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Buch-Leseprobe Teil 13: Alltagsgeschichten. Märchen für Erwachsene.

  • Autorenbild: Petra Schrader
    Petra Schrader
  • 7. Feb. 2023
  • 41 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 25. Juli 2023




Aiza-Nema war einer der kleinsten und dünnbesiedelsten Stadtteile von Aiza und lag direkt an der Provinzgrenze zur Edera im Norden der Stadt. Der Stadtkern von Nema hatte dörflichen Charakter. Hier fand man einige der ältesten Höfe in Naraita: Schon in der Frühsiedelzeit und noch vor der Erschließung der Edera hatten Bauern in Nema zusammen mit den Fischereistandorten, die vor allem im Süden lagen, die noch kleine, langsam wachsende Stadt versorgt. Das Waldgebiet, das heute zwischen Nema und der Stadtautobahn lag, war wenig erschlossen und wurde nicht als Erholungsgebiet genutzt: Uralte Bäume zeugten davon, dass der Wald aufgrund seines sandig-felsigen Bodens nie für Landwirtschaft geeignet gewesen war; auch erschlossene Wege zum Wandern gab es nicht, da die dahinterliegende Küste sehr schmal und felsig war. Die Landstraße, die durch den Geria bis nach Nema führte, war nach Einbruch der Dämmerung daher meist leer. Auf einer kleinen Anhöhe von Nema lag die Zaye-Schule von Aiza, umgeben von wunderschönen alten Bäumen und eingeschmiegt in kleine, jahrhunderte alte und immer wieder liebevoll restaurierte Steinwege. Aryan Noja fuhr auf seinem Rückweg nach Aiza-Stadt langsam durch das kleine Städtchen und genoss wie jedes Mal die ruhigen, kleine Strassen mit den alten, kunstvoll geschmiedeten Straßenlaternen. Eine ältere Frau trug Kisten vom Bürgersteig in ihr kleines Geschäft. Es war dunkel geworden. Die Sommernachtluft war lau. Grillen zirpten. Aryan hatte das Autofenster offen und fuhr in Richtung Ortsausgang.


Der Wald lag tief dunkel, daher war das stehende Wagenlicht schon von weitem zu sehen. Aryan sah auf das Licht: Die Stelle, an der der fremde Wagen angehalten hatte, lag etwa zwei Kilometer im Wald und noch drei Kilometer von der Stadtautobahn entfernt. Viel Technik stand ihm zur Verfügung, doch er ließ erst die Szene auf sich wirken. Erst dann stellte er mit zwei Handgriffen auf dem Monitor ein RA-Bild ein. Eine Wärmequelle. NNN Keine weiteren Personen. Momente später waren die Daten da: Aryan Noja sah auf den Namen. Unten stand schon das Signum von Hagakei Adjadan, dem keinesfalls entgangen war, dass sein Chef, der auch sein Schutzrang war, eine RA-Massung gestartet hatte. Aryan gab auf dem Touchscreen eine afe-Meldung ein: Ich schau es mir an. Unten rechts blinkte die Bestätigung auf. Aryan Noja bremste den Wagen sanft herunter. Jetzt erkannte er auch den Wagen, der vorhin noch auf dem Parkplatz der Zaye-Schule geparkt hatte. Er stand auf dem Wiesenstreifen an der Straße. Aryan stieg aus. Hier im Wald zirpten die Grillen sehr laut. Unter seinen Füßen spürte er den Sand. Sara Bane, die Nichte von Richard Mattheo, saß an ihrem geöffneten Kofferraum und hatte eine Wasserflasche geöffnet, um ein Tuch einzunässen. Ein Tuch lag bereits um ihren Fuß gewickelt. Sie sah dem Herankommenden entgegen und erschien gleichzeitig erleichtert und angespannt. Aryan Noja kam heran. „Guten Abend.“ Er hatte Sara Bane noch nicht kennengelernt, wußte aber, wer sie war. Sie saß sehr aufrecht. „Guten Abend.“ Aryan Noja sah auf den Fuß. „Brauchen Sie Hilfe?“ Saras Hände wirkten aufgeregt. Ihr Blick war ängstlich. „Halb so wild, ich bin vorhin mit dem Fuß umgeknickt vor dem Einsteigen und dann doch losgefahren. Jetzt kann ich aber leider nicht mehr weiterfahren und.. mein Handyakku ist leer.“ Man sah, wie sie die letzten Worte umgehend bereute. Aryan Noja sagte: „Sie sind Frau Bane?“ Saras Kopf ruckte hoch. „Woher wissen Sie das.“ Angst in ihrer Stimme. Der Wald war sehr dunkel. Aryan Noja sagte ruhig: „Ich bin ein Freund von Richard und komme auch gerade von der Schule.“ Sara war am ganzen Körper verkrampft. „Woher wissen Sie dann aber, dass ich es bin?“ Die Frage war berechtigt. Aryan Noja sagte ruhig: „Richard erzählte mir, dass Sie ihn heute besuchen. Und ich hatte Ihren Wagen an der Schule gesehen. Offensichtlich wollen wir beide zurück in die Stadt, was. Mein Name ist Amea.“ Sara saß kerzengerade. Sie kannte alle älteren Tänzer von Aiza: Dieser Mann arbeitete nicht an der Schule. Aryan sah, dass die Reia-Novizin vor ihm Angst hatte. Das war kein Wunder: Ein dunkler, einsamer Wald. Das Handy leer. Und sie konnte nicht mal weglaufen. Eine üble Situation. Aryan hatte seinen Wagen so geparkt, dass der Kofferraum neben dem liegengebliebenen Wagen erreichbar war. Jetzt öffnete er die Klappe und setzte sich auf die Kante: Kam der Reia nicht näher. Durch die geöffnete Tür war der Denei jetzt sanft beleuchtet, so dass sie ihn gut sehen konnte. „Ich würde ja weiterfahren, aber so ganz alleine kommen Sie hier auch nicht weiter, oder?“ Sara sagte gepresst: „Es geht mir gut, das geht gleich wieder.“ Aryan sah auf den angeschwollenen Fuß. Dann sagte er: „Was halten Sie von der Idee, Sie rufen mit meinem Telefon mal Richard an, damit er Ihnen sagt, wer ich bin. Und dann schauen wir weiter, was wir zusammen machen.“ Sara meinte: „Ja, anrufen.. wäre gut.“ Aryan nahm sein Handy und gab einige Kommandos ein: Er entriegelte den Signumszugang, öffnete ein temporäres Fenster, autorisierte es, stellte die Fingerabdruck-Sperre für ein Zeitfenster von fünf Minuten aus und öffnete dann die Nummer von Richards Handy. Er stand auf und gab Sara das Handy. Sara starrte ihn an und nahm dann das Handy, das seltsam schwerer und irgendwie edler wirkte als ein normales Handy. An der Seite war eine seltsame Ausbuchtung, die sie bei einem Handy noch nie gesehen hatte. In der Ausbuchtung war so etwas wie ein kleiner Kopfhörer befestigt. Aryan Noja kehrte wieder zu seinem Wagenfond zurück und setzte sich. Sara wählte und nahm das Handy ans Ohr. Einige Zeit verging, doch es nahm niemand ab. Dann sprang der Anrufbeantworter an. Sara legte auf und atmete aus. „Er... scheint nicht erreichbar zu sein gerade.“ Aryan nickte und nahm das Handy wieder entgegen. Er sah auf das display und gab dann etwas über die Tastatur ein. Die Tatsache, dass Richards Nummer in sein Handy einprogrammiert gewesen war, beruhigte Sara etwas. Erstmals sah sie den Mann genauer an, der sich wiederum an seinen Wagen gesetzt hatte: Er setzte sich nicht einfach neben sie. So, wie sie befürchtet hatte. „Sie sind.. aber doch nicht von der Schule oder.“ „Ich tanze gerne. Aber arbeiten tu ich in der Todai.“ „In der Todai?? Tanzen Sie da?“ „Nein, ich bin Arzt.“ Stille. Sara war verblüfft. „Wirklich? Oh.“ Sie atmete aus. „Dann sind Sie ein Bakyo, oder. Die nehmen nur Bakyo habe ich mal gelesen.“ Aryan meinte: „Bewerben darf sich jeder.“ „Dann behandeln Sie bestimmt viele.. Berühmte.“ „Wer ist denn berühmt?“ Sara meinte: „Haben Sie auch schonmal den Sheya behandelt? Ach so sowas darf man ja nicht sagen als Arzt.“ „Der Sheya tanzt auch sehr gut. Außer federa, da hat er noch Luft nach oben finde ich.“ Sara war entsetzt. „Dürfen Sie so über ihn reden?“ Aryan meinte ungerührt: „Bin halt anspruchsvoll.“ Beide mussten grinsen. Sara reckte sich etwas: „Eine federa ist auch sehr schwer.“ „Sie verteidigen ihn?“ Sara entspannte sich. „Also Sie sind ja gar nicht so, wie ich mir jemanden aus der Todai vorgestellt habe.“ „Ich hoffe, das ist als Kompliment gemeint.“ Aus dem Wald drangen Geräusche. Sara fuhr erschrocken zusammen. Aryan sagte ruhig: „Rehe.“ Sara sah in Richtung der Geräusche, aber sie konnte nichts erkennen. „Ob.. es hier auch Wölfe gibt?“ Aryan antwortete: „Nein. Das ist nur ein sehr kleines Waldstück, und die Autobahn ist zu nah.“ Sara fand das irgendwie beruhigend. Sie sah auf ihren Fuss. „Kennen Sie sich auch.. mit sowas aus?“ Aryan nickte. „Umgeknickt?“ Sara atmete aus: „Ja.. auf dem Parkplatz. Erst war nichts und ich bin losgefahren, aber jetzt.. ich glaube, ich kann doch nicht mehr fahren. Ich meine, wenn Sie von der Todai sind.. dann werden Sie mir ja nichts tun, oder. Die suchen die doch bestimmt gut aus da. Vielleicht können Sie mich mitnehmen in die Stadt?“ Aryan legte seine Hände zusammen. „Wissen Sie, was ich auch noch bin: Ein Vater. Meine Tochter ist noch nicht in Ihrem Alter, aber ich sage mal: Natürlich bin ich als Vater nicht glücklich, wenn meine Tochter mit dem Auto abends alleine durch die Gegend fährt. Aber wenn so etwas wäre wie hier, dann möchte ich auf gar keinen Fall, dass sie zu einem fremden Mann ins Auto steigt. Was Sie jetzt tun sollten aus meiner Sicht als Vater ist: Sie sollten die Akai anrufen, damit die hierherkommen, den Wagen absichern und Sie zu Richard zurückfahren, damit Sie dort übernachten und den Fuß über Nacht ausruhen können.“ Sara starrte Aryan an. Aryan blickte ruhig zurück und sagte: „Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Dennoch ist das der Weg, den ich für richtig halte. Beim nächsten Mal ist vielleicht jemand anders an meiner Stelle. Es gibt Männer, für die ist es durchaus etwas Anderes, ob Sie hier mit Ihnen stehen oder ob Sie mit denen ins Auto gehen. Man muss sich auch aufs Bauchgefühl verlassen, das ist klar. Aber wir haben hier keine Not.“ Sara atmete aus. „Verstehe. Dann.. soll ich also die Akai anrufen.“ „Ich habs schon getan.“ Sie starrte ihn wieder an: „Sie.. haben schon?“ „Ich habe eine Nachricht geschickt.“ „Sowas.. kann man?“ „Ja. Mir ist schon aufgefallen, dass viele Menschen das nicht wissen, was schade ist.“ „Ich wußte es auch nicht.“ „Die kommen aus Nema, kann nicht lange dauern.“ Sara atmete aus. „Sie meinen... das ja ernst.“ „Was ich allerdings Ihnen anbiete ist, dass ich Ihnen etwas zu kühlen gebe für den Fuss. Dieses Tuch, das kann ich toppen. Möchten Sie?“ „Gern..e.“ Aryan griff neben sich, holte einen Koffer aus der Halterung und öffnete ihn. Dann nässte er einen Tape-Verband mit Camia-Salbe ein. Von hinten kam ein Scheinwerfer heran. Aryan sah auf sein Handy. Dann stand er auf, kam zu Sara, hockte sich vor sie – dadurch war annähernd auf ihrer Höhe - und sagte: „Da kommen die Akai schon. Mögen Sie mal Ihren Fuss so hochlegen... okay. Darf ich einmal tasten?“ „K...lar.“ Aryan untersuchte den Knöchel. Seine Berührungen waren ruhig und behutsam. Sara spürte keinen Schmerz. Dann wickelte er das Tape. „Sagen Sie Richard, Sie hätten an der Landstraße einen schrägen Arzt getroffen, der gerne federa tanzt und der vermutet, dass das nur gezerrt ist. Aber wenn es morgen abgeschwollen ist, soll er nochmal draufschauen. Wenn es auch morgen bei Belastung wieder anschwillt, bleiben Sie noch eine Nacht in der Schule, wenn Sie möchten. Ich bin übermorgen nachmittag wieder da, dann bringe ich einen kleinen Ultraschall mit und gucke mir das genauer an. Lassen Sie bis dahin das Tape dran und lagern Sie den Fuß hoch so oft es geht. Die Salbe gebe ich Ihnen mit; einfach immer wieder die Stelle, die ich hier freigelassen habe damit bestreichen, wenn sie eingezogen ist.“ Er stand wieder auf und Sara nickte. Hinter Aryans Wagen hielt ein Streifenwagen der Akai.


(...)


Die ähnlich der Cetrick Hall halbkreisförmig gebaute Regaehalle im Westen von Aiza lag fast dunkel - die großen Busparkplätze waren verwaist, die Hauptportale geschlossen und nur die von außen einsehbare Portalhalle indirekt beleuchtet. Der ebenfalls halbkreisförmige Anbau beherbergte einen kleinen Festsaal mit mittelgroßer Bühne, und der dazugehörige Parkplatz war schon ziemlich voll - hätte Sara gezählt, wäre sie etwa1 bis dreißig gekommen. Aber sie zählte nicht. Stumm saß sie im Fond des Taxis und sagte keinen Ton. Alessa und Heyke diskutierten amüsiert über gewisse Eigenschaften des Trié-Walzers, der in Aiza getanzt wurde, und Jonatan dirigierte den Taxifahrer durch das Gewirr der Schlagbäume. Die Welt schien an Sara vorbeizutropfen. Irgendwann sah sie, dass Jonatan den Taxifahrer bezahlte. Alessa, Heyke und Patrick waren bereits ausgestiegen. Alessa begrüßte den Türpförtner, und Sara stellte sich auf zwei ziemlich wackelige Beine. Türen klappten, das Taxi fuhr ab, das nächste kam, und Sara wurde von Jonatan Whie gefaßt. Sein Blick war sehr ruhig. „Was ist los?“ Sara sah ihn an. Dann sagte sie leise: „Ich .. glaube, ich würde lieber wieder zurückfahren.“ Ihre Stimme brach. „Es tut mir leid, aber ich wußte ja nicht, dass... da jemand ist, den ich gar nicht kenne und.. am Tisch und so, dass er auch.. dass ich dann auch bei ihm bin, was ist... wenn er irgendwas macht, dass ich... mit ihm tanzen soll, mit einem adligen Rang... das.. kann das nicht..“ Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. „Ich passe hier überhaupt nicht hin, das wird schrecklich. Ich trau mich da gar nicht rein..“ Jonatan faßte sie am Rücken und rief halblaut: „Alessa, kannst du mal schauen, ob Ande schon da ist?“ Er schob Sara sanft vorwärts. „Wir gehen einfach ein Stück. Nur über die Balustraden, nicht in den Saal.“ Sara sah Alessa nicht. Sie schloß die Augen. „Es war.. mein Fehler, ich habe nicht.. nachgedacht..“ Jonatan Whie dirigierte sie an der Garderobe vorbei auf einen matt erleuchteten, besch ausgelegten Absatz, von dem aus man durch große Fenster auf die Parkplätze sah. Von hinten kam gedämpfte Musik. Jonatan White setzte sich mit Sara auf eine der Treppen. Dann sagte er ruhig: „Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist als Schülerin mit uns hier, es sind nur hohe Trikots am Tisch, und Ande ist hier als Lehrer. Er unterrichtet in Aiza ganz normal, zwar nur wenige Stunden, aber er ist für dich ein Lehrer und wird sehr gut auf dich achtgeben. Er ist ein ganz wunderbarer Mensch, Sara.“ Stille. Jonatan White ließ ihr Zeit. Aber Sara blieb angespannt. Ruhig sagte Jonatan: „Dich verunsichert, dass er adlig ist?“ Die Reia-Novizin atmete aus. „Ja.“ Jonatan nickte. „Mychea Rhye führt uns. Ande ist nicht hier, um zu führen. Er unterrichtet, ja, aber den Schwerpunkt dieser Kraft setzt er bei den Akai ein in der Arbeit mit bedrohten Frauen. Wir kennen ihn schon sehr lange, er hat mit uns gelernt und ist ein absolut spitzenmäßiger Kumpel. Er legt hier sein Zeichen ab, sein Bruder und seine Schwägerin genauso, die kommen heute abend später auch noch; sie sind auch adlige Ränge, aber wenn sie die Zeichen abgelegt haben, dann bedeutet das für uns nicht nur, dass wir sie nicht grüßen müssen, sondern wir dürfen es gar nicht. Genau wie wir unseren Alltag loslassen in einer Feier tun sie es auch. Und das darfst du auch. Wir haben einen gemeinsamen Tisch, das heißt, dass du von uns allen Männern dort mitbegleitet wirst. Da Ande auch alleine kommt, wird er neben dir sitzen, das ist alles. Und beim Auftanz wird er dann bei dir bleiben, so ist das völlig in Ordnung. Es muss niemand tanzen, auch beim Auftanz nicht.“ Ein hochgewachsener Mann in dunklem Anzug kam auf die Balustrade zu. Sara spürte eine hochwallende Spannung. Die beiden standen auf. Ohne es zu merken, wich Sara etwas zurück. Jonatans Lächeln war noch ruhig, aber warm: „Ekaraisse adai.“ Als Sara die ehrerbietende Form hörte wurde ihr schwindelig. „Gesundheit.“ Die beiden grinsten und umarmten sich. „Wie gehts dir?“ „Sehr gut.“ „Darf ich vorstellen: Sara Bane, Ande Amea.“ Sara sah einen großen, athetischen Mann mit breiten Schultern, ruhigen, weichen und gutgelaunten Zügen. Seine Hand war warm. „Ich freue mich sehr, Frau Bane.“ „E...karaisse...“ Sara versuchte, einen Satz zusammenzustellen. Jonatan meinte ruhig: „Wir nehmen uns ein paar Minuten. Einen adligen Rang mit am Tisch zu haben hat sie gerade kurz verunsichert.“ Ande sah aufmerksam zu Sara und sagte ein paar Momente nichts. Dann meinte er: „In Nema habe ich die Stelle eines Assistenzlehrers. Ich bin sehr gerne Lehrer. Ist familiär bedingt, sagt mancher. Mein Vater ist auch Lehrer.“ Sara schaute erstaunt. „Auch.. in der Zaye?“ „Nein. Er hat eine ganze Menge unterrichtet. Ich lande immer beim Tanzen.“ Sara lächelte behutsam. „Das kenne ich.“ „Sie brauchen sich aber nicht zu sorgen. Niemand hier schaut heute Abend mit dem Blick eines Lehrers. Wir mögen solche Abende sehr, einfach für uns.“ „Ich.. das Problem ist, ich bin... keine richtige Tänzerin. Ich kann vieles nicht so gut, und.. habe nun Angst, dass ich Sie vielleicht blamiere oder...“ Sara rang nach Worten. Jonatan legte seine Hand auf ihren Rücken und sagte: „Ande weiß sehr gut, was eine Reia ist, und du brauchst keine Sorge zu haben. Du brauchst ihm auch das nicht zu erklären.“ Ande lehnte sich etwas an das hohe Geländer. Sein Blick war jetzt sehr ernst. „Ich verstehe Ihre Sorge.“ Er erklärte dies nicht weiter. Sara wirkte kurz still. Sie spürte tatsächlich eine Beruhigung. Dann atmete sie aus und sagte: „Vielleicht... mache ich alles nicht richtig und blamiere... Sie dann auch noch. Also praktisch, wie... so im Protokoll. Oder wie man das nennt..“ „Ich verstehe.“ „Also davon habe ich leider... total null Ahnung.“ Ande lehnte sich etwas an das hohe Geländer. „Aber ich. Und ich sage Ihnen: Wir brauchen es nicht. Sollten wir es doch brauchen, evakuiere ich Sie rechtzeitig.“ Sara musste fast lächeln. „Oh. Das... klingt gut.“





Dann glänzte in seinem Blick fast so etwas wie sanfter Schalk. „Bin ich Ihr erster Adliger, hm.“ Sara hustete fast. „Eh.. gewissermaßen ja. Den Ozai habe ich.. noch nicht in dem Sinne direkt.. kennengelernt so nah..“ Ande lächelte. Sara bemerkte gar nicht, dass er eine Treppenstufe tiefer getreten war. „Nennen Sie mich niemals mit Mychea in einem Atemzug. Ich bin nur ein kleiner Polizist. Gucken Sie mich ruhig in Ruhe an. Ich hoffe natürlich, dass ich Ihnen gefalle. Wie finden Sie die Schuhe? Sind neu.“ Sara starrte Ande Noja an. Sie hatte geglaubt, dass Adlige immer Keigo sprachen. Tatsächlich hatte Ande einen Fuß so gehoben, dass man den Schuh sah. Da er mit dem anderen Bein noch immer nach hinten auf der unteren Treppenstufe stand, war dies keine so einfache Haltung, und man konnte in einer seltsam ruhenden Art deutlich erahnen, dass er ein erfahrener akrobatischer Tänzer war. Sara sah auf die Schuhe und hustete wieder. „Sehen.. sehr gut aus.“ Ande sah zu Jonatan. „Erste Hürde genommen.“ Jonatan nickte. „Bei sowas können Frauen sehr streng sein.“ „Da kann ich dir was erzählen.“ Der Fuß wurde wieder abgestellt. Ande sagte sehr ruhig: „Wenn Sie mal einen Adligen treffen, der sich zu wichtig nimmt. Lachen Sie ihn nicht aus. Er lernt noch. Als adlige Ränge sind wir dazu berufen zu dienen. Wer das nicht verstanden hat, sollte noch nicht in einer Position stehen, in der vor ihm gegrüßt wird.“ Er legte sanft die Hand auf. „Würden Sie mir die große Freude machen, mich zu begleiten? Und mir beistehen, falls wir eine kritische Frau treffen?“ Die authentische Vermischung von natürlicher Leichtigkeit und unbedrängender, ganz feiner Polarität berührte Sara tief. Sie atmete aus und nahm seine Hand. „Gerne.“


Genau das hatte Sara befürchtet: Bastbedeckte Tische, teure Kleider, landesweit berühmte Zaye-Bühnentänzer, große Blumensträuße, ein riesiges Buffet, vertraut-enge Begrüßungen. Hohe Farbtrikots, fremde, bekannte und fast bekannte Gesichter, die sich zwischen Türen, Tischen und Getränkebuffet verteilt hatten. Sara sah, wie ein mittelgroßer, blonder Mann und eine etwas kleinere Frau mit schwarzem Zopf und gelbem Samtkleid auf sie zukamen. Ande dirigierte Sara an einem Pulk Gelbtrikots vorbei. Luc Gardner und Kathy Britten waren schon herangekommen. „Anete.“ Ande umarmte Katy und nahm Lucs Hand. „Sara Bane.. Katy Britten.. Luc Gardner...“ „Freut mich.“ „Guten Abend, Frau Bane.“ Im selben Augenblick sah Sara Richard und Catarina. Bevor sie etwas sagen konnte, wandten die Feiernden sich um. Mychea Ryozan war hereingekommen, und die Zaye-Ränge gingen in einen Gruß. Auch Ande Noja grüßte. Sara verneigte sich neben ihm. Den Hesita, der Gastgeber der Regea, trat auf Mychea Ryozan und Catherine zu. Wieder Umarmungen. Sara spürte die Intimität der Feiernden. Und dennoch hatten sie gegrüßt. Den Hesita trat ans Mikro. „Era nadai asae. Guten Abend, liebe Freunde, ich freue mich sehr, dass Sie alle gekommem sind. Ich hoffe, dass es ein schöner Abend wird. Ich persönlich bin hauptsächlich hier wegen der Himbeercreme von Catherine, die ich schon am Buffet erblickt habe. Ich werde Bescheid geben, wenn ihr auch dazukommen könnt.“ Alles lachte, doch Sara lachte nicht mit, da sie spürte, wie Catarinas Blick auf sie gefallen war. war. Catherine Tiani sagte etwas, der Theaterdirektor antwortete, wieder lachte alles. Dann begann schon die Musik. “Kreuztanz“ schoß es Sara blitzartig durch den Kopf. Eine weitere Hürde, die sie nicht bedacht hatte. Der Kreuztanz war die Vorstellung und Begrüßung: Je traditioneller das Zaye-Treffen, desto eher begann es. Hohe Trikots begrüßten sich mit dem Kreuztanz statt mit einer Ansprache. Es gab verschiedene Regeln - vom rechten Sitznachbarn über den quer sitzenden Herrn bis zur freien Wahl. Sara bekam schweißnasse Hände. Rechts von ihr saß jemand, den sie nicht kannte. Quer gegenüber der Leiter der Schule von Amra. Sie mußte raus hier. Der Gastgeber trat von der Bühne: „Fangen wir an mit einem gemeinsamen Noma-Walzer, gekreuzt durch die drei, einen wunderbaren Abend!“ Wieder Applaus. Die Leute standen auf, Sara spürte wackelige Knie, sah sich um, begegnete Andes Blick. „Was... heißt denn durch drei? Was ist ein Noma-Walzer, ich..“ Ande sagte ruhig: „Kommen Sie mit.“ Er nahm wieder ihre Hand. Sara spürte eine aufsteigende Angst. Ihr Herz klopfte. Sie fühlte sich überfordert. Die Hand, die sie hielt, war warm. Und dann geschah das Unglaubliche: Ande Noja führte sie nach draußen. Die Terrasse lag groß und still vor einem wunderbaren See. Saras Herz klopfte noch schnell. Sie war verwirrt. Durch die Fenster sah sie, wie die Formation begann. Ande lehnte sich an das wunderschöne Geländer und sagte: „Die lassen wir sich erstmal austoben.“ Sara sah auf die sofort hohen Figuren und Trié-Drehungen und hustete. „Ich...“ Ande Noja schien völlig gelassen. Sara spürte Scham. „Es tut mir leid.“ Ande Noja sah sie ruhig an. „Lassen Sie mich ruhig für Sie sorgen. Ich suche Ihnen einen schönen Ort.“ Zwei Gestalten kanen heran: Richard Mattheo und Catarina. Sara spürte eine Welle von Scham: Nicht nur Ande Amea hatte sich aus der Formation herausgezogen, auch das entsprechende Gegenpaar, damit die Choreographie nicht gestört wurde. Richard lächelte tief warm. Begrüßte seine Nichte. Sara ließ sich in den Arm nehmen. Plötzlich waren die Tränen da. Catarina nahm sie ebenfalls in den Arm. Hielt sie lange. Sara spürte die Wellen von Unsicherheit. Ande Noja stand ruhig. War etwas Richtung Balustrade zurückgetreten. Er wußte, wovor sie Angst hatte: Vor ihm.


Die Zeit verging. Ganz langsam entwickelte sich das Gespräch. Erst hatten Richard und Catarina noch bei Sara gestanden. Sie wie geschützt. Saras Körpersprache hatte sich verändert. Erst hatte sie sich nah an Catarina gehalten. Irgendwann stand sie wieder alleine. Langsam ließ sie sich auf Ande Noja ein. Und irgendwann standen Richard und Catarina dann mit einem anderen Paar zusammen an der offenen Terassentür: Noch im Blick. Aber jetzt nicht mehr bei Ande und Sara. Sara war entspannter. Hörte Ande Amea jetzt ruhiger zu. Der Denei wußte, was sie jetzt brauchte: Sie brauchte nicht, dass er seine adlige Seite verbarg. Sondern dass er sie zeigte. Damit sie sie einmal ansehen konnte. Der Noja nickte jetzt und sagte: „Genau. Man würde dann, wenn man noch einmal in den Raum kommt, den Kopf kurz neigen. Ich bin einmal in der Woche in der Schule, um dort mitzuhelfen und auch zu unterrichten. Dort kennen wir uns natürlich gut, und ich lebe mit den Schülern und auch den anderen Kollegen dort so, dass ich - wie auch jetzt - keine offenen Zeichen trage und daher auch nicht gegrüßt werde. Denn ich sehe mich dort nicht in einer adligen Kraft. Mychea hat dort eine ganz andere Aufgabe. Daher ist es sehr gut, dass wir dies auch verinnerlichen, was er uns schenkt. Dies kommt im Gruß zum Ausdruck. Es ist auch ein Ausdruck von Vertrauen, von ich-höre. Ich-folge-dir. Und es gibt Räume, in denen ich in meiner Arbeitszeit genau dies auch zu geben versuche. Dass ich führe. Das müssen alle Menschen in dieser Szene wissen; die, die ich führe.- die, denen ich versuche zu helfen, auch die, die mit mir in Konflikt gehen. Daher lege ich dort meine Zeichen an. Aber hier nicht. Hier möchte ich die Schule unterstützen und mich als Lehrer und Tänzer einbringen, aber nicht als adliger Führrang. Daher dürfen Sie das ruhig loslassen mit der Zeit. Es hat keine Bedeutung hier, wir brauchen es nicht dafür.“ Sara war jetzt aufmerksam. „Und außerhalb der Zaye... wäre der Ozai dort Ihnen auch übergeordnet?“ Ande sagte: „Außerhalb der Zaye stehen wir in zwei sehr verschiedenen Positionen, die sich nicht in dem Sinne vergleichen lassen. Es gibt Situationen, in denen ich aufgrund meiner Aufgaben in zumindest einer Abteilung der Todai eine übergeordnete Verantwortung habe und anderen – auch Mychea – im Ereignisfall weisungberechtigt und auch weisungsverpflichtet wäre. Daraus leitet sich dann in repräsentativen Protokollen auch eine entsprechende Hierarchie ab, die in bestimmten protokollarischen Gestalten ausgedrückt wird. Das hat aber mit dem Hochprotokoll in der Todai zu tun, für das hier nicht der Ort ist. Da Mychea und ich innerhalb der Zaye zusammen wirken, da er dort mein Führrang ist und da er auch mein Lehrer war und ist, ist das die Art unserer Beziehung.“ Stille. Sara verarbeite. Sie war froh, dass Ande jetzt ruhig stand. Nicht mehr die Leichtigkeit zeigte, sondern seine adlige Seite nicht verbarg. Er wirkte jetzt geerdet, stand ruhig und hatte eine sehr angenehme, aber auch sehr haltgebende Ausstrahlung. Es war deutlich zu spüren, dass er etwas besaß, was die anderen Lehrer nicht besaßen. Und Sara war überrascht, wie berührend und beruhigend es auf sie wirkte. Entgegen dem, was sie immer gedacht hatte: Angst machte es ihr nicht. Sie atmete aus. „Wenn Sie adlig sind, dann... darf ich fragen, von welcher Familie Sie sind? Sie sind kein.. Yamatai, oder. Ich glaube, ich kenne alle Yamatai. Oder vielleicht auch nicht...“ „Ich bin ein Noja.“ „Oh.“ Sie räusperte sich. „Ver.. stehe. Herr Whie sagte, dass Sie.. ein Akai sind.“ „Das ist richtig.“ „Was.. machen Sie da. Darf ich das fragen.“ „Sie dürfen. Ich arbeite in verschiedenen Feldern. Meine Hauptführungsfeld ist die yihe. Dort liegt der Schwerpunkt meiner tägliche Arbeit als Akai. Zusätzlich gibt es Führungsdienste, in denen wir Bereitschaften haben, also hinzugezogen werden, wenn es in Aiza oder in den Provinzen schwierigere Linien der Akai gibt. Die häufigsten dieser Begleitungen betreffen die Sicherung größerer Landteile bei Unwettern oder die Übernahme von höheren Untersuchungsverfahren innerhalb der organisierten Kriminalität, besonders bei Vorfällen der nika. Außerdem hält die Heze einen exekutiven Bereitschaftsdienst vor, den man Zire nennt. Das sind Spezialeinsatzgruppen, die von den Akai landesweit angefordert werden können, wenn es um schwere exekutive Situationen geht. Die Hyza stellt dafür Ränge bereit, auch andere Abteilungen übernehmen dort Dienste.“ Sara stand reglos. Verarbeitete weiter. „Das heißt, Sie.. tragen auch Waffen. Oder.. kämpfen.“ „Es gibt verschiedene Kräfte, die wir einsetzen. Aufmerksamkeit, Voraussicht, Umsorgung, dann hat ein Blick eine Wirkung, eine Körperhaltung, eine Geste, ein Wort. Die nächste Stufe wäre, den Körper einzusetzen in der ein oder anderen Art. Der Griff zur Waffe ist ein weiterer Schritt, der noch nicht bedeutet, dass man sie einsetzt. In den Zire-Einsätzen sind wir speziell ausgerüstet, aber im Gegensatz zu dem, was die meisten Menschen glauben, sind gerade diese Einsätze nicht von grober Kraft gekennzeichnet. Im Gegenteil geht es meist darum, sehr ruhig an die Sache heranzugehen, einen sehr guten Überblick zu haben und das Richtige zu tun. Zur richtigen Zeit.“ „Und... grüßen Sie auch?“ „Oh ich grüße sehr oft.“ „Vor dem Sheya sicher.“ „Selbstverständlich. Aber im Alltag häufiger vor meinen vorgesetzten Rängen und vor den älteren Rängen meiner Familie.“ „Bestimmt.. ist es auch nicht leicht, mit so vielen.. anderen adligen Rängen zu Hause zu leben.“ Ande lächelte. „Ich lebe sehr, sehr gerne in meiner Familie und finde sie tatsächlich durchgehend wunderbar.“ „W...irklich.“ „Jeden Freitag-Abend geht mein Vater, der der Führer der Noja ist, am Strand unserer Residenz spazieren. Dann setzt er sich an den See. Und dann kommen die Kinder aus den anderen Noja-Familien. Besonders die kleinen. Wie eine Traube umlagern ihn diese Kinder, manche klettern auf seinen Arm oder sitzen an seinen Beinen, manche klettern an seinem Rücken. Die kleinen Mädchen nimmt er ganz ruhig und sanft unter seine Arme, die etwas älteren Jungen packt er schonmal etwas fester, die wollen auch rangeln. Es ist ein unglaubliches Bild, seit 20 Jahren jeden Freitag. Diese Kinder wachsen, und es kommen neue Kinder, und es ist dasselbe Bild. Alle kleinen Noja-Kinder lieben diesen obersten Vater. Sie wissen genau, dass er da ist. Sie holen sich jeden Freitag seine Nähe. Er sieht sie alle. Er sieht, wie es ihnen geht. Er kennt sie. Sie kennen ihn. Und wenn sie größer werden und wenn Probleme kommen und auch Versagen und Fehler und wenn die Jugendlichen Unsinn machen – und Noja-Jungen sind bekannt dafür, eine Menge Unsinn zu machen -, aber am Ende ist der Mann, der diese Familie führt immer der, mit dem sie am Strand geschmust haben. Und der bleibt er.“ Sara hatte Tränen in den Augen. „Dann.. haben Sie einen wunderbaren Vater.“ „Ja, den habe ich wirklich.“


Langsam entspannte Sara sich. Alles war anders, als sie erwartet hatte. Nach den Auftänzen wurde weiter getanzt, aber Ande Noja ging mit ihr nicht auf die Fläche. Die beiden saßen mit Richard und Catarina zusammen, tranken, sprachen, lachten. Sara spürte dabei, wie aufmerksam ihr Begleiter blieb. Ihr zu trinken nachschenkte. Den Schal aufhob, der herunterfiel. Den Stuhl rückte. Unaufdringlich, wie zart. Auch dies hatte etwas von einem Tanz. Nur langsam begriff Sara, dass ein Schwarztrikot sehr viel mehr war als eine Tanzbegabung. Dann sah sie auf den Mann und die Frau, die hereinkamen.


Sara ließ vor Überraschung fast das Glas fallen. Sah, wie die beiden vom Gastgeber begrüßt wurden. Die ersten Trikots umarmten. Richard folgte ihrem Blick. Sara sagte: „Das.. ist er.“ Richard nahm sein Glas. „Aryan?“ „Also kennst du ihn.. doch.“ Auch Ande sah zur Tür. Richard sagte: „Wie meinst du das.“ Sara atmete aus. „Ich war.. als ich bei euch war und als ich zurückfahren wollte.. umgeknickt. Aber nicht so schlimm, dachte ich. Und dann bin ich doch losgefahren, aber als ich auf der Landstraße war, schwoll der Knöchel sehr an und tat so weh, dass ich nicht mehr.. Auto fahren konnte.“ Catarina, Richard und Ande schauten sie jetzt an. Sara atmete aus: „Es war ja schon dunkel, und dann war auch noch mein Handyakku leer. Ich saß dann am Auto und habe versucht, den Fuss zu kühlen, damit er abschwillt. Und dann kam noch ein Auto, da war.. er drin.“ Richard hob die Brauen. Sara meinte: „Das war mir aber alles so unheimlich gewesen.. es war schon so dunkel, und dann mit ihm alleine, also er hat dann angehalten. Was ja gut war, weil.. ich konnte da ja nicht weg und ich dachte schon was, wenn du die ganze Nacht hier warten musst. Und er war aber sehr nett.. er hat mir gesagt, dass er dich kennt und mir sein Handy gegeben, damit ich dich anrufe, aber du warst glaube ich nicht erreichbar.“ Richard stellte sein Glas ab. Sara fuhr sich durch die Haare. „Dann sprachen wir und er sagte, dass er Arzt in der Todai wäre. Da wollte ich ihn bitten, ob er mich mit in die Stadt nehmen kann, aber irgendwie hatte ich doch noch Angst. Und er sagte, dass.. ich nicht zu fremden Männern ins Auto steigen sollte. Das wäre sein Rat. Und dann hat er die Akai angerufen, damit die mich zurück zur Schule fahren.“ Ande nahm sein Glas und sagte: „Für einen Mediziner: beachtlich.“ Sara sagte: „Aber er hat mir so einen Umschlag gemacht mit einer Salbe. Und ich sollte dir sagen, dass ich...“ Sie lächelte fast, „einen schrägen Arzt an der Landstraße gefunden habe, der gerne federa tanzt und der sagt, der Fuss sei wohl nicht... also nur gezerrt, aber ich sollte lieber bei euch übernachten, bis er abgeschwollen ist. Und dann kam die Akai, aber nachdem wir gesprochen hatten, war der Fuss schon wieder abgeschwollen. Weil diese Salbe war total gut glaube ich. Der Mann hat dann nochmal das untersucht und gesagt, es sei nur leicht gezerrt. Dann habe ich ihn gefragt, ob ich damit weiterfahren kann, weil ich ja am nächsten Morgen wegen der afate zurück sein wollte. Er meinte, ich sollte nicht weiterfahren, zumindest keine lange Strecke. Dann habe ich gesagt, ich fahre nur bis zum Bahnhof und nehme da den Zug. Die Akai waren damit einverstanden und fuhren wieder. Aber der Mann.. war gar nicht zufrieden.“ Ande lächelte ganz leicht. Sara rang in der Erinnerung mit den Händen. „Er meinte, es wäre zu spät und zu dunkel für den Zug, ich wäre.. eine empfindsame Frau. Ich sollte vorsichtig mit dem Wagen zurückfahren zur Schule und da schlafen und morgen, wenn der Fuß eine Nacht Ruhe hatte dann nach Iena und wenn es noch wehtut dann mit dem Zug, aber erst, wenn es hell ist. Die afate wäre nicht so wichtig, ich sollte mir die Zeit nehmen. Er hat es so gesagt, dass ich.. irgendwie ich weiß auch nicht. Er war nicht streng, sondern man spürte, dass er.. eigentlich.. sehr nett ist.“ Catarina lächelte warm. Sara fuhr fort: „Dann bin ich zurückgefahren, und er ist hinter mir her, falls.. noch was ist und ich wieder anhalten muss. Aber es war ja nicht weit. Und dann bin ich einfach runter an die Pforte und zu Agia, und Pao hat gesagt, ich soll einfach ins Gästezimmer. Ich wollte euch nicht mehr stören, weil es ja auch schon spät war. Und morgens bin ich dann weg, da war der Fuß aber überhaupt nicht mehr schmerzhaft. Und um neun Uhr war ich in Iena. Und über Nacht hatte ich diese Salbe immer wieder drauf, die.. tat so gut trotzdem.“ Ande lächelte und sagte: „Camia-Salbe. Die macht er immer frisch. Das hat schon Stil, finde ich, man erkennt an solchen Kleinigkeiten was. Camia-Salbe kann nicht jeder, da muss man ein Händchen für haben.“ Sara setzte sich auf. „Kennen.. Sie ihn?“ Ande nickte: „Er ist mein Bruder. Ab und zu sag ich mal was Nettes über ihn, solange er weit genug entfernt ist. Das da ist grad so die Grenze.“ Catarina lächelte warm. „Wie schön, dass er kam, als du da standest. Er ist so ein wunderbarer Arzt.“ Sara saß erstarrt. „Er ist.. Ihr Bruder?“ Im selben Moment begriff sie, wer die Männer waren, die plötzlich an einer der Seiten standen. Sie wirkten entspannt, aber sie waren nicht gekleidet wie Zaye-Tänzer. Es waren Personenschützer. Der Mann und die Frau kamen näher. Hatten bei Mychea und Catherine gestanden. Noch zwei andere Paare begrüßt. Dann kamen sie zu dem Tisch, an dem Richard, Catherine, Ande und Sara saßen. Die Männer erhoben sich. Nejae Yamatai trug ein wunderschönes, gelbes Spitzenkleid. Stand etwas hinter ihrem Mann. Die zaye-Tänzer begrüßten sich. Richard sagte: „Habe gerade gehört, dass ihr euch schon kennengelernt habt. Das ist meine Nichte Sara, das ist mein federa-Buddy Aryan.“ Aryan lächelte und sah auf Sara. „Frau Bane.“ Sara brachte nur einen Krächzlaut heraus. Sah die Hand und nahm sie fast vorsichtig: Durfte man adligen Rängen die Hand geben? Die Berührung war warm und sanft. „Ich freue mich, Sie wiederzusehen.“ Wieder Krächzen. Sara räusperte sich. „Danke.“ Sie sprach nicht weiter, weil sie nicht wußte, ob sie im Keigo sprechen musste. Aryan Noja sagte: „Das ist meine Frau Nejae.“ „Hallo Frau Bane.“ „Etaisse adaite.“ „Wir brauchen hier kein keigo“, sagte Aryan Noja. „Es ist ja einfach ein schöner Abend.“ Die Tänzer setzten sich. Sara hustete. „Es tut mir leid wegen.. ich wußte nicht, wer Sie sind..“ Aryan Noja meinte: „Da gibt es nicht soviel zu wissen. Wir kannten uns nicht, das war nicht leicht für Sie da. Wie geht es Ihrem Fuß.“ „Das.. ist ganz schnell besser gewesen. Die Salbe war ganz wunderbar glaube ich. Ich habe es noch eine Woche immer hochgelegt, aber es tat nicht mehr weh.“ „Das freut mich.“ Sara trank einen Schluck Wasser. „Danke, dass Sie mir.. geholfen haben.“ „Aber natürlich.“


(...)



Als Aryan Noja zu seinem Wagen zurückkam, ging die Sonne gerade unter. Der Gästeparkplatz der Zaye-Schule Aiza-Nema lag fast leer: Sein Auto war das einzige. Aryan wußte bereits, dass jemand an seinem Auto stand. Sara Bana trug ein langes Cape und feste Schuhe: Der Boden war noch feucht von den Sommergewittern. Aryan Noja kam heran und sah, dass eine Anspannung die Nichte von Richard Mattheo ergriff. Aryan nahm die Tasche mit seinen Tanzkleidern von der Schulter und lächelte: „Guten Abend Frau Bane.“ Sara war noch kurz wie erstarrt. Man sah, dass sie überrascht schien, Aryan Noja zu sehen. Dann ging sie in einen ungeübten Gruß. Aryan Noja meinte: „Sie brauchen nicht zu grüßen. Ich bin hier immer für mich und wie Sie sehen ohne rangstellende Zeichen. Keine Sorge.“ Sara stotterte kurz: „Etadaraisse navaete akassetai. Es tut mir leid.. ich, ich... glaube ich hatte den Wagen verwechselt.“ Aryan öffnete die Tür des Wagens und stellte die Tasche hinein. „Ich habe Sie gar nicht gesehen gerade, waren Sie nicht dabei?“ „Nein, ich.. war gekommen, ich...“, Sara rang um Fassung, „mein Onkel weiß gar nicht, dass ich hier bin. Ich bin mit dem Zug gekommen.“ Aryan Noja sah Sara an. Diese atmete aus. „Ich hatte gedacht, dass ich vielleicht.. Ihren Bruder treffe. Dass er zu dem Treffen kommt. Da dachte ich, ich könnte ihn.. hinterher vielleicht kurz ansprechen, aber ich wollte ihn natürlich nicht stören. Ich dachte, es sei sein Auto. Es tut mir leid.“ „Es ist sein Auto“, grinste Aryan. Sara fuhr sich durch die Haare. „Oh. Er ist.. doch da?“ „Nein, er hat Dienst.“ Aryan sah zum Himmel. „Es wird gleich regnen. Darf ich Ihnen einen trockenen Platz im Wagen anbieten?“ Sara meinte: „Oh es.. das ist nicht meine Absicht, Sie zu stören.“ „Sie stören mich nicht. Ihr Onkel hat mit mir azare trainiert. Kennen Sie das Gefühl, dass man sich irgendwann auch wieder setzen könnte?“ Sara meinte spontan: „Azare? Oh Mann. Das ist.. sauschwer.“ „Sagen Sie ihm das. Das hier ist mein Hobby, wissen Sie das.“ Die Leichtigkeit, die Sara bei Aryan Noja bei ihrem ersten Treffen im Wald erlebt hatte war wieder dieselbe. Und auch hier: Diese feine Zugewandtheit. Irgendwie hatte Sara das Gefühl, dass er sich gar nicht setzen musste. Sondern dass er es ihr leichter machen wollte. Sara musste fast lächeln. „So als Ausgleich.“ „So war mal mein Plan.“ Wie eine Wand setzte der Regen wieder ein. Aryan öffnete Sara die Beifahrertür, und Sara setzte sich. Aryan ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz. Die Innenbeleuchtung wirkte sanft. Der Regen prasselte. Aryan Noja stellte den Sitz etwas nach hinten und machte es sich gemütlich. Sara spürte, wie die Verzweiflung zurückkam. Saß wie reglos auf dem Beifahrersitz. Wußte nicht, wie es weiterging. Ande Noja war nicht da. Was jetzt. Ein paar Momente war sie wie gelähmt. Dann merkte sie, dass Aryan Noja sie ansah. Sie atmete aus. „Vielleicht.. könnten Sie mich bis zum Bahnhof mitnehmen?“ Stille. Aryan Noja legte seine Jacke nach hinten. Dann sagte er: „Sie wollten mit Ande gerne in Ruhe etwas besprechen?“ Stille. Sara presste ihre Hände zusammen. „Er ist doch.. er ist doch bei der yihe, oder.“ „Ja.“ „Wissen Sie zufällig, ob man da auch.. so hin kann. Also ob man die einfach etwas.. fragen kann. Ich glaube, die yihe ist nur für so.. schwere Fälle oder. Wenn das richtig gefährlich ist mit Gewalt und so.“ „Die yihe steht einer Frau jederzeit offen, auch wenn es vielleicht nur um eine Frage geht oder eine Abklärung. Ande aber ist im besonderen für Sie da, wenn Sie als Frau der Zaye einen Rat der Akai brauchen. Wenn Sie möchten, bringe ich Sie zu ihm.“ „Aber wenn er jetzt Dienst hat.“ „Er ist im Dienst der Akai und somit genau an der Stelle, an der Sie ihn brauchen. Sollte er vielleicht im Moment nicht sofort Zeit für Sie haben und es nicht warten können, dann hat er bestimmt eine Idee, wer mit Ihnen sprechen könnten. Er hat wirklich sehr wunderbare Kollegen, ich kenne einige von Ihnen, und ich finde, er hat sie sehr, sehr gut ausgesucht. Einen zum Beispiel wollten wir beide haben, und er hat sich für Ande entschieden. Dafür musste ich Ande natürlich in den Pool werfen.“ Sara musste vorsichtig lächeln. „Verständlich.“ Aryan ließ den Motor an.


Sara saß reglos. Sah immer wieder in den Rückspiegel. Der Wald lag schon im Dunkeln. Nachdem sie den Wald verlassen hatten und auf die Autobahn fuhren, war der Wagen noch immer hinter ihnen. Sara atmete aus. Dann sagte sie: „Ich glaube, da folgt uns jemand.“ Aryan Noja fuhr ganz ruhig und nickte. „Ja.“ Sara presste ihre Hände zusammen. „Es tut mir leid, ich.. oh Gott. Ich wollte Sie nicht.. vielleicht sollten wir die Akai jetzt rufen.“ Aryan Noja fuhr nicht zu schnell und auf der rechten Spur. Sara sah auf einen Monitor des Navigationsgeräts, das seltsame Signale zeigte. Sie atmete wieder aus. „Ich.. er muss mir gefolgt sein, ich bin extra mit dem Zug gefahren.“ Aryan Noja wirkte völlig unaufgeregt. Fuhr konzentriert. „Ich vermute, er ist der Grund, weshalb Sie mit Ande sprechen möchten?“ Sara presste die Hände zusammen. Dann sagte sie: „Ja. Er.. verfolgt mich. Seit einer Woche. Es ist jemand aus der Nachbarschaft, wo ich früher.. wohnte. Er hat mich schonmal gestalked. Aber als ich dann auf der Schule war, ist der Kontakt abgebrochen. Jetzt hat er mich wiedergefunden wohl. Und er ist irgendwie.. bedrohlicher. Er schreibt Briefe mit solchen Emblemen, und...“ Sara räusperte sich, „es könnte sein, dass er mit der nika was zu tun hat. Deshalb wollte ich nicht, dass es jemand weiß. Dass die Schule nicht bedroht wird. Und.. es tut mir sehr leid, wenn ich Sie jetzt auch.. da reingezogen habe, genau das... wollte ich eigentlich nicht.“ Sara verstand selbst nicht, warum sie nicht in Angst geriet. Sie fühlte sich erstaunlich sicher. Der Mann neben ihr hatte etwas, das sie nicht verstand. Aryan Noja bog von der Autobahn ab. Dahinter begann eine Landstraße, die Sara nicht kannte. Der Wagen blieb dicht hinter ihnen. Aryan Noja sagte ruhig: „Das muss Ihnen nicht leidtun, Frau Bana. Es ist richtig, dass Sie sich Hilfe geholt haben. Ich kann mit so etwas gut umgehen. Sie sind hier in einem Schutzwagen der Heze und brauchen sich nicht zu sorgen. Würden Sie bitte einmal Ihr Handy ganz ausschalten.“ „Oh. Eh.. ja. Ich soll also nicht die Akai rufen?“ „Das ist nicht nötig, die informieren wir gleich. Ich möchte mir jetzt erstmal diesen jungen Mann ein paar Momente anschauen, und dann werde ich eine Distanz zwischen Sie und ihm bringen. Geben Sie mir ein paar Minuten.“ Sara nahm ihr Handy und schaltete es aus. Aryan fuhr in dichteren Stadtverkehr. Mit weichen Lenk-bewegungen brachte er mehrere Autos zwischen sich, fuhr dann plötzlich schneller, wieder langsamer, scherte wieder ein und bog ab. Nach einer Weile war er wieder auf der ruhigen Landstraße. Sara schaute in den Rückspiegel: „Jetzt.. ist er nicht mehr zu sehen.“ Aryan blinkte und fuhr wieder auf die Autobahn. „Er hat uns verloren, er hat keine Ahnung, wie man ein Auto verfolgt.“ Sara atmete aus. Presste wieder ihre Hände zusammen. „Hoffentlich.. findet er uns nicht wieder. Er hat ja irgendwie auch.. den Zug verfolgt.“ Aryan nickte. Sara spürte eine seltsame Atmosphäre. Die Ruhe des Mannes. War das Entspannung? Gelöstheit? Aber irgendwie war er konzentriert. Sara hatte das Gefühl, dass er anders wirkte als an den beiden Abenden, als sie ihn kennengelernt hatte. Ganz entfernt erinnerte es sogar an Arbeit, was er ausstrahlte. Aber nicht so, wie man normalerweise arbeitete. Leichter. Leiser. Völlig unaufgeregt. Er wirkte sehr geübt in dem, was er tat. Oder war es so, wenn man adlig war? Aryan Noja bog von der Landstraße ab. Die Straße blieb leer. Dann hielt er an einem Restaurant. Sara setzte sich verwundert auf. Aryan stellte den Motor aus und sah wieder auf das display. Dann nahm er seine Jacke vom Rücksitz und sagte: „Ich habe gerade die Information bekommen, dass Ande sich im Moment um eine andere Projektlinie kümmern muss bei seinen Kollegen, die ihn um Hilfe gebeten haben. Sowas kann auch schonmal länger dauern. Mein Vorschlag ist: Wir schauen uns das deshalb erstmal zusammen an. Sind Sie einverstanden?“ Sara öffnete den Mund. „Eh... ja was denn anschauen?“ „Wir setzen uns in Ruhe hin, trinken einen schöne Gabate-Tee, und dann erzählen Sie mir mal, was Sie über diesen Mann wissen.“ Sara atmete aus. „Ja. Sie sind aber dann doch.. kein Arzt oder.“ Aryan Noja hatte sein Handy aktiviert und sah auf eine Anzeige, die offensichtlich eine Messung durchführte. Dann wurde das display grün. Aryan öffnete ein Fach in der Mitte des Autos und gab einen Code ein. „Doch, ich bin Arzt. Ande und ich stehen beide in einer dire. Wissen Sie, was das ist?“ Sara setzte sich aufrecht. „N...ein.“ „Manche Ränge der Heze sind in zwei Fächern parallel eingesetzt. Ich bin Arzt, aber im zweiten Fach arbeite ich wie fast alle Ränge meiner Familie exekutiv.“ „Also sind Sie auch ein Akai?“ „Exekutive Ränge gibt es in verschiedenen Spezialisierungen, ich bin kein Akai, aber ich arbeite mit ihnen eng zusammen. Situationen wie diese gehören zu dem, womit ich täglich beschäftigt bin. Die Informationen, die Ande braucht kann ich deshalb vorab sortieren und schon für ihn aufbereiten.“ Stille. Sara atmete aus. „Oh. Okay.“ Sie nahm ihr ausgeschaltetes Handy. Aryan sagte: „Sie haben keinen Sender. Auf dem Schulgelände war niemand, der dort nicht hingehört, auch die Straße war leer. Vermutlich hat er einen Trojaner auf Ihr Handy geschleust, mit dem er Sie verfolgen kann. Das ist relativ einfach. Wir können uns das hinterher anschauen, aber jetzt ist es erstmal aus und wir haben unsere Ruhe hier. Ich bin nicht dafür, die nika zu verharmlosen. Aber was ich bisher weiß, läßt mich nicht an die nika denken. Sondern an einen jungen Mann, der diesen Namen einsetzt, was keine gute Idee ist. Wir werden sehen. Ich werde dennoch jetzt eine Waffe anlegen, Sie brauchen nicht zu erschrecken, das ist nur ein Routineschritt. Ohnehin kommen gleich ein paar Kollegen, die hier draußen absichern werden, so dass wir in Ruhe drinnen sitzen und es uns gemütlich machen können.“ Sara sah, wie er aus dem codierten Fach, das sich öffnete, ein Waffenholster entnahm und es unter seinen Hüftgurt schnallte. Sie schluckte.


Das Restaurant war klein und wunderbar leer. Heimelig. Ein Kamin prasselte. Die Sitzecken waren mit Kissen bestückt. Kerzenlicht. Es war ein wunderbar ausgesuchter Raum. Sara spürte noch immer nicht soviel Aufregung wie sie erwartet hatte. Die junge Reia fühlte sich sicher. Aryan Noja war nicht so, wie sie sich einen adligen Rang vorgestellt hatte. Er war zurückhaltender, sanfter und auf eine wohltuende Art undramatisch. Die beiden sprachen. Sara begann zu erzählen: Niemals zuvor hatte ihr jemand so zugehört. Sie erzählte lange, und Aryan unterbrach sie nicht. Das Sprechen tat gut. Es klärte, es beruhigte, es half abzugeben. Irgendwann legte Sara die Briefe auf den Tisch. Aryan Noja nahm sie und sah sie sich in Ruhe an. Es war nicht wie im Film. Er schaute nicht mit einem Blick drauf und sagte etwas Heldenhaftes: Er guckte lange. Dann gab er etwas in sein Handy ein und machte einige Fotos. Sah auf das Handy und nahm es dann, um zu telefonieren. Sara verstand von dem Gespräch nicht viel, weil er auch nicht viel sagte. Dann legte er auf und nahm wieder sein Glas. Er sah auf die Briefe und sagte: „Das ist ein sehr schlecht imitiertes Nika-Emblem, per Hand gemalt und an mehreren Stellen fehlerhaft. Es ist ein verbotenes Symbol, ja, aber nicht mal ausgedruckt. Die Texte sind sehr bedrängend. Aber sie haben in keinster Weise den Stil der nika. Ich habe jetzt ein paar Informationen über den jungen Mann. Er ist vorbestraft wegen Stalking. Sie sind nicht die einzige Betroffene. Verbindungen zur nika sind nicht bekannt. Ich denke, Sie sollten ihn anzeigen. Wenn Sie das nicht möchten, können wir das auch für Sie tun.“ „Sie.. können das auch?“ „Als adlige Ränge haben wir ein Patronatsrecht. Wir können einen Bürger, von dem wir vermuten oder wissen, dass er Hilfe braucht oder der eine Bitte um Hilfe vor uns trägt in ein Patronat nehmen. Das ist so etwas wie eine Patenschaft, meist über eine sehr kurze Zeit, zum Beispiel ein paar Tage. Und ich kann dann stellvertretend für Sie mit einer Behörde mich auseinandersetzen oder einen Antrag für Sie stellen oder auch vor Gericht treten. Das können adlige Ränge allerdings nur, wenn der Betroffene darum bittet oder zumindest zustimmt. Es gibt auch Ränge, die ein Patronat aus eigener Entscheidung an sich ziehen können. Abgesehen aber davon, dass es dafür ein bestimmtes Signum braucht und man es sich auch als Träger dieses Signums gut überlegen muss, ist ein sogenanntes entschiedenes Patronat nur möglich innerhalb der eigenen Provinz. Sie sind keine Bürgerin der Edera, aber wenn Sie ein solches Patronat zu Hilfe nehmen möchten, dann ist es möglich, und ich biete es an.“ Stille. Sara spürte ihre feuchten Hände. „Oh. Ich.. verstehe. Also er hat ja geschrieben..“ „Ja. Er weiß natürlich, dass er wenn er jetzt nochmal auffällig wird wohl in Haft muss. Die sogenannte Hilfedrohung der nika ist ein ernstes und von der nika sehr konsequent aufgebautes und tradiertes Instrument. Die Heze tritt dem mit tiefer Konsequenz entgegen und zieht jede Linie, in der eine Hilfedrohung ausgesprochen wird sofort an sich, meist wird die Hyza eingeschaltet, manchmal auch Abteilungen des Personenschutzes. Die nika weiß dies und versucht, ihre Hilfedrohung möglichst direkt und verdeckt auszusprechen und den Bedrohten dadurch von uns fernzuhalten. Bei großen und systemischen Linien, also dem Kerngeschäft der nika, kann die Heze dem von vornherein entgegentreten, es gibt entsprechende sogenannte trennende Strukturen, so dass der Kontakt zum Beispiel von Zeugen immer über die Heze läuft und nie direkt mit zum Beispiel gegnerischen Anwälten. In großen Verfahren, aber auch schon in Untersuchungslinien davor haben diese auch keine Akteneinsicht und dürfen die Zeugen auch nicht sehen. Manchmal kommt es aber auch zu einer sogenannten nicht-systemischen Linie, wenn die nika Personen in ihrem privaten Umfeld bedroht. Am häufigsten geschieht das bei Aussteigern, bei Familienangehörigen, bei Angestellten oder Hauspersonal, manchmal auch in zufälligen Konstellationen, wenn Unbeteiligte zu Zeugen oder Informationsträgern werden. In diesem Fällen versucht die nika sofort, eine Hilfedrohung auszusprechen, bevor die Heze Kontakt zu demjenigen hat. Die weit überwiegende Zahl der Hilfedrohungen, die auf diese Weise ausgesprochen wird, sind gefälscht, denn die nika ist eine hochorganisierte und intelligent gelenkte Struktur, die mit dem Machtinstrument diese Drohung nicht leichtfertig umgeht, um es nicht zu entwerten. Etwas salopp gesagt kann man wenn man von einem imponierenden Zwanzigjährigen vor einer Diskothek, der glaubt, man habe ihm den Parkplatz weggeschnappt eine nika-Hilfedrohung bekommt getrost davon ausgehen, dass derjenige von der nika genauso wenig weiß wie der Bedrohte. Dennoch gibt es einzelne private Konstellationen, in denen Menschen von der nika vor den Behörden gefunden werden und ihre Drohung aussprechen kann. Was dann geschieht, ist von großer Bedeutung. Die Heze arbeitet daran, Wege auf verschiedenen Ebenen anzubieten und offen zu halten, damit Bedrohte sich sofort melden können. Das ist weniger eine technische Frage, sondern mehr eine Frage des Kontaktes und des sich-Anvertrauens. Derjenige braucht das Vertrauen, dass die Heze ihn sicher schützen kann. Sie sind in diesem Fall auf Ande zugegangen, und auch wenn Sie ihn nicht direkt und sofort angetroffen haben, haben Sie damit einen solchen Weg gewählt. Mag dieser Weg auch etwas verwinkelt scheinen, eher indirekt und entfernt von öffentlichen Zugängen, das spielt überhaupt keine Rolle. Es war eine gute Idee von Ihnen, dies zu tun und dabei die Stellen zu umgehen, um die Sie sich sorgen und ihn ganz direkt aufzusuchen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Drohung nun Substanz hat oder nicht. In beiden Fällen ist Ande derjenige, an den Sie sich wenden dürfen und sollen. Sich für die nika auszugeben und eine solche Hilfedrohung trittbrettfahrend auszusprechen ist ein eigener Straftatbestand und wird ada kyai genannt. Unabhängig davon, wie das Urteil in dem Fall ausfällt, ob zum Beispiel jemand in Haft muss, hat die Hyza das Recht, denjenigen auch ohne Haftstrafe oder nach der Entlassung aus der Haft regelmäßig zu kontrollieren und vorzuladen. Auch lebenslang, wenn dies so entschieden wird. Wir möchten uns als helfende Behörden Hilfesuchenden nicht aufdrängen. Aber sie mit tief beängstigenden Drohungen von uns fernzuhalten, das ist etwas, worauf wir sehr intensiv reagieren.“ Sara saß reglos. Dann sagte sie leise: „Ja, es ist... es ist schwer. Deshalb wollte ich Ihren Bruder ja.. direkt treffen. Ich habe ja jetzt.. tatsächlich Angst, dass wenn Sie.. mir dort helfen, dann.. was ist, wenn er dann.. Ihnen auflauert. Auf dem Parkplatz der Schule oder so. Ich möchte nicht, dass Sie.. gefährdet werden wegen mir. Oder die Schule..“ Aryan Noja nickte ruhig: „Sie brauchen einen Kontakt. Und den haben Sie jetzt. Eine Hilfedrohung zielt auf den Raum ab, in dem Sie leben. Alles, was dort drin ist, die Menschen, die Sie lieben, Ihre Lebensräume, Ihre Verbindungen. Wenn Sie aber die Tür öffnen für jemanden wie Ande, dann kommt er in diesen Raum. Er sichert den ganzen Raum, das ist seine Aufgabe und auch seine Fähigkeit. Wichtiger aber bei einer Hilfedrohung ist die Kommunikation. Ande muss dem Drohenden - ob nika oder nicht - klarmachen, dass er nun da ist. Vielleicht geht es hier um einen noch unreifen Jungen auf Abwegen. Dieser Junge wird es nun plötzlich, was er sicher nicht erwartet hat, mit der Heze zu tun bekommen. Das kann eine große Chance für ihn sein, weil er möglicherweise ein sehr deutliches Zeichen braucht – ein Zeichen, das ihn nicht überfällt und verängstigt, aber das doch seine Wirkung entfaltet. Und vielleicht – obgleich ich hier bislang dafür keine Anzeichen sehe – gibt es wirklich Verbindungen zur nika. Die nika weiß sehr genau, wer Ande ist, und was es bedeutet, wenn er auftaucht. Denn dies ist nicht nur das Ende der Raumgefahr, sondern die nika muss sich dann sofort zurückziehen, sonst wird sie selbst gefunden. Die Hyza versucht nicht, die nika auszurotten, das wäre so nicht möglich, ohne etwas Größeres und Dunkleres daraus entstehen zu lassen. Aber natürlich wird sie begrenzt, und es werden auch immer wieder Zellen aufgedeckt und inhaftiert. Wenn Sie Ande Ihren Raum anvertrauen möchten, wird er für Ihre Sicherheit sorgen, für die Sicherheit der Schule und auch für meine Sicherheit.“ Stille. Sara atmete aus. „Das klingt.. gut. Sehr gut. Ich.. ich danke Ihnen. Und ich danke Ihnen für das Angebot, dass Sie.. oder jemand die Anzeige stellt. Ich glaube, das wäre viel leichter für mich.“ Aryan nickte. „Ich kann das gerne tun, da ich ja die Verfolgung mit dem Wagen bezeugen kann. Die Anzeige kann ich dann gleich bei Ande stellen, und so haben wir eine sichere und schonende Linie für Sie.“ „Man kann.. auch bei ihm eine Anzeige stellen?“ Dieser Ausblick schien sie zu entlasten. Aryan antwortet: „Aber natürlich. Er ist ein Führrang der Akai, selbstverständlich kann er eine Anzeige entgegennehmen und die Linie dazu auch aufstellen und entscheiden, ob und an wen er sie weitergibt. Da ich aber weiß, wie gerne er für die Schüler der Zaye da ist und dass er für den Weg Ihrer Berufung als der Lehrer, der er ist, ein sehr besonderes Gespür und ein tiefes Wissen hat, aber auch eine besondere Verantwortung spürt, wage ich sicher vorauszusagen, dass er das in Ihrem Fall selbst machen und auch nicht aus der Hand geben wird.“ Sara schluckte. Dann sagte sie: „Ich.. danke Ihnen sehr.“ Sara guckte auf ihren Tee. Dann fragte sie: „Und.. was mache ich jetzt heute weiter. Zurück zur Schule fahren?“ „Ich bringe Sie jetzt zu Ande, er weiß schon Bescheid, zumindest hat er die Linie schon gesehen, er weiß, dass es um eine ada kyai-Abklärung geht und er weiß auch, dass ich bei Ihnen bin.“ „Ist er in Aiza?“ „Im Moment ist er in der Todai.“ Sara hielt den Atem an. „Sie.. wollen, dass ich in die Todai gehe?“ „Ich werde ihn fragen, aber ich vermute, dass er dort mit Ihnen sprechen möchte, da er noch die ganze Nacht dort Dienst hat.“ „Und er kann.. einfach das erlauben, dass ich da.. hinkann?“ „Ja.“ „Oh. Ich..“, sie räusperte sich, „aber.. Tarigo ist nicht dort, oder?“ „Normalerweise werden Gespräche mit Zeugen und auch mit Verdächtigten oder Verhafteten der Hyza nicht in der Todai geführt, sondern im Präsidium an der Gada. Das ist das Hauptpräsidium von Aiza-Stadt und liegt kurz vor der Brücke zur Edoa, es beherbergt mehrere direkte Abteilungen der Hyza, auch die yihe hat ihre Haupträume dort. Vereinzelt kann es aber doch vorkommen, dass jemand auch in das Abteilungsgebäude der Hyza gebracht wird, also auf Todaigelände. Ich würde es hier nicht erwarten, aber selbst wenn Ande dies so anweist, dann seien Sie versichert, dass der junge Mann dann dort sorgfältig gesichert würde und Ihnen nichts tun kann.“ „Ich.. verstehe. Muss ich.. irgendwelche Papiere vorbereiten oder.. sowas. Wenn ich in die Todai gehe.“ „Nein. Sie haben Ihren Ausweis, das reicht.“ „Bestimmt aber.. kann man da nicht so rein.“ „Wenn Ande Sie einlädt, dann bereitet er das auch vor, und Sie werden vom äußeren Tor ab begleitet. Ich werde aber ja mit Ihnen gehen, da ich für Sie spreche, und Sie brauchen sich nicht zu sorgen.“ „Ach so, weil.. Sie ja da auch arbeiten.“ „Genau.“ „Wahrscheinlich.. kennen Sie sozusagen.. einen Eingang mit einer netten Wache.“ Aryan Noja lächelte. „Die sind alle nett.“ Sara atmete aus. „Das.. ist gut. Ich... dachte nicht, dass ich jemals... zur Todai komme.“ Aryan nickte. „Ich würde Sie für heute abend auch gerne erstmal etwas abseits hin mitnehmen. Nicht in das Gebäude der Todai selbst, sondern ein Stück entfernt davon. Dort, wo ich als Arzt arbeite, haben wir ein kleines, sehr ruhiges Gebäude, dort habe ich ein Zimmer, es gibt auch einige Ruheräume. Der Tag war schon anstrengend für Sie, auch gerade hatten Sie eine Aufregung, dann kommt gleich nochmal ein Gespräch, vorher möchte ich Sie einladen, ein bißchen was zu essen und sich vielleicht etwas auszuruhen. Das Gespräch wird nicht lange dauern, denn wir beide haben es im Kern schon geführt, ich fasse es für Ande in eine Linie zusammen, und wenn er zu Ihnen kommt, wird er diese schon aufgestellt haben und wahrscheinlich Ihnen einfach das weitere Vorgehen erklären und Sie verstehen lassen, dass er für Sie da ist. Ich bleibe bei Ihnen, aber die Todai werden Sie in dem Sinne heute nicht sehen. Es sei denn, Ande möchte Sie dorthin haben, ich will ihm da nicht vorgreifen, aber eigentlich bin ich sicher, dass er das genauso sieht, dass er gerne dort zu uns kommt und je nachdem wie erschöpft Sie sind auch erst morgen mit Ihnen spricht. Es besteht ja keine Eile.“ Sara saß still und berührt. Leise sagte sie: „Aber.. wenn ich ausruhe, dann.. wird es zu spät, ich muss ja noch zurück.“ „Sie müssen nicht zurück, der Tag war lang genug für Sie.“ „Aber wo soll ich dann schlafen, ein Hotel auf der Edoa kann ich mir leider.. nicht leisten.“ Aryan nickte. „Wir sorgen für Sie. Sie brauchen nirgendwo hin.“ Tiefe Wärme. Sara saß mit einen leichten Tränenschleier.


Irgendwann sah sie Aryan an und sagte: „Sie.. sind auch ein Zaye-Rang.“ Aryan meinte: „Ich bin ein Gast.“ Die junge Reia guckte mit klugem Blick und sagte: „Gäste tanzen keine sekara.“ Aryan lächelte: „Ich war schon oft zu Gast.“ „Eine Sekara wird in der Gelbprüfung verlangt.“ „Ich trage kein Gelb.“ „Wirklich?“ „Wirklich. Ich habe allerdings sehr gute Lehrer und ein Schwarztrikot als Bruder.“ Sara lächelte. „Ich bin so froh, dass Sie ein Gast sind. Es ist schon das zweite Mal, dass Sie mir helfen.“ Aryan Noja erklärte: „Ich bin gerne alleine unterwegs.“ Stille. Sara saß aufrecht. Das war die sanfteste und indirekteste Ermahnung, die sie je bekommen hatte. Dann sagte sie leise: „Was hätte ich machen sollen.“ „Ist das eine Frage?“ „Ja.“ „Sich an Ihren Lehrer wenden. Oder an Richard.“ „Aber.. wenn es doch die nika ist.. was hätten die dann gemacht.“ „Sie hätten Ande angerufen.“ Wieder Stille. Sara verstand langsam, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie sah zu Boden. Dann sagte sie: „Es war falsch von mir. Jetzt... ist.. Tarigo Nage... weg. Wer weiß wo.. er hingefahren ist, ich weiß nicht mal, wo er heute wohnt.“ Aryan Noja nickte. Dann sagte er nur: „Wir wissen, wo er ist. Die yihe hat bereits einen Untersuchungs-Haftbefehl erlassen.“ Sara saß reglos. Zum ersten Mal begriff sie, dass die Bescheidenheit, die Sanftheit und Zurückhaltung der beiden adligen Noja, die er kennengelernt hatte – so tief echt sie ihr schienen – nicht bedeuteten, dass sie keine Macht besaßen.


Sara saß lange still. Dann nahm sie ihre Haare zurück und sagte: „Ich danke Ihnen. Sind Sie.. auch bei der yihe?“ „Nein.“ Sara sah ihn an. Dann sagte sie leise: „Sie schützen auch Frauen. Ich spüre es.“ Aryan legte seine Hand auf den Tisch und meinte: „Das sollte der Wunsch jedes Mannes sein.“ Sara sah ihn noch immer an. „Bestimmt sind Sie ein viel höherer Rang als Sie zeigen. Es tut mir leid wenn ich dies.. nicht angemessen verstehe.“ Aryan gab zu bedenken: „Für mein Blautrikot habe ich sechs Jahre gebraucht.“ Sara meinte klug: „Möglicherweise, weil Sie in der Zeit noch etwas Anderes zu tun hatten.“ Die beiden lächelten. Sara entschied: „Das nächste Mal bring ich ein Keigo-Wörterbuch mit. Gibt es sowas?“ Aryan meinte: „Sie können meins haben.“ Die beiden lächelten wieder. Aryan erklärte: „Sie brauchen kein Keigo zu sprechen, das ist ein verbreiteter Irrtum, dem wir oft begegnen. Keigo gibt es in verschiedenen Differenzierungstufen, verschiedene Höhe von Ausdruck und auch Kunst. Das reicht von einem kurzen Gruß bis hin zu der Gestaltung eines intensiven Gesprächs, zum Vortragen eines Anliegens oder zur Fürsprache für jemanden oder auch zur Auseinandersetzung oder Klärung zwischen Institutionen, Abteilungen, auch adligen Familien. Keigo kann außerdem in tiefer Weise Nähe versichern, kann Verantwortung deutlich machen, Wertschätzung ausdrücken oder das Einstehen für eine und Entlassung aus einer Schuld, direkt oder stellvertretend. Es ist ein Instrument der Todai und der umliegenden Strukturen, und in seinem Reichtum und seinen feineren Nuancen bildet es diese Strukturen und Herangehensweisen, die Haltungen innerhalb der Todai genauer ab, viel besser als das Amai. Es enthält also viel mehr Informationen. Dazu muss man aber diese Haltungen auch kennen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wenn ich sage „afe akae dameno biressa“, dann wäre das die einfachste Stufe innerhalb des Keigo; der entsprechend nahestehende Ausdruck im Amai wäre etwa „Könntest du danach schauen und dich darum kümmern“. Sage ich aber „afekare akae dameno biressa“, dann liegt in dem Satz die Nuance, dass derjenige, den ich bitte, nach etwas zu schauen, dazu in meinen Augen auch eine Kompetenz hat und eine Verantwortung. Zum Beispiel weil er eine Fachkunde trägt, die ich damit wertschätze, die ich hier aber auch für notwendig halte. Das wäre etwa eine typische Wendung, die ich an einen befreundeten Rang innerhalb einer anderen Abteilung richte. Das „kare“ ist dabei wie ein leichter Schritt, den ich nach hinten setze. Ich gebe dem Anderen also Raum, und zwar in der Weise, dass es in der innersten Gestalt eine „are“ ist, also es - zumindest ganz leicht und dezent - etwas mit Verneigen zu tun hat. Eine andere Nuance wäre „afekaraisse azae - statt akae - dameno biressa.“ Diese Wendung hat etwas von einer deutlich tieferen Verbeugung, und zwar von einer warmherzigen. azae dameno. Diese tiefe Kraft. Mit dieser Wendung knüpfe ich zum Beispiel an etwas an, was schon geschehen ist. Es ist eine Bitte, aber gleichzeitig ein Dank. Eine Verwebung innerhalb eines Geschehens. Wenn ich nun Ande Ihre Erlebnisse vortrage, was ich ja hier in der Linie digital schon begonnen habe und ihn bitte, sich um Sie zu kümmern, dann könnte ich zum Beispiel aus solchen Nuancen wählen, von denen es noch viele andere gibt. Da er im Zusammenhang dieses Sachverhaltes ein hoher Führrang einer Abteilung ist, der ich nicht selbst angehöre, wäre eine respektvolle Formulierung selbstverständlich, etadaisse wäre der Minimalstandard. Stattdessen habe ich hier geschrieben afa akena vera. Das ist tatsächlich auch Keigo, obwohl man dies kaum merkt vielleicht, da nur ein Buchstabe vom informellen Amai abweicht. Afa akena vera heißt dann soviel wie „in deine Hand“. Keigo steht niemals isoliert, sondern im Kontext einer Beziehung und verschiedener Bindungen und Verwebungen. Meine Formulierung deutet auf eine sehr intime Verbindung hin. Ich spreche ihn also als Bruder an und als Rang der Zaye, unsere Gemeinsamkeit in der Heze steht durch das Keigo im Hintergrund, ist aber völlig zurückgestellt, so sehr, wie ich überhaupt in einer digitalen Dokumentation der Heze es nur zurückstellen kann, denn darum handelt es sich hier. Ich spreche ihn in dieser Linie an auf dem Kanal als Führrang der yihe. Ich repräsentiere also nicht meine Abteilung, nicht meine Kollegen, keine sonstige Verantwortung, sondern ich finde hier etwas vor, von dem ich glaube, dass er es wissen und übernehmen möchte und was auch zu ihm gehört, und auf eine ganz einfache und vertraute Art sage ich: Schau. Und als seine Antwort kam „arena amaie gabae“. Also dieselbe Ebene, ganz einfach, ganz vertraut: „Aus deiner Hand“. Damit bedankt er sich, er nimmt die Sorge für Sie an und drückt gleichzeitig aus, dass er verstanden hat, dass ich solange für Ihre Sicherheit hier verantwortlich bin und dass er sozusagen im Moment keine eilige Notwendigkeit sieht, Sie aus meiner Hand zu lösen, etwa indem er ein Team seiner Abteilung sofort hierhin sendet, weil er mir darin vertraut, solange für Sie zu sorgen. Wir arbeiten und leben auf diese Weise zusammen, wir halten unsere Hände gemeinsam, und darauf nimmt diese Wendung Bezug. Außerdem ist, und das ist eben das Schöne am Keigo, hier eine kleine Färbung eingewebt, also das Bild mit der Hand, vom Tanzen her, so dass ich den Aspekt der Zaye hier noch einmal betone und damit auch seine Rolle dort berühre und seine Sorge um Sie in dieser Position. Keigo vereint auf diese Weise oft Worte und Bilder.“ Sara saß reglos: „Das... ist wirklich schön.“ „Bürgerliche Verbindungsränge, die in solche protokollarischen oder hochprotkollarischen Situationen kommen, sind dafür ausgebildet, darin geübt und bewegen sich zumeist auf den einfacheren Keigo-Ebenen oder bekommen jemanden an die Seite, der ihnen dabei hilft oder auch ganz für sie spricht. Das sind alles behördliche Zusammenhänge oder repräsentative und diplomatische Termine. Jemand, der in Not ist oder für sich oder jemanden vorsprechen möchte zum Beispiel bei der Familie seiner Provinz oder bei der Heze braucht selbstverständlich kein Keigo. Sie können ganz normal sprechen, und wir werden Sie gut verstehen. In der Zaye hat Keigo sowieso nicht seinen Ort. Das gleiche gilt für die medizinische Station der Todai, in der ich diene, denn auf allen medizinischen Geländen der Edoa ist das Protokoll grundsätzlich ausgesetzt, es gibt dort gar kein Keigo, da es sich dort um einen persönlichen Schutzraum handelt und nicht um einen öffentlichen Auftritt.“ „Ich... verstehe. Das ist... beruhigend.“ Sara legte ihre Hände um die Teetasse. Saß reglos. In ihr rang es. Dann sagte sie leise: „Ich kann das nicht erklären, ich bin dann.. wenn ich das nicht weiß. Ich verstehe.. es selbst nicht. Ich habe dann immer so Angst, Fehler zu machen. Oder ich weiß auch nicht. Ich spüre, dass Sie... das anders machen, Sie können.. andere Dinge. Sie sehen, dass ich müde bin. Normalerweise sieht das niemand. Ich...“ Tränen in den Augen. Die Reia litt: Sie verstand sich selbst noch nicht. Aryan sah sie an und nickte. „Sie möchten meinen Rang wissen.“ „Dazu... habe ich keinerlei Recht.“ Aryan sagte ruhig: „Ränge gibt es innerhalb der eigenen Familie, also in der yare, sowie in der Heze. Wie Sie schon wissen, bin ich ein Denei. in unserer Provinz bin ich ein autorisierter Familienrang, das heißt, ich arbeite mit an der Führung der Edera. Mein höchster Rang In dieser Position ist ade arete, der Älteste Sohn. Gemeint ist damit der älteste Sohn des Familienführers. Fachlich bedeutet das erstmal nichts, es gibt aus dieser Stellung keinerlei automatische Signenfolge, keine automatische Übergabe von Verantwortung, keine dienstlichen Privilegien und auch keinen erleichterten Zugang zu Ausbildungshürden oder Prüfungen. Es ist eine protokollarische und in bestimmten Momenten auch eine politische Kategorie, eine traditionelle und vielleicht auch spirituelle Zuordnung innerhalb eines Familiengefüges, aber es ist die korrekte Antwort auf Ihre Frage. In der Heze ist mein höchster Rang der eines Keto. Ich leite also in oberster Position eine Heze-Abteilung, nämlich die der Keayake, der Leibwache der Todai.“ Lange Stille. Sara saß und sagte nichts. Dann atmete sie aus und nickte. Sehr leise sagte sie: „Ich.. danke Ihnen. Jetzt.. verstehe ich es... besser. Ich danke Ihnen, dass Sie... bei mir waren.“




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