir noch nicht erzählt.“ „Nein. Hast du nicht.“ Henriette war fassungslos. Sah wieder zu Aryan Noja. „Ich.. ich habe gerade nicht verstanden.. was Sie erklärt haben, es tut mir leid...“ Jetzt rang Henriette nach Worten. Abeia preßte: „Er ist.. von den Keayake. Er ist...“ Abeia schloß die Augen, als sie Henriettes entgleiste Miene sah: „Er ist.. der Älteste Bruder eines... guten Freundes hier, deshalb.. habe ich ihn gefragt..“ Abeia sah zu Aryan Noja und preßte: „Ich.. kann das nicht. Ich kann das nicht.“ Aryan Noja nickte ganz ruhig: „Das ist auch schwer für Sie.“ „Das.. ist doch jetzt zuviel für sie.“ „Sie ist ganz aufmerksam. Sie hört. Ihr ist das nicht zu schwer.“ Aryan Noja sah Henriette ruhig an. Sprach ruhig. Alles war ruhig. „Frau Richter hat bei Ihrem ersten Aufenthalt in unserem Land erfahren, dass sie eine Hochajani ist. Sie ist die Tochter eines Jonin der Amaterai, der kurz nach ihrer Geburt ums Leben gekommen ist. Ihre Mutter hat uns über die Schwangerschaft nicht informiert und ihre Tochter in Deutschland aufgezogen. Frau Richter und auch wir haben das erst vor zwei Jahren erfahren. Die Zeit, die darauf folgte, war für sie nicht einfach und geprägt von intensiven Erlebnissen. Sie versucht, sich unserem Land und ihrem neuen Platz in diesem Land zu nähern. Sie steht jetzt unter dem Personenschutz und der medizinischen Versorgung der höchsten Familie unseres Landes, und sie kann natürlich diese Kräfte auch für jemanden erbeten, der ihr sehr nahe steht. Das hat sie vor fünf Tagen getan, und deshalb haben wir Sie aus Ihrer Wohnung geholt und als persönlichen Gast der Hochajani in unser Land gebracht.“ Stille. Reglose Stille. Henriette saß absolut reglos. Verarbeitete, was sie gerade gehört hatte. Dann sah sie zu Abeia und flüsterte: „Oh mein Gott.“ Abeia setzte an, doch Henriette schloß kurz die Augen und sah Abeia dann wieder an. Ihre Miene schien gebrochen. Schien älter. Tiefer. Sie wußte genau, was das bedeutete, was sie gerade gehört hatte. Sie wußte es besser als Abeia es am Anfang gewußt hatte. „Ich verstehe. Ich verstehe.“ Sie machte eine Handbewegung. „Das.. paßt.“ Sie atmete aus. „Jetzt paßt es. Das erklärt es. Es erklärt einfach alles.“ Beiden jungen Frauen traten Tränen in die Augen. Sie umarmten sich. Aryan Noja stand auf und ließ die beiden alleine.
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